Auch „Nazis“ fallen nicht vom Himmel –
Plädoyer für die akzeptierende Jugendarbeit zur Prävention und Begegnung von Rechtsextremismus und Islamismus
Der Artikel von Dr. Jochen Müller (ufuq.de) erschien ursprünglich im KN:IX Report 2022.
Das sozialarbeiterische Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit entstand als Reaktion auf die rechtsextremen Ausschreitungen in Ostdeutschland nach 1989 und zeichnet sich durch den Grundgedanken aus, dass für das Gelingen pädagogischer Arbeit Akzeptanz und Empathie notwendig sind – auch dann, wenn Jugendliche rechtsextremistische, islamistische oder andere menschenverachtende Positionen vertreten. Genau dieser Aspekt wurde zu einem der Hauptkritikpunkte: Vorgeworfen wird dem Ansatz eine zu verständnisvolle Haltung in der Präventionsarbeit, die dazu beiträgt, solchen Positionen zu viel Raum zu geben und sie so zu stärken. Das Scheitern zahlreicher Projekte führte dazu, dass die akzeptierende Jugendarbeit zu einem Negativbeispiel wurde, von dem man sich heute lieber abgrenzt. Jochen Müller erläutert in seinem Artikel, wieso die Grundgedanken des Konzepts noch immer hoch relevant sind und weshalb es seiner Meinung nach keine Alternative dazu gibt.
Mit dem so pauschalen wie abfälligen, gleichwohl weiterhin viel zitierten polemischen Slogan „Glatzenpflege auf Staatskosten“ (Buderus 1998) wird seit vielen Jahren über Jugendarbeit zur Prävention und Begegnung von Rechtsextremismus debattiert. Aktueller Hintergrund dürfte die wachsende Präsenz von rechtsaffinen, rechtsorientierten und rechtsextremen Positionen und Stimmungen im öffentlichen Diskurs sein, die nicht zuletzt in der zivilgesellschaftlichen Szene das Bedürfnis verstärkt haben, dem Rechtsextremismus entschlossener als bisher zu begegnen bzw. ihn zu „bekämpfen“. Kritisiert wird in diesem Zusammenhang, dass der vor allem in den 1990er Jahren praktizierte Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit rechtsextremen Positionen und Personen zu viel Anerkennung, Raum und Macht überlassen habe – sei es im öffentlichen Diskurs, im kommunalen System oder der örtlichen Jugendarbeit. [1] „Kuschelpädagogik“ ist ein anderes böses Wort, mit dem akzeptierende pädagogische Jugend- und Präventionsarbeit mitunter diskreditiert wird.
In vergleichbarer Weise wird immer wieder auch die Praxis von Islamismusprävention infrage gestellt: Religiös begründete antipluralistische und islamistische Positionen würden hier nicht klar erkannt und konfrontiert, so der Vorwurf – vor allem weil die Präventionsarbeit „muslimische“ Akteure nicht als mögliche Täter*innen, sondern in erster Linie als „Opfer“ von Rassismus und Diskriminierungen betrachte. Opfer islamistischer Gewalt blieben unbeachtet und konkrete Maßnahmen zur Begegnung islamistischer Positionen und ihrer Vertreter*innen würden erschwert und verhindert, indem solche Maßnahmen und ihre Fürsprecher*innen vorschnell unter Rassismusverdacht gestellt würden. In dieser Weise argumentieren etwa Stimmen, die sich selbst als „religionskritisch“ beschreiben, religiös begründete Positionen von Jugendlichen als „konfrontativ“ betrachten und sie im Vorfeld von Islamismus verorten. [2]
Was ist akzeptierende Jugendarbeit?
Beide Argumentationsmuster, die sich gegen eine aus ihrer Sicht zu verständnisvolle Haltung in der Präventionsarbeit zu Rechtsextremismus und Islamismus aussprechen, ähneln sich: Hier wie dort geht es darum, demokratiefeindliche Positionen auch in frühen Phasen als solche zu identifizieren, sie nicht durch Verweise auf allgemeine gesellschaftlich-krisenhafte Entwicklungen zu relativieren, sondern ihren ideologischen Gehalt zu erkennen, ihnen entschiedener zu begegnen und betroffene Opfer(gruppen) zu stärken. Beide Perspektiven teilen zudem die Kritik am Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit. Dieser Ansatz dominierte in den 1990er Jahren die offene Jugendarbeit vor allem mit Blick auf die Begegnung von Rechtsextremismus in Ostdeutschland (aber nicht nur dort) und wirkt bis heute fort. Was also ist akzeptierende Jugendarbeit, wie wurde und wird sie umgesetzt, was wird kritisiert und welche Alternativen gibt es in der Präventionsarbeit?
Entwickelt wurde der Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit in den frühen 1990er Jahren durch den an der Fachhochschule Bremen lehrenden Sozialpädagogen Franz Josef Krafeld (1996) und Mitarbeitende in seinem Umfeld. Hintergrund war der nach 1989 neu aufkommende Rechtsextremismus, der nicht mehr von den bekannten „Altnazis“, sondern vor allem durch Jugendliche bzw. Cliquen junger Erwachsener geprägt war. Bis dahin bestand ein Großteil der in Westdeutschland überhaupt erst in den 1970er und 1980er Jahren entstandenen Jugendeinrichtungen in selbst organisierten und eher dem linken Milieu zuzuordnenden Initiativen, die keinen Platz für ein politisch eher rechts orientiertes Klientel boten, das von Angeboten sozialer Arbeit oft ausgeschlossen blieb. Auch Formen aufsuchender Arbeit gab es bis dahin erst punktuell. In den östlichen Bundesländern galt das umso mehr, da auch im Bereich von Jugendarbeit den vertrauten und abgewickelten DDR-Strukturen wenig neue und angepasste Angebote für Jugendliche in schwierigen und erschwerten Lebensumständen gegenüberstanden.
Ausgangspunkt des Ansatzes einer akzeptierenden Jugendarbeit war vor diesem Hintergrund zunächst der im Kinder- und Jugendhilfegesetz formulierte und uneingeschränkt geltende Anspruch: „Jeder junge Mensch hat das Recht auf Förderung seiner Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Im Mittelpunkt der akzeptierenden Jugendarbeit, so formulierte Krafeld, stünden nicht die Probleme, die „Jugendliche machen“, sondern die Probleme, die „Jugendliche haben“ (Krafeld 1996: 4). Der Blick auf die „problematischen“, das heißt gefährdeten oder bereits ideologisierten Jugendlichen sollte sich dabei also immer auch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse richten, in denen sie lebten und groß wurden. Das Wissen um und das Einfühlen in die Lebenswelten und Erfahrungen von Jugendlichen kann hier als Voraussetzung dafür gelten, dass pädagogische Fachkräfte deren Perspektiven verstehen (im Sinne von nachvollziehen) und eine Bindung zu ihnen aufnehmen können, auf deren Grundlage ihre Ansprachen und Angebote nur Wirkung entfalten können (das heißt, von den Klient*innen nicht geradewegs abgewehrt werden). In der praktischen Umsetzung dieser Grundgedanken standen dann die folgenden Aspekte im Mittelpunkt (vgl. zum Folgenden: Glaser 2021; Tiedeken 2015):
- Trennung von Person und Position: Respekt, Anerkennung und Akzeptanz sollen demnach grundsätzlich der Person des*der Jugendlichen entgegengebracht werden. Nur auf dieser Basis kann eine Beziehung entstehen, die es im Weiteren erst ermöglicht, vom*von der jeweiligen Jugendlichen vertretene Positionen und Überzeugungen infrage stellen zu können. Ein Beispiel: Voraussetzung dafür, dass der*die Jugendarbeiter*in sich mit den Jugendlichen an ihrem Ort treffen und dort deutlich machen kann, dass er*sie die im Hintergrund laufende rechte Musik „scheiße“ findet und nicht hören will, ist die bestehende Beziehung. [3] Voraussetzung für das Gelingen pädagogischer Arbeit wäre demnach, dass die Jugendlichen „ihre“ Pädagog*innen anerkennen, was nur der Fall sein kann, wenn diese ihnen mit grundlegender Akzeptanz und Wertschätzung begegnen können. Ein „Herz für Rechte“ also als Voraussetzung pädagogischer und präventiver Arbeit? Bereits an dieser Stelle steht unter anderem die Frage nach dem Spektrum der erreichbaren Jugendlichen und jungen Erwachsenen: von rechtsaffinen Pubertierenden bis hin zu ideologisierten Kadern?
- Unterstützung bei der Selbstsozialisation: Zur „Förderung der Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ gehört in der akzeptierenden Jugendarbeit die Unterstützung von Wirksamkeitserfahrungen durch Selbstsozialisation, die es entsprechend zu unterstützen gilt. Ein Beispiel: In Bremen wurden rechten Gruppen Räumlichkeiten („Erfahrungs- und Bildungsräume“) und Unterstützung beim Erwerb von Musikinstrumenten oder technischem Equipment gewährt, um Jugendlichen Erfahrungen von Eigenregie, Selbstwirksamkeit und Anerkennung zu ermöglichen. Auch hier stellen sich u. a. die Fragen, wie weit die Unterstützung (hier: rechte Rockmusik) gehen oder ob die Fokussierung auf rechtsextreme Jugendliche nicht dazu führen kann, andere Jugendliche, vor allem solche, die von rechter Macht und Gewalt betroffen sind, noch weiter zu verdrängen, statt sie und ihre Erfahrungen zum Ausgangspunkt der Praxis zu machen?
- Strategien zur Lebensbewältigung: Akzeptierende Jugendarbeit sollte nicht an vorgefassten Zielen politischer Bildung (Belehrungs- und Aufklärungsangebote) ansetzen, sondern Lebenswelten, Interessen, Bedarfe und konkrete Probleme der Jugendlichen zum Ausgangspunkt ihrer Praxis machen. Ein Beispiel: Bei der Errichtung und Gestaltung dörflicher Kinderspielplätze oder Jugendzentren können Jugendliche nicht nur handfeste Erfolge feiern, sondern auch lernen, eigene Interessen zu verfolgen. Initiativen, so die zugrundliegende Annahme, die nicht von den Eigeninteressen der Jugendlichen ausgingen, blieben wirkungslos, weil sie nicht durch die Jugendlichen selbst gewünscht und getragen werden. Auch hier stellt sich die Frage, wie weit die Orientierung an den Wünschen rechtsaffiner oder rechtsextremer Jugendlicher gehen kann und an welcher Stelle ihre Positionen und Einstellungen durch Kritik oder Verunsicherung hinterfragt und konfrontiert werden können?
In der Praxis …
… zeigte sich, dass unter dem Eindruck des Primats von Beziehungsaufbau die Elemente der Konfrontation und Grenzsetzung häufig zurücktraten, obgleich sie sehr wohl Grundbestandteile des akzeptierenden Ansatzes sind [4]: So steht außer Frage, dass der Zugang über Beziehung, Akzeptanz und Förderung an vielen Orten eher zur Stabilisierung und Stärkung der rechten Szene beigetragen hat, statt diese zu schwächen und weiteren Zulauf zu verhindern. Alternative Jugendszenen wurden auf diese Weise verdrängt und unterdrückt, Betroffene rechter Gewalt und Repression zusätzlich marginalisiert. Außerdem führte die Priorität des Aufbaus persönlicher Bindungen und die Fokussierung auf die Probleme, die rechte Jugendliche „haben“, zu einer Entpolitisierung. So wurden „rechte“ Positionen und Verhaltensweisen oft nicht grundlegend hinterfragt, sondern toleriert und damit das Entstehen von Orten befördert, an denen rechtsorientierte und rechtsextremistische Positionen und Jugendliche dominierten und Andersdenkende verdrängten. Begünstigt wurde dies, indem Durchführung und Betreuung der Angebote in die Hände von häufig fachfremdem Personal gelegt wurden, das auf Basis kostengünstiger und kurzfristiger ABM-Stellen eingestellt und schon von daher am geforderten Aufbau langfristiger stabiler Beziehungen zu den Jugendlichen scheitern musste, obgleich eben diese die Voraussetzung von gelingender Konfrontation und Verunsicherung hätten sein sollen.
Michaela Glaser (2021) beschreibt die Wirkung des akzeptierenden Ansatzes im „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“ (AgAG) von 1992 bis 1996 so: Anlass zur Etablierung des Programms waren demnach vor allem Ausschreitungen in Ostdeutschland nach 1989, in deren Folge Konzepte aus dem Westen implementiert wurden. 120 Projekte wurden gefördert, die großenteils mit rechtsextremen Jugendlichen arbeiteten, meist mit dem akzeptierenden Ansatz. Zwar seien, so Glaser, in diesem Zuge wichtige Beiträge zur Schaffung von bis dato gar nicht existenten Jugendhilfestrukturen bzw. abgewickelten Einrichtungen geleistet worden. Gleichwohl hätten die Projekte ohne „flankierende Maßnahmen“ und Kooperationen vor Ort auf sich gestellt ohne Anbindung an die Kommunalpolitik arbeiten müssen. Unter Bezug auf Studien zum Programm betont Glaser, wie das in der Praxis verkürzte Verständnis des Konzepts fälschlicherweise oft als „Synonym für keine Regeln setzen, alles erlauben, niemanden ausgrenzen“ verstanden worden sei. Nur wenige der Projekte hätten sich „ernsthaft mit dem eigentlichen Konzept beschäftigt, das sehr wohl (…) Grenzsetzungen vorsieht“ (Baer, zitiert nach Glaser 2021).
Dieses verkürzte Verständnis von „Akzeptanz“, die einseitige Fokussierung auf Desintegrations- und Frustrationserfahrungen nach 1989 als Ursachen von Gewalt und Ideologisierung, die de facto oft resultierende Verdrängung nichtrechter Jugendlicher sowie die Übertragung eines für Randgruppen in westdeutschen Städten entwickelten Konzepts auf den ländlichen ostdeutschen Raum gelten als Hauptgründe für das vielerorts zu konstatierende Scheitern von Projekten der akzeptierenden Jugendarbeit. Damit war aber nicht nur die Arbeit mit rechtsgerichteten Jugendlichen auf Jahre gestoppt – erst 2011 wurde sie als „Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen“ wieder zum Förderschwerpunkt im Programm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ des BMFSFJ. [5] Darüber hinaus geriet der Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit insgesamt so stark in Misskredit, dass er, wie eingangs skizziert, in der politischen Auseinandersetzung heute oft nur noch in abgrenzender negativer Konnotation und als Beweis dafür angeführt wird, dass pädagogische und präventive Arbeit im Kontext von Extremismus auf keinen Fall „zu verständnisvoll“ sein dürfe. [6] Auch in Auseinandersetzungen um die Islamismusprävention gilt das vermeintliche Scheitern der akzeptierenden Arbeit mit rechtsextrem gefährdeten bzw. orientierten Jugendlichen als abschreckendes Beispiel und dient der Kritik an Zugängen (hier vor allem solchen in der universellen Präventionsarbeit in Schulen beispielsweise), denen vorgeworfen wird, gesellschaftliche Verhältnisse in der Migrationsgesellschaft, vor allem Rassismuserfahrungen von Jugendlichen, über Gebühr hervorzuheben und damit den Islamismus als Ideologie zu relativieren, obwohl diese doch hinter religiös begründeten Protesten und Provokationen stünde (siehe oben sowie Anmerkung 2).
Gibt es Alternativen?
Kurz gesagt: Nein. Denn pädagogische, präventiv wirksame Arbeit – gleich ob in der universellen, selektiven oder indizierten Prävention – ist weder Politik noch Polizeiarbeit. Sie kann nicht gelingen ohne grundlegende Akzeptanz und Empathie für die Jugendlichen – gleich ob sie rechtsextremistische, islamistische oder andere menschenverachtende und -abwertende Positionen vertreten mögen. Dazu gehört auch das Bestreben in Pädagogik, Prävention und Distanzierungsarbeit, „problematische“ bis hin zu ideologischen Positionen junger Menschen im Kontext ihres individuellen und nicht zuletzt gesamtgesellschaftlich bedingten Entstehens zu betrachten. Denn „Nazis“ oder Islamist*innen fallen nicht vom Himmel. Vielmehr sind ihre Denkmuster, Wahrnehmungen, Überzeugungen, Haltungen, Positionen und Verhaltensformen bei aller Eigenverantwortlichkeit immer auch Produkte und Erscheinungsformen gesellschaftlicher Verhältnisse. Dieses im Blick zu halten, muss Bestandteil jeder sich kritisch nennenden präventiven Praxis sein. Und es ist die Voraussetzung, um Ansätze, Wege und Zugänge zu finden, junge Menschen zu erreichen und gegenüber extremistischen Angeboten stärken bzw. bei bereits bestehender Ideologisierung irritieren und verunsichern zu können. Denn kein Argument und keine konfrontierende und repressive Maßnahme wird jungen Menschen Anstöße geben, wenn sie nicht einher geht mit dem Versuch und der Bereitschaft von Fachkräften, selbst Perspektivwechsel vorzunehmen und sich auf die grundlegende Verletzbarkeit von Menschen, auf biografische Erfahrungen und auf entwürdigende gesellschaftliche Verhältnisse einzulassen, die diese meist geprägt haben. Erst das schafft auch die Voraussetzung zu kritischer Reflexion und Konfrontation.
Dass gerade in Zeiten zunehmend als polarisierend wahrgenommener gesellschaftlicher Auseinandersetzungen die akzeptierende Jugendarbeit auch von zivilgesellschaftlichen Akteuren im Feld grundlegend infrage gestellt wird, ist eher Ausdruck und Teil der Krise und keineswegs ein Beitrag zu ihrer Bewältigung. So auch das geflügelte Wort vom „Glatzenputzen“: Ähnlich wie die pauschalisierende Kategorie „Nazis“ entwürdigt es Menschen, kategorisiert sie, reduziert sie auf ein äußerliches Merkmal und spiegelt eine Haltung, mit der Präventionsarbeit und gesellschaftliche Inklusion nicht gelingen können, die aber stattdessen Desintegration, Polarisierungsphänomenen und Ideologisierungen noch Vorschub leistet. In der Folge differenziert der öffentliche, teilweise auch der Fachdiskurs nicht genügend zwischen „gefährdeten“ und rechts- bzw. rechtsextrem „orientierten“ Jugendlichen und spricht oft über Prävention von Rechtsextremismus im Allgemeinen. Gleiches gilt für den Diskurs zum Islamismus: Hier werden religiös konnotierte Protesthaltungen und Verhaltensweisen, wie die Verweigerung von Schweigeminuten oder Handgeben durch Jugendliche, vorschnell und ohne Blick auf die Lebenswirklichkeiten, den situativen Kontext und die Perspektiven der Jugendlichen in die Nähe von Islamismus oder gar Terrorismus gerückt und sollen entsprechend „bekämpft“ werden. [7] Ignoriert wird in der pauschalisierenden Kritik auch, dass aus den Erfahrungen mit akzeptierender Jugendarbeit schließlich Schlüsse gezogen werden konnten. So sind in den vergangenen Jahren Ansätze ent- und weiterentwickelt worden, die nicht zuletzt auf dem Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit beruhen. Glaser (2021) nennt etwa die „gerechtigkeitsorientierte Jugendarbeit“ (Krafeld), die „Integrationspädagogik“ (VAJA), die „subversive konfrontative Verunsicherung“ (Osborg), den „biografisch-narrativen Ansatz“ (Köttig) und „genderreflektierende Perspektiven“ (u. a. Radvan). Hinzuzufügen wäre hier z. B. auch die „Verantwortungspädagogik ®“ (Violence Prevention Network). [8]
All diese Ansätze versuchen unterschiedliche Lebenswirklichkeiten, biografische Erfahrungen und das Gewordensein von Positionen einzubeziehen, ohne die Betroffenen aus eigener Verantwortlichkeit zu entlassen und ohne auf Konfrontation und Repression zu verzichten, wenn es zu Grenzüberschreitungen bis zur Ausübung von Gewalt kommt. Das ist herausfordernd. Denn für die Fachkräfte bedeutet dies in der Praxis immer auch, über den Tellerrand zu blicken und die eigene Blase zu verlassen, was heißt, sich selbst (Wo liegen meine Grenzen?), die eigene privilegierte Position und die eigene Perspektive beständig zu reflektieren (z. B. mit Blick auf Milieu, Bildung oder Zugehörigkeit). Das schließt ein, Werte junger Menschen
(z. B. im Verhältnis zu Arbeit oder Geschlechtern) und politische Positionen (z. B. zu Migration und Nation) auch dann zu akzeptieren, wenn sie den eigenen diametral gegenüberstehen mögen und sich für gänzlich andere Normen und Formen (z. B. in Musik, Ästhetik) zu interessieren. Als Fachkräfte müssen sie in diesem Zuge zunächst sich selbst in Ambiguitätskompetenz üben, bevor diese an andere zu vermitteln wäre (Müller 2021). Das ist umso wichtiger vor dem Hintergrund, dass Fachkräfte sich oft als marginal, gesellschaftskritisch oder oppositionell verstehen. Im Verhältnis zu ihrem Klientel gehören sie jedoch oft – zum Beispiel in der außerschulischen Jugendarbeit oder in zivilgesellschaftlichen Organisationen – irgendwie selbst zum bürgerlich-liberalen Mainstream bzw. zu den gesellschaftlichen Eliten oder Diskurs- und Meinungsführer*innen.
Es versteht sich von selbst, muss aber gegenüber polemischen Anwürfen immer wieder beteuert werden, dass akzeptierende Jugendarbeit dort ihre Grenzen hat, wo Menschen nicht (mehr) zu erreichen und andere vor ihnen zu schützen sind; und dass im Kontext von Prävention zwischen universeller, selektiver und indizierter Dimension zu unterscheiden ist: So müssen gegebenenfalls Kader rechts liegen gelassen und lediglich mit Blick auf Strafrecht und Sicherheit betrachtet werden. Auf der anderen Seite stehen „gefährdete“ und rechts oder islamistisch „orientierte“ Jugendliche. Bevor nämlich Kritik und Konfrontation bei ihnen wirken können, benötigen gerade sie – da weiß die präventive Praxis schon lange, was die politisch geführte Debatte schnell vergessen macht – besonders viel Zuwendung, Empathie und: Akzeptanz.
Anmerkungen
[1] Vgl. dazu den Beitrag „Zurück zur Glatzenpflege?“ aus dem Projekt „MUT gegen rechte Gewalt“ der Amadeu-Antonio-Stiftung (2013).
[2] Siehe dazu in der Diskussion um den Berliner Träger DEVI und das Konzept der „konfrontativen Religionsbekundung“ u. v. a.: KN:IX (2022a): Stellungnahme des „Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus“ zum Ansatz der „konfrontativen Religionsbekundung“.
[3] Aus dem Gespräch des Autors mit einem Jugendarbeiter, der in den 1990er Jahren in Göttingen mit rechten Jugendlichen gearbeitet hat.
[4] Zum Folgenden siehe Tiedeken (2015: 7f.); Glaser (2022: 180ff.); vgl. auch Schuhmacher/ Zimmermann (2021).
[5] Zu weiteren Fördermaßnahmen im Bereich siehe Glaser (2022: 180ff).
[6] Eine Bestandsaufnahme von Wilfried Schubarth (Universität Potsdam aus dem Jahr 2002) zu den Erfahrungen aus der pädagogischen Arbeit zur Begegnung von Rechtsextremismus in den 1990er Jahren zeigt, wie sich die Themen der Debatte wiederholen (Schubarth 2002).
[7] Mit dem Hinweis auf Parallelen in der Diskussion zur Islamismusprävention sollen keineswegs die Unterschiede von rechtsorientiertem und religiös begründetem Protestverhalten negiert werden – hieße das doch in der Regel, entweder Rechtsorientierung zu relativieren oder problematische religiös begründete Positionen zu dramatisieren. Beispielhaft für eine vorschnelle Klassifizierung von schwierigem Verhalten Jugendlicher als „islamistisch“ sind etwa die Reaktion des Berliner Geschichtslehrerverbands (Stolz 2020) und der offene Brief des Präventionsträgers DEVI (2020) an die Berliner Bildungssenatorin nach dem Mord am französischen Geschichtslehrer Samuel Paty.
[8] Auch die oft in Gegensatz zum akzeptierenden Ansatz formulierte „menschenrechtsorientierte“ Arbeit mit Jugendlichen speist sich aus dessen Erfahrung (siehe dazu Feustel 2014).
Alle Literaturangaben finden Sie in der Originalpublikation.
Der Autor
Dr. Jochen Müller ist Islamwissenschaftler, Mitbegründer und Co-Geschäftsführer des Vereins ufuq.de. Müller war lange als Redakteur und Autor tätig und arbeitet seit 2007 zu den Themen Islam und Muslim*innen in Deutschland. Interessen- und Arbeitsschwerpunkte sind: Kolonialismus und Nord-Süd-Politik, Nahostkonflikt, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Islamismus und Salafismus in Deutschland sowie Islam und Schule.