Podcast KN:IX talks
Folge #29 | Zwischen Identität und Religion: Der Phänomenbereich türkischer Ultranationalismus als Herausforderung für die Präventionsarbeit
In dieser Folge sprechen wir mit Derya Buğur über die Entstehung und spezifischen Merkmale des Phänomenbereichs türkischer Ultranationalismus, in Abgrenzung zu anderen extremistischen Phänomenbereichen.
Im Podcast zu Gast
Derya Buğur ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei modus | zad im Projekt Transnationale, rechtsextreme und ultranationalistische Bewegungen in postmigrantischen Gesellschaften (TREX) sowie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Bereich Islamisch-Religiöser Studien.
Transkript zur Folge
Derya Buğur: Man sollte erst verstehen, warum sympathisieren Jugendliche mit einer extremen Bewegung? Welche Motive stecken dahinter? Aus diesem Grund kann man den türkischen Ultranationalismus nicht nur als Auslandsextremismus bezeichnen, da die Hintergründe, sich dieser Bewegung anzuschließen, nicht homogen sind. Anhänger*innen in der Türkei haben andere Beweggründe als postmigrantische Menschen in Deutschland.
(Musik)
Charlotte Leikert (KN:IX Intro): Herzlich willkommen zu KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. Bei KN:IX talks sprechen wir über das, was die Präventions- und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international beschäftigt. Für alle, die in dem Feld arbeiten oder immer schon mehr dazu erfahren wollten. Islamismusprävention, Demokratieförderung und politische Bildung. Klingt interessant? Dann bleiben Sie jetzt dran und abonnieren Sie unseren Kanal. KN:IX talks, überall da, wo es Podcasts gibt.
Alexandra Korn: Hallo und willkommen zur vorletzten Folge von KN:IX talks. Wir sprechen heute mit Derya Buğur über das Thema türkischer Ultranationalismus. Derya ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei modus | zad im Projekt Transnationale, rechtsextreme und ultranationalistische Bewegungen in postmigrantischen Gesellschaften (TREX) sowie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Bereich Islamisch-Religiöse Studien.
(Musik)
Die KN:IX Bedarfsabfragen zeigen, dass türkischer Ultranationalismus seit einigen Jahren auch für die Präventionsakteure im Bereich islamistischer Extremismus eine wichtige Rolle spielt. Knapp ein Drittel der Befragten nennen türkischen Ultranationalismus als eine Ausprägung des religiös begründeten Extremismus, mit der sie am häufigsten in ihrer Arbeit konfrontiert sind. Die befragten Praktiker*innen wünschen sich mehr Informationen zu türkischem Ultranationalismus, und diesem Wunsch möchten wir mit dieser Folge nachkommen. Im medialen Diskurs werden religiös begründeter Extremismus islamistischer Ausprägung und türkischer Ultranationalismus gerne mal vermischt. Und wie eingangs erwähnt, landen Lehrkräfte oder Eltern auf der Suche nach Informationen und Unterstützung am ehesten bei Beratungsstellen für islamistischen Extremismus. Distanzierungsarbeit wird im Phänomenbereich noch so gut wie gar nicht angeboten. Derya, wodurch zeichnet sich denn türkischer Ultranationalismus aus? Vielleicht auch in Abgrenzung zu Islamismus?
Derya Buğur: Ultranationalismus ist sozusagen der Kern des türkischen Rechtsextremismus, in dem eine homogene Vorstellung von der Vollkommenheit und besonderen Existenzberechtigung des eigenen Volkes besteht und alle anderen Nationen werden abgewertet und als nicht vollwertig angesehen. Im Islamismus steht die Religion ganz klar im Vordergrund. Da werden alle Menschen unabhängig ihrer ethnischen Zugehörigkeit willkommen geheißen. Und im Islamismus ist es auch so, dass sie säkulare und auch demokratische Systeme ablehnen. Sie verfolgen viel mehr eine fundamentale Linie und bevorzugen einen totalitären Gottesstaat, wo sie ihre Gesetze durch ihre eigenen Interpretationen des Koran entwickeln. Im türkischen Ultranationalismus existiert vielmehr die Vision eines geeinten und mächtigen Großtürkenreiches, in dem alle Turkvölker vereint sind und diese Vereinigung Macht und Stärke ausstrahlt. Man kann das vielleicht mit dem Osmanischen Reich in Verbindung bringen, als Herrschaftsreich sozusagen. Es gibt auch ein geläufiges Sprichwort, das besagt: „Türk’ün Türk’ten başka dostu yoktur“, das heißt: „Türken haben keine Freunde außer den Türken“. Das heißt der Fokus bei diesem Phänomen liegt also primär auf der türkischen Ethnie. Und auch wie in allen anderen Phänomenbereichen gibt es auch bei den türkischen Ultranationalisten Abspaltungen und unterschiedliche Strömungen. Die bekannteste Bewegung sind bei diesen die Grauen Wölfe. Auf Türkisch heißen sie Ülkücüler, was übersetzt die Idealisten bedeutet, die sich sozusagen an der türkisch-islamischen Synthese orientieren. Daneben neben dieser Strömung gibt es eine Strömung, die sich mehr der Scheinideologie des Panturkismus annähert. Warum Scheinideologie? Es gibt die These, dass alle Türken aus einem Ursprung stammen. Und wie die Ülkücüs sind sie ebenfalls nationalistisch, alle anderen Völker und Nationen abwertet. Sie unterscheiden sich aber in ihren religiösen Überzeugungen voneinander. Denn sie lehnen den Islam als ‚Religion der Araber‘ ab und orientieren sich eher an älteren Religionen der Turkvölker wie dem Tengrismus oder dem Schamanismus. So steht auch bei dieser Strömung wieder die türkische Ethnie im Vordergrund und beide Abspaltungen sind sich auch einig, dass die türkischen Figuren in den historischen Kultlandschaften Macht, Stärke und Mut verkörpern und in jedem Fall türkischen Ursprungs seien, wie z.B. Dschingis Khan, der könnte gar keine andere Herkunft haben.
Alexandra Korn: Was ist damit gemeint, wenn von einer türkisch-islamischen Synthese gesprochen wird?
Derya Buğur: Letztlich handelt es sich um eine politische Ideologie, die den türkischen Nationalismus mit dem Islam verbindet. Dabei wird eine neue türkischen Identität konstruiert, die neben dem Nationalismus auch Kernelemente wie Rechtspopulismus und Islamismus beinhaltet. Diese Ideologie entstand in dieser Form Ende der 1960er Jahre und wurde dann von der MHP, also der Partei der Nationalistischen Bewegung, die als politischer Vertreter der Grauen Wölfe gilt, als Mobilisierungsstrategie auf politischer Ebene eingesetzt. Nach dem Konzept der türkisch-islamischen Synthese besteht die Überzeugung, dass der Islam erst durch das Türkentum seine beabsichtigte Form erhalten habe, so dass der Islam nur durch die Führung von Türken sozusagen erfolgreich sein könne. So, und hier zeigt sich eine indirekte Abwertung anderer Nationen und Völker, denen keine den Türken ebenbürtige Führungsrolle zugeschrieben wird. Der Islam hat allerdings schon in der Gründungsgeschichte der Türkei eine wichtige Rolle gespielt. Er hat beispielsweise als Bindemittel innerhalb der muslimischen Gesellschaft des zerfallenen Osmanischen Reiches gewirkt und war der gemeinsame Nenner zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen. Das hat dann schließlich im Befreiungskrieg zwischen 1919 und 1923 zu einer Mobilisierung innerhalb der muslimischen Völker geführt, um sich gegen die Entente-Mächte zu erheben und mit dem Sieg dann anschließend die Türkische Republik zu gründen. Auch nach der Republikgründung hat der Islam zum Säkularisierungsprozess beigetragen und ein türkisches Nationalbewusstsein innerhalb der aus verschiedenen Völkern zusammengesetzten Gesellschaft geschaffen. Der gemeinsame Nenner der Türkei und dieser Gesellschaft, der Türkei als Vielvölkerstaat, war demnach der sunnitische Islam, der als Bindemittel diente und in der Verfassung von 1924 auch als Staatsreligion anerkannt wurde. Von daher hat der Islam sowohl im türkischen Nationalismus als auch im türkischen Ultranationalismus eine große Bedeutung. Der Ultranationalismus ist aber natürlich eine extreme Form, wo Menschen auch abgewertet werden. Im Nationalismus ist das nicht unbedingt der Fall. Man kann patriotisch sein und sich zu einer Nation bekennen, aber man muss nicht direkt als rechtsextrem gelten, wenn man Nationalist ist, beispielsweise. An dieser Stelle ist mir auch wichtig klarzustellen, dass etwas nicht automatisch extrem wird, nur weil der Islam darin vorkommt. Und das ist auch der Grund, warum ich zunächst einmal diesen Unterschied zwischen dem türkischen Nationalismus und dem Ultranationalismus aufgezeigt habe, welche Bedeutung der Islam im Allgemeinen für die türkische Nation hat. Es geht nicht darum, dass eine Ideologie durch den Islam extrem wird oder geworden ist, sondern es geht darum, dass der Islam in diesem Sinne als ein politisches Mittel verwendet wurde, mit dem man z.B. die ländliche Bevölkerung mobilisieren kann, die eher traditionell ist, die konservativ ist, die auch eher religiös ist und stärkere Gemeinsamkeiten mit der Partei der Nationalistischen Bewegung hat als mit anderen Parteien, die z.B. ein ‚westlicheres‘ Profil vertreten.
Alexandra Korn: Und vielleicht in Abgrenzung dann dazu – inwiefern trägt der Begriff türkischer Rechtsextremismus, der ja auch immer wieder in Diskursen verwendet wird, zum Verständnis der Bewegung bei? Also könnte man sagen, dass vielleicht Beratungsstellen zum Thema Rechtsextremismus eigentlich die besseren Ansprechpartnerinnen wären bei dem Phänomen?
Derya Buğur: Also unter Rechtsextremismus versteht man verschiedene Strömungen rechter Ideologie, unter anderem auch den türkischen Ultranationalismus, in dem homogene Völker verherrlicht werden, oder der Gleichheitsgrundsatz abgelehnt wird, oder auch Multikulturalismus abgelehnt wird. An sich könnte der türkische Ultranationalismus nur bedingt von Beratungsstellen bearbeitet werden, die sich mit Rechtsextremismus beschäftigen, da diese sich höchstwahrscheinlich eher im Bereich des deutschen Rechtsextremismus auskennen und somit der islamistische Teil des türkischen Ultranationalismus gar nicht bearbeitet werden könnte. Auch wenn es Parallelen zwischen dem deutschen und türkischen Rechtsextremismus gibt, wie z.B. Antisemitismus, ist es dringend notwendig, die Ideologie des türkischen Rechtsextremismus und auch seine Feindbilder, die Abspaltungen und andere Kernelemente zu kennen. Von daher ist es tatsächlich sehr schwierig, bei Beratungsstellen mit diesem Phänomenbereich zu arbeiten, wenn man in diesem Bereich fremd ist.
Alexandra Korn: Dann bringen wir jetzt noch eine dritte Rahmung des Phänomens mit rein. Und zwar, dass türkischer Ultranationalismus ja, wie bereits erwähnt, bisweilen mit Islamismus gleichgesetzt wird, dann aber auch eher im Bereich des Rechtsextremismus verortet wird, zeichnet sich der deutsche Diskurs dazu ja auch noch auf eine andere Art und Weise aus. Und zwar, dass türkischer Ultranationalismus von den Sicherheitsbehörden als auslandsbezogener Extremismus geführt wird. Was bedeutet diese Kategorisierung für die Wahrnehmung des Phänomenbereichs und darüber hinaus auch für die Wahrnehmung von Menschen mit biografischem Türkeibezug in Deutschland?
Derya Buğur: Ja, also den Begriff finde ich schwierig anzuwenden. In erster Linie ist es natürlich so, dass dieser Phänomenbereich seinen Ursprung in der Türkei hat. Die Schwierigkeit liegt für mich darin, so ein Phänomen als Auslandsextremismus zu bezeichnen, obwohl es nun mal in Deutschland verankert ist. Das heißt, dieser sogenannte Auslandsextremismus wird in Deutschland auch ausgeführt, der in Deutschland existiert, der in Deutschland mit seinen legalen Vereinen vertreten ist, der seine Aktivitäten auch durchführt und dessen Anhänger derzeit auch wirklich aus Deutschland kommen. Das sind sicherlich türkischstämmige Menschen, also ursprünglich aus einer türkischen Ethnie, über die Eltern sozusagen. Aber ein Teil der Anhänger*innen sind höchstwahrscheinlich in Deutschland geboren und sozialisiert. Das heißt, der Bezug zur Türkei ist möglicherweise nur durch kurze Aufenthalte gegeben, wie z.B. im Rahmen von Urlaubsreisen. Und die Ideologie dieses türkischen Ultranationalismus, wie der in der Türkei verankert ist und auch mitgeteilt wurde, diese Informationen oder diese Möglichkeit, dies auch in Deutschland in der Diaspora aufzunehmen, ist natürlich sehr gering. Man hat in Deutschland eine andere Bildung, ein anderes Schulsystem. In der Türkei werden auch diese Themen natürlich in der Schule besprochen. Das gibt es in Deutschland nicht. Da redet man beispielsweise nicht über solche Themen. Die Partei der Ultranationalisten, die MHP, ist beispielsweise in der Türkei legal. Es ist eine legale Partei, die seit über Jahre besteht. Von daher ist auch diese Partei was ganz Normales dort. In Deutschland natürlich nicht. Von daher, Auslandsextremismus, da würde ich nur bedingt zustimmen, weil das sagt ja auch, wir wollen uns mit diesem Problem nicht wirklich beschäftigen in Deutschland. Die Menschen, die Anhänger dieser Ideologie sind, gehören nicht zu uns. Das ist dann auch wieder dieses Diskriminierende, wo sich auch Menschen alleingelassen fühlen. Die Sympathisanten sind türkischstämmige Menschen, die bestimmt in Deutschland Rassismuserfahrungen gemacht haben, deren Eltern und Großeltern Rassismuserfahrungen gemacht haben, die bereits schon diese Wunde mit sich tragen. Die andere Gesellschaft zu sein, der Andere zu sein, der Ausgestoßene, die Komische zu sein, sei es aufgrund der Religion, aufgrund der Kultur, der Sprache. Und in diesem Zusammenhang ist es natürlich nicht vorteilhaft zu diskriminieren und sagen ‘Die gehören nicht zu uns, das gehört zum Ausland. Es ist ein Auslandsextremismus. Wir in Deutschland, okay, wir müssen jetzt damit umgehen, aber eigentlich gehören die ja nicht zu Deutschland.‘ Und es hat natürlich auch Gründe, weshalb sich Menschen dazu entscheiden, in solche Gruppierungen beizutreten. Nicht alle, aber auch viele haben natürlich was mit Rassismus zu tun, wenn sie sich in Deutschland, wenn sie rassistisch angegangen werden aufgrund von Ethnie, Glaube, Kultur, was auch immer und dann aber so eine Gruppierung danebensteht und sagt ‘so wie du bist es richtig, wir denken genauso und begründen jetzt unsere Einheit‘, dann ist es sehr, sehr einfach, Zugang zu finden. Vor allem für Jugendliche, vor allem für Kinder. Und da müsste der deutsche Staat eigentlich ein Auge auf sie haben. Er muss auch diese Menschen schützen und er muss sie auch als ein Teil von Deutschland anerkennen. Und von daher, dieser Auslandsextremismus, ja, bedingt zum Teil, der Ursprung, ja, aber alles weitere ist Deutschlands Verpflichtung und alles weitere ist auch die Verantwortung von Deutschland. Denn diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind in Deutschland sozialisiert, sie gehören zu Deutschland.
Alexandra Korn: Ja, das ist eine super Überleitung dann auch zum Präventionsbereich. Was braucht es denn deiner Meinung nach für eine gelungene Präventionsarbeit in diesem Phänomenbereich?
Derya Buğur: Also eigentlich ganz einfach. Wenn man schon anerkannt hat, dass es so einen Phänomenbereich gibt, dass es ein Bereich im Extremismus ist und dass es ein Problem ist für Deutschland, da muss man Leute in diesem Bereich auch ausbilden. Es reicht nicht, nur in Rechtsextremismus oder in Salafismus und Islamismus die Leute zu bilden. Genau dieser Bereich türkischer Ultranationalismus, das muss mehr verankert werden. Die Möglichkeiten müssen offen sein für qualifizierte Praktiker*innen, damit solche Phänomenbereiche unterbunden werden und dass es einen Rückgang gibt. Von daher, es ist kein Ausweg, nur Leute im Bereich Islamismus auszubilden oder zu sagen ‘wir haben Erfahrungen mit Rechtsextremismus aufgrund der deutschen Geschichte‘. Auch das würde nicht funktionieren, weil auch deutscher Rechtsextremismus und türkischer Rechtsextremismus ganz andere Wurzeln mit sich tragen. Ganz andere Ideologie. Auch wenn da einiges miteinander passt, sind es trotzdem unterschiedliche Bereiche. Von daher gibt es auch keine Alternative. Da muss man wirklich Leute ausbilden, die im Bereich türkischer Ultranationalismus arbeiten. Und dann muss wirklich nur auf diesen Bereich eingegangen werden, sei es historisch, sprachlich, kulturell, religiös. Das ist ein ganz großer Bereich. Und um dort wirklich etwas zu bewirken, muss man sich nur auf diesen Bereich fokussieren.
Alexandra Korn: Forderungen nach spezialisierten Angeboten und Beratungsstellen gibt es ja auch von anderen Stellen. Vor allem gab es im Präventionsbereich aber kürzlich Budgetkürzungen statt Demokratiegesetz. Das heißt, dass pädagogische Unterstützungsanfragen sich voraussichtlich auch weiterhin an Praktiker*innen richten werden, die eventuell keine spezifische Ausbildung in diesem Phänomenbereich haben. Wie kann Präventionsarbeit mit Jugendlichen in diesen Phänomenbereich trotzdem gelingen?
Derya Buğur: In diesem Bereich ist es besonders wichtig, sensibel mit Jugendlichen, mit Kindern umzugehen und erst mal ihnen zuzuhören, also offen zu sein. Und erst mal, ob es jetzt türkischer Ultranationalismus ist oder Salafismus, oder Islamismus, Rechtsextremismus, es hat erst mal nichts damit zu tun, wenn man mit Jugendlichen arbeitet. Man sollte erst verstehen,
warum sympathisieren Jugendliche mit einer extremen Bewegung? Welche Motive stecken dahinter? Aus diesem Grund kann man den türkischen Ultranationalismus nicht nur als Auslandsextremismus bezeichnen, da die Hintergründe, sich dieser Bewegung anzuschließen, nicht homogen sind. Anhänger*innen in der Türkei haben andere Beweggründe als postmigrantische Menschen in Deutschland. So, da ist ganz viel mit Rassismus verbunden, Da ist ganz viel mit geerbtem Rassismus, also nicht nur sein eigener, sondern auch von Großeltern, von Eltern. Da ist die Diskriminierung, da ist ständig das Gefühl von ich bin anders, ich bin komisch, ich gehöre gar nicht zu dieser Gesellschaft. Und das ist schon mal auch ein ganz großer Grund für Jugendliche, sich irgendeiner extremen Bewegung anzuhängen.
Was ich halt meistens bei Praktiker*innen gesehen habe ist, dass sie erst mal bewusst oder unbewusst diskriminierend sind, dass sie Rassismen mit sich tragen. Und das verschließt natürlich direkt die Arbeit mit Jugendlichen oder Kindern. Von daher ist es natürlich erst mal wichtig, dass in der Praxis, in Arbeit oder Ausbildung erst mal reflektiert werden müsste. Wie selbstkritisch man eigentlich mit sich selber ist. Wie sehr bin ich eigentlich rassistisch? Wie sehr diskriminierend bin ich? Wenn das jetzt weiße Praktiker*innen sind beispielsweise, gibt es auch sehr oft die Überzeugung ich bin Praktiker, ich bin Sozialarbeiter, ich kann gar nicht diskriminierend sein, ich kann gar nicht rassistisch sein. Was natürlich nicht stimmt. Auch Sie können rassistisch und diskriminierend sein.
Und auch wenn Jugendliche sagen ‘Sie als Praktiker, Sie sind rassistisch‘, müsste man auch solche Sachen akzeptieren können und reflektieren können und nicht davon ausgehen, dass ich glaube, dass man solche Eigenschaften nicht hat. Das muss man erst akzeptieren. Das dauert, glaube ich, auch sehr lange. Bis man das auch einsieht, dauert es auch sehr lang und dann beginnt die richtige Arbeit mit Prävention usw. Egal was für ein Bereich von Extremismus das jetzt ist. Aber das muss man erst anerkennen. Man muss nachempfinden können, was ein Kind über sein ganzes Leben lang schlucken musste. Die erste Generation, die zweite Generation, das staut sich alles auf. Also am Frühstückstisch erzählt man dann vielleicht, die Person wurde wieder von wem angegriffen. Die Polizei ist nicht gekommen. Das gibt es bei Weißen vielleicht in diesem Ausmaß nicht in Deutschland. Und das sind in Deutschland vielmehr die Gründe, sich irgendeiner Gruppierung anzuhängen. Klar gibt es auch die Gründe, dass man von Grund auf extremistisch ist, wegen der Familie vielleicht. Das gibt es auch. Aber der andere Bereich, die haben immer persönliche Gründe. Das hat auch politische Gründe, soziale Gründe, auf die man eingehen muss. Und klar gibt es dann natürlich auch den Einfluss aus der türkischen Politik. Das heißt? Viele lassen sich auch beeinflussen und auch dort muss der deutsche Staat eingreifen und das unterbinden. Denn es kann nicht sein, dass ein anderer Staat, in diesem Sinne die Türkei, Jugendliche in Deutschland beeinflusst und Deutschland dagegen nichts machen kann. Im Grunde sind das Kinder Deutschlands und nicht Kinder der Türkei oder Jugendliche der Türkei. Aber sie lassen sich von der Türkei beeinflussen, weil die für sie einstehen. Die instrumentalisieren auch ihre Traumata im Sinne von ‘Wir fühlen das, der Westen ist eh gegen uns, die sind eh gegen den Islam, die sind eh gegen die Türken. Im Osmanischen Reich haben sie dies und das gemacht‘. Also die finden auch diese Wunde. Und in Deutschland wird gesagt, das ist ein Auslandsextremismus, wir haben damit nichts zu tun. Diese Jugendlichen gehören nicht zu uns. Da ist ganz klar, dass man die wegschiebt und viel mehr müssen Praktikanten daran arbeiten, auch diese politischen, gesellschaftlichen, problematischen Strukturen wahrzunehmen und anzusprechen und ihnen auch das Gefühl geben ich höre euch, wir wissen ganz genau, was in Deutschland passiert. Der vierte, fünfte Schritt ist vielleicht, auf türkischen Ultranationalismus einzugehen, aber die ersten drei Schritte, finde ich, ist ihre Lebensrealität zu erkennen. Ihnen mitzuteilen, dass sie gehört werden, auch wenn die Politik sie nicht hören will. Wir hören euch, wir sehen euch. Und dass man Mitgefühl hat, dass man ihnen zeigt wir wollen euch helfen. Ihr seid Teil von Deutschland, auch wenn ihr eine andere Ethnie habt, ihr gehört zu uns. Ich glaube, das fehlt erst mal.
Alexandra Korn: Vielen Dank für das Interview Derya.
Charlotte Leikert (KN:IX Outro): Sie hörten eine Folge von KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismus-Prävention. KN:IX talks ist eine Produktion von KN:IX, dem Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus. KN:IX ist ein Projekt von Violence Prevention Network, ufuq.de und der Bundesarbeitsgemeinschaft Religiös begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx.
Ihnen hat der Podcast gefallen? Dann abonnieren Sie uns und bewerten KN:IX talks auf der Plattform Ihres Vertrauens. Wenn Sie mehr zu KN:IX erfahren wollen, schauen Sie doch auf unserer Webseite www.kn-ix.de vorbei. Und wenn Sie sich direkt bei uns melden wollen, dann können Sie das natürlich auch machen. Mit einer E-Mail an info [at] kn-ix.de. Wir freuen uns über Ihre Anmerkungen und Gedanken.
KN:IX wird durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Finanzierung erhalten wir von dem Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in Sachsen-Anhalt, der Landeskommission Berlin gegen Gewalt und im Rahmen des Landesprogramms Hessen. Aktiv für Demokratie und gegen Extremismus.
Die Inhalte der Podcast-Folgen stellen keine Meinungsäußerungen der Fördermittelgeber dar. Für die inhaltliche Ausgestaltung der Folge trägt der entsprechende Träger des Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus, die Verantwortung.
Weiterführende Links
MHP Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) | Türkei | bpb.de
Panturkismus beschreibt die Vorstellung, alle turksprachigen Völker aus Regionen wie dem Kaukasus, dem Wolga-Ural-Gebiet, der Krim sowie Vorder- und Zentralasien in einem gemeinsamen großtürkischen Staat zu vereinen.
Tengrismus bezeichnet eine traditionelle Glaubensrichtung der Mongolen und Turkvölker in Zentralasien, in der alles sich in der Natur Befindliche als von einem Geist bewohnt betrachtet wird.