Und es macht Klick.
Wie Präventionsarbeit auf die Diversifizierung der islamistischen Szene in Deutschland reagieren kann
Der Artikel von Dr. Götz Nordbruch (ufuq.de) erschien ursprünglich im KN:IX Report 2022.
In der islamistischen Szene sind in den vergangenen Jahren zahlreiche neue Initiativen entstanden, die sich in Auftreten, Themensetzung und Strategie von etablierten Strömungen unterscheiden. In dieser Entwicklung spiegeln sich die unterschiedlichen Motive und Bedürfnisse, die von islamistischen Szenen angesprochen und bedient werden. Wie im Rechtsextremismus ist es auch im Islamismus immer weniger möglich, idealtypische Biografien und Motivlagen auszumachen, die der Hinwendung zu islamistischen Szenen zugrunde liegen: Doch der gewaltaffine Rechtsrocker ist genauso wenig repräsentativ für den Rechtsextremismus wie der salafistische Prediger mit Bart und Beinkleid für den Islamismus. Umso wichtiger ist es, Präventionsansätze von den unterschiedlichen Bedürfnissen der jeweils angesprochenen Zielgruppen heraus zu denken: Ein Jugendlicher im Umfeld von „Muslim interaktiv“ findet dort andere Angebote als eine junge Frau, die sich salafistischen Gruppierungen zuwendet. Entsprechend vielfältig müssen auch die Präventionsangebote sein, die sich an diese Zielgruppen wenden.
Der YouTube-Kanal „Macht’s Klick?“ zählt zu den reichweitenstärksten deutschsprachigen Angeboten, mit denen islamistische Inhalte vermittelt werden. In den Videos referiert der stets adrett gekleidete Sprecher in sachlichem Ton über Fragen aus dem jugendlichen Alltag: Es geht um Freundschaft, Freizeitaktivitäten, den Tod oder um Sexualität – und darum, was „der“ Islam an Regeln und Gebote zu diesen Themen vorgibt. Mit über 150.000 Abonnent*innen auf YouTube erreicht der Kanal ein Publikum, das deutlich über das engere Spektrum islamistischer Organisationen hinaus reicht und auch in Mainstreamdiskurse hineinwirkt. In der öffentlichen Debatte erfährt „Macht’s Klick?“ – ähnlich wie Angebote andere Akteur*innen aus diesem Spektrum, die in den vergangenen Jahren entstanden sind – allerdings kaum Beachtung. Die zurückhaltende Gestaltung und die inhaltlichen Schwerpunkte tragen dazu bei, dass der Kanal weder in Debatten über den Einfluss islamistischer Denkweisen noch in Präventionsmaßnahmen eine größere Rolle spielt.
In den vergangenen Jahren hat sich die islamistische Szene in Deutschland sichtbar ausdifferenziert, ohne dass die zunehmende Breite dieses Spektrums in öffentlichen Debatten berücksichtigt wird. So erreichen Organisationen aus dem Umfeld islamistischer Bewegungen wie der Muslimbruderschaft, der Hamas oder der Hisbollah weiterhin ein größeres Publikum. Dies gilt in gleicher Weise für salafistische Prediger und Initiativen. Allerdings sind weitere Akteur*innen hinzugetreten, die sich in Auftreten, inhaltlichen Schwerpunkten und Aktionsformen zum Teil deutlich von etablierten Organisationen und ihren Protagonist*innen unterscheiden. In sozialen Medien äußert sich dies in der Vielzahl der Angebote und Kanäle unterschiedlicher islamistischer Strömungen, deren Zielgruppen sich aber durchaus überschneiden.[1] In dieser Entwicklung spiegelt sich eine Vervielfältigung der Angebote, mit denen islamistische Akteur*innen auf unterschiedliche lebensweltliche Bedürfnisse reagieren und Bewältigungsstrategien für vielfältige soziale, psychologische, familiäre oder werte- oder verhaltensbezogene Unsicherheiten und Krisen anbieten.
Für die Präventionsarbeit verbindet sich damit die Herausforderung, diese unterschiedlichen Angebote und Ansprachen und die damit jeweils adressierten Zielgruppen mitzudenken und bei der Entwicklung von Präventionsangeboten zu berücksichtigen. Die Motivationen, sich den einzelnen Strömungen zuzuwenden, unterscheiden sich: Zwischen einem 50-jährigen Funktionär aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft, einem 21-Jährigen, der sich dem „Dschihad“ verpflichtet sieht, oder einer 17-Jährigen, die sich für die Videos von „Macht’s Klick?“ begeistert, gibt es biografisch und lebensweltlich wenige Gemeinsamkeiten. Entsprechend müssen auch Präventionsansätze auf unterschiedliche Motive eingehen und unterschiedliche Zielgruppe ansprechen. „One size fits all“–Ansätze, die die Hinwendung zu islamistischen Szenen erklären und als Grundlage für Präventionsansätze dienen, erscheinen angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Bedürfnisse von Personen in ganz unterschiedlichen Lebenslagen und der unterschiedlichen islamistischen Akteur*innen, die diese Personen ansprechen, immer weniger angebracht.
Ausdifferenzierung des islamistischen Spektrums
Die Ausdifferenzierung des islamistischen Spektrums zeigt sich insbesondere in der Ausweitung von Zielgruppen, die durch die jeweiligen Akteur*innen angesprochen werden. Ähnlich wie rechtsextremistische Szenen beschränken sich islamistische Strömungen nicht auf einzelne Milieus, sondern erreichen mit unterschiedlichen Stilen, ideologischen Ansprachen und Organisations- und Handlungsformen zunehmend weitere Personengruppen. So spielt die Strömung des Salafismus, die in den vergangenen Jahren im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stand, zwar weiterhin eine große Rolle. Sie ist aber kaum mehr repräsentativ für die Vielfalt an stilistischen, emotionalen, habituellen und handlungsbezogenen Angeboten, die die Hinwendung zu islamistischen Ideologien motivieren können. Wie im Falle der Reichsbürger und der Identitären Bewegung, die ideologisch durch viele Gemeinsamkeiten verbunden sind, sich aber in Auftreten und lebensweltlichen Angeboten deutlich unterscheiden, lassen sich auch im islamistischen Spektrum entsprechende Differenzierungen beobachten.
Exemplarisch hierfür stehen die Initiativen „Generation Islam“, „Realität Islam“ und „Muslim Interaktiv“, die seit 2014 mit Aktionen im öffentlichen Raum on- und offline größere Sichtbarkeit erhalten und dabei auch Menschen erreichen, die sich vom Auftritt salafistischer Prediger nicht angesprochen fühlen (vgl. Baron 2021). Als Initiativen aus dem Umfeld der internationalen Bewegung Hizb ut-Tahrir, die in Deutschland 2003 verboten wurde, stehen sie für eine islamistische Ideologie, die die Wiedererrichtung des Kalifats als Herrschaftsform anstrebt und dabei vor allem auf einen öffentlichkeitswirksam und jugendkulturell gestalteten gesellschaftspolitischen Aktivismus setzen. Dazu zählen Protestaktionen vor dem Brandenburger Tor genauso wie das Verteilen von Flugblättern im Umfeld von Moscheen, mit denen vor Anschlägen wie in Christchurch gewarnt wird und Muslim*innen in Deutschland zum Rückzug in die „islamische Gemeinschaft“ aufgefordert werden. Religiöse Fragen, beispielsweise zur Lebensgestaltung, spielen hier nur am Rande eine Rolle, deutlich mehr Raum bekommen Berichte über Diskriminierungen und Rassismus in Deutschland und Europa, aber auch über internationale Konflikte und die Verantwortung, die westliche Staaten für diese Konflikten haben.
Die Attraktivität und mobilisierende Wirkung dieser Initiativen gründen nicht zuletzt darin, dass sie Antworten und gemeinsam erlebte Aktionsformen für von gesellschaftlichen Fragen und Konflikten ausgelöste Emotionen wie Empörung, Ohnmacht und Wut anbieten. Mit ihren Aktionen bieten sie Selbstwirksamkeitserfahrungen, die an realen gesellschaftlichen Missständen anknüpfen. Nicht zufällig finden diese Initiativen gerade auch unter bildungsnahen Jugendlichen und jungen Erwachsenen Zuspruch, die hier gesellschaftlichen Protest und Widerstand zum Ausdruck bringen.
Sowohl in der Ansprache als auch in den Aktionsformen zeigen sich dabei deutliche Parallelen beispielsweise zur rechtsextremen Identitären Bewegung. Zugleich unterscheiden sich die Initiativen im Umfeld von Hizb ut-Tahrir deutlich von den Angeboten islamistischer YouTube-Kanäle wie „Macht’s Klick?“, „Botschaft des Islam“ oder auch von salafistischen Angeboten. Trotz der Schnittmengen, die zwischen den Zielgruppen der unterschiedlichen Akteur*innen bestehen, bedienen Letztere mit ihren Inhalten deutlich andere Bedürfnisse. Ihre Schwerpunkte setzen sie weniger auf gesellschaftliche Fragen von Gerechtigkeit und Teilhabe als vielmehr auf entwicklungsbezogene, lebensweltliche Konflikte („Ist das haram?“; „Darf ich als Muslim …?“), zu denen sie explizit religiöse Antworten geben. Dabei kommen immer wieder auch schambesetzte Themen wie der Umgang mit Sexualität, Pornografie oder Spielsucht zur Sprache, für die im anonymen Format repressive, religiös begründete Bewältigungsstrategien aufgezeigt werden. Damit wenden sich diese Akteur*innen gezielt an Nutzer*innen, denen sich Fragen zur Vereinbarkeit ihres Alltagslebens mit „dem Islam“ stellen – allgemeinere gesellschaftliche oder politische Missstände dienen hier lediglich als Begründung für die von ihnen behauptete Überlegenheit des Islam und die Dringlichkeit, vermeintlich islamischen Vorgaben genau zu folgen.
Für die Breite des islamistischen Spektrums stehen schließlich auch Personen, die islamistische Weltbilder nur punktuell reproduzieren, aber dennoch entsprechende Narrative verstärken. Beispielhaft hierfür steht der Frankfurter Gangsta-Rapper SadiQ, der sich mit seiner Musik und seinem Auftreten deutlich in Widerspruch zu islamistischen Idealen setzt, in seinen Liedern aber immer wieder auch an dschihadistische Narrative anknüpft und Gewalt als legitime Form des Widerstandes gegen oft nur vage definierte Missstände beschreibt. Die Konfliktlinie zwischen dem hier konstruierten Wir-Kollektiv und dem zu bekämpfenden Anderen verläuft dabei nicht durchgängig zwischen „Muslimen“ und „Nichtmuslimen“, greift diesen Konflikt aber immer wieder auf („Denn ich bin die Rache von den Bergen Afghanistans“, „Ich bin Osama, du Charlie“, zitiert aus dem Lied „Kalaschnikow Flow“, 2021). Dieses explizit gewaltaffine Widerstandsnarrativ, das für ein vornehmlich männlich geprägtes Publikum attraktiv sein kann, dürfte viele Nutzer*innen der Kanäle von „Generation Islam“ oder „Macht’s Klick?“ eher weniger ansprechen, reproduziert aber für das eigene Publikum Geschlechterrollen und dichotome Welt- und Feindbilder, wie sie auch islamistischen Ideologien zugrunde liegen.
Mehr als ein Jugendphänomen
Diese Angebote und Ansprachen stellen unterschiedliche Zugänge dar, über die potenzielle Anhänger*innen mit den entsprechenden Szenen in Kontakt kommen. Anders als bei etablierten islamistischen Strömungen wie der Muslimbruderschaft oder dem nicht-reformorientierten Teil der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş bei denen bereits bestehende Bindungen von Angehörigen an die jeweiligen Vereine eine wichtige Rolle spielen, erfolgte die Hinwendung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zur salafistischen Szene in der Vergangenheit häufig gerade in Abgrenzung zu Elternhaus und familiärem Umfeld und erfüllte damit auch die biografische Funktion adoleszenter Ablösung. Die Hinwendung zu einer salafistischen Gruppe stand nicht selten auch für einen Protest gegen einen vermeintlich „verwestlichten“ Lebensstil der Eltern (vgl. u. a. Frank/Scholz 2022: 110–112). Demgegenüber lässt sich die Bindung jüngerer Mitgliedern von Organisationen wie der IGMG häufig gerade auf deren familiäres Umfeld zurückführen.[2] Auch in dieser Hinsicht liegt es nahe, zwischen den individuellen Beweggründen für das Engagement beispielsweise bei der IGMG oder der „Deutschen Muslimischen Gemeinschaft“ auf der einen und neueren islamistischen Gruppen wie „Generation Islam“ auf der anderen Seite zu unterscheiden.
Allerdings beschränken sich islamistische Szenen keineswegs auf Jugendliche und junge Erwachsene. So zeigen Auswertungen der Sicherheitsbehörden zur salafistischen Szene einen hohen Anteil von älteren Personengruppen, die der Szene zugeordnet werden. In einem Lagebild kam der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen für das Jahr 2019 zu dem Ergebnis, dass 41 Prozent der Anhänger*innen der salafistischen Szene zwischen 26 und 35 Jahren sind, 38 Prozent der Anhänger*innen waren über 35 Jahre. Bei lediglich 21 Prozent handelt es sich um Jugendliche und junge Erwachsene unter 26 Jahren, Minderjährige spielen in der Szene nur eine marginale Rolle (Ministerium des Innern NRW 2020: 19). Ähnliche Altersverteilungen sind auch für die salafistischen Szenen in Berlin und Niedersachsen dokumentiert (vgl. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport – Verfassungsschutz 2020; Senatsverwaltung für Inneres und Sport 2018). Für den Berliner Kontext verweisen die Sicherheitsbehörden auf die über Jahre gewachsenen Strukturen der Szene in der Stadt, die „neben Moscheen unter anderem auch Kleidergeschäfte, Buchhandlungen und Lebensmittelläden umfasst“ (Senatsverwaltung für Inneres und Sport 2018: 9) und eine längerfristige Bindung auch über das junge Erwachsenenalter hinaus ermöglicht.
Diese Einschätzung unterstreicht die Dynamik dieser Szenen, deren Altersstruktur keineswegs statisch ist. So rückte in den vergangenen Jahren verstärkt auch das Phänomen von Kindern aus salafistisch geprägten Elternhäusern in den Blick; angesichts der Altersverteilung ist es naheliegend, dass Angehörige der Szene zukünftig auch als Eltern eine Rolle spielen, die mit ihren Einstellungen und Lebensentwürfen Einfluss auf die Sozialisation ihrer Kinder nehmen (Becker/Meilicke 2019).
Das große Altersspektrum der Personen, die islamistischen Szenen zuzuordnen sind, steht im Widerspruch zur weitverbreiteten Wahrnehmung des Islamismus als Jugendphänomen, welches sich wesentlich aus jugendphasentypischen Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben ableiten lasse. Tatsächlich beschränken sich die ideologischen und verhaltensbezogenen Angebote islamistischer Szenen nicht auf unmittelbar jugendspezifische Bedürfnisse, sondern können auch jenseits des Jugendalters identitätsbildend und gemeinschaftsstiftend wirken. Trotz der jugendkulturellen Prägungen vieler islamistischer Angebote geht es in den jeweiligen ideologischen Deutungsangeboten im Kern nicht um einen Konflikt von muslimischen Jugendlichen und der Gesellschaft, sondern um einen Konflikt von Muslim*innen und einer nichtmuslimischen Gesellschaft. Als übergreifende Deutung für gesellschaftliche Entwicklungen sowie als kognitive und emotionale Bewältigungsstrategien im Umgang mit individuellen oder gesellschaftlichen Verunsicherungen und Krisensituationen vermittelt dieses Weltbild unabhängig von Alter und Lebensphase vermeintliche Orientierung und konkrete Handlungsanweisungen für den Alltag.
Was bedeutet das für die Präventionsarbeit?
In der Forschung herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Radikalisierungen sehr individuell verlaufen und durch viele unterschiedliche Faktoren beeinflusst werden. Unterschieden wird dabei auch zwischen Radikalisierungen, die vor allem auf kognitiver Ebene zu beobachten sind, beispielsweise in der Übernahme von dichotomen Welt- und Feindbildern oder rigiden Religionsverständnissen, und verhaltensbezogenen Radikalisierungen, die sich in der Akzeptanz oder Anwendung von Gewalt ausdrücken können.
Nicht erfasst wird damit allerdings die Vielschichtigkeit der psychologischen, ideologischen und sozialen Angebote, die von unterschiedlichen islamistischen Strömungen mit ihren jeweiligen religiösen, lebensweltlichen und gesellschaftlichen Schwerpunkten und Organisations- und Handlungsformen formuliert werden. Islamismus und islamistische Organisationen in Deutschland lassen sich immer weniger als einheitliches Phänomen beschreiben, das ein gleichförmiges Set an Bedürfnissen und Motivationen der jeweiligen Anhänger*innen bedient. Noch vielschichtiger wird das Bild, wenn der Blick nicht nur auf die Jugendphase beschränkt bleibt, sondern auch ältere Personengruppen in diesen Szenen mitberücksichtigt. Auch in dieser Hinsicht macht es einen Unterschied, ob die Bindungen an eine islamistische Strömung beispielsweise bereits im Kindesalter familiär vermittelt und im Erwachsenenalter aufrechterhalten wurden, oder ob sich ein 35-Jähriger aufgrund einer persönlichen Krise – als subjektiver biografischer „Neuanfang“ im Bruch mit seinem vorherigen Leben – einer islamistischen Strömung zuwendet.
Auffallend sind dabei die Parallelen zum Bereich des Rechtsextremismus, in dem sich eine ähnliche Auffächerung der Strömungen und der darin zum Ausdruck kommenden individuellen Motivlagen nachzeichnen lässt. Auch hier gilt es beispielsweise, zwischen Anhänger*innen der Bewegung der völkischen Siedler und etwa der Rechtsrockszene zu unterscheiden, wenn es darum geht, die Attraktivität dieser Szenen nachzuvollziehen und entsprechende Präventionsangebote zu entwickeln. So haben auch Forschungen und Medienberichte über die Querdenker-Bewegung dazu beigetragen, idealtypische Annahmen über rechtsextreme Biografien zu hinterfragen und die Vielschichtigkeit der ideologischen Angebote wahrzunehmen, die sich zwar als rechtsextrem beschreiben lassen, sich in ihrer jeweiligen Funktion für die betreffenden Individuen aber unterscheiden.
Für alle Ansätze zur Prävention von islamistischen Orientierungen und Einstellungen verbindet sich mit diesem Befund die Herausforderung, ihre Angebote und Maßnahmen nicht von einem abstrakten Phänomen „Islamismus“ her zu denken („Was ist das Islamistische bzw. das ‚Problematische‘ an der Strömung XYZ?“), sondern von den konkreten Bedürfnissen und Motivationen derjenigen Personen auszugehen, die sich von den Angeboten dieser – und eben dieser und nicht einer anderen – Strömung angesprochen fühlen (oder angesprochen fühlen könnten). Für die Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit, die sich nicht zuletzt aus sozialarbeiterischen oder psychotherapeutischen Perspektiven mit einzelnen Fällen beschäftigt, erfordert dies, spezifische Motivlagen noch mehr in den Blick zu nehmen, die hinter Hinwendungen zu neueren islamistischen Strömungen stehen können. Für die universelle Prävention – die sich gerade nicht an einzelne Personen wendet, die bereits mit bestimmten Szenen in Kontakt stehen, sondern an allgemeine, weitgehend unbestimmte Zielgruppen – ist die Herausforderung dagegen umso größer: Hier gilt es, die Bedeutung der unterschiedlichen Handlungsfelder hervorzuheben, in denen in den vergangenen Jahren Präventionsansätze zum Beispiel in der Schule umgesetzt wurden. Diese reichen von der politischen und religiösen Bildung über Ansätze der Antidiskriminierungsarbeit, der geschlechtersensiblen Pädagogik bis hin zu demokratiefördernden Angeboten in der Elternarbeit und berufsbildenden Maßnahmen, die Ressourcen stärken und alternative Bewältigungsstrategien für individuelle Lebenslagen fördern. Je vielschichtiger die den einzelnen Radikalisierungsprozessen zugrunde liegenden Motivlagen ausfallen, desto breiter und vielfältiger sollten die Ansätze und Methoden sein, die auf diese Bedürfnisse frühzeitig reagieren, um solchen Prozessen vorzubeugen.
Anmerkungen
[1] Till Baaken, Friedhelm Hartwig und Matthias Meyer sprechen in diesem Zusammenhang von einem Cluster islamistischer Akteur*innen auf YouTube, der von den restlichen YouTube-Kanälen weitgehend unabhängig sei. Durch die Algorithmen der Plattform werden die Inhalte innerhalb des Clusters – unabhängig von der konkreten inhaltlichen Ausrichtung der einzelnen Kanäle – kanalübergreifend verbreitet. Eine Ausnahme bilden die reichweitenstarken Kanäle „Macht‘s Klick?“ und „Botschaft des Islam“, die mit ihren Inhalten eine Brücke in den Mainstream bilden und damit auch Zugänge zu islamistischen Clustern eröffnen (Baaken et al. 2020: 17–19).
[2] Werner Schiffauer beschreibt das Vereinsleben der IGMG bis zu Beginn der 2000er Jahre als oft „dörflich-familiär“, Neuankömmlinge seien in dieser Zeit oft misstrauisch begegnet worden (Schiffauer 2010: 330). Dabei spielte auch das Selbstverständnis als „Heimatverein“ bzw. als landsmannschaftliche Gemeinschaft eine Rolle. Die Geschichte der IGMG in Deutschland ist zugleich ein Beispiel für den ideologischen und strukturellen Wandel einer Organisation, der durch generationelle Veränderungen angestoßen wird.
Alle Literaturangaben finden Sie in der Originalpublikation.
Der Autor
Dr. Götz Nordbruch ist Islam- und Sozialwissenschaftler und Mitbegründer des Vereins ufuq.de. Für ufuq.de leitet er die Angebote des Vereins im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).