Recht behalten ist auch keine Lösung – Ambiguitätstoleranz in der Islamismusprävention | Kommentar von Michaela Glaser

In der pädagogischen Praxis gehe es zwar einerseits um das Aushalten von Positionen, welche der eigenen widersprechen (…). Gleichzeitig bestünde aber die Notwendigkeit, zu verdeutlichen, dass mit der Abwertung Anderer die Grenzen der Toleranz erreicht seien.

Im Rahmen der vergangenen Beiratssitzung von KN:IX wurde unter anderem die Rolle von Ambiguitätstoleranz in der pädagogischen Arbeit, insbesondere in der universellen Islamismusprävention diskutiert. Als Basis für die Diskussion diente der Text Recht behalten ist auch keine Lösung: Ambiguitätstoleranz in der Islamismusprävention von Dr. Jochen Müller (ufuq.de), der im KN:IX Report 2021 erschienen ist.[1]

Insgesamt wurden drei Artikel des KNIX Report 2021 (PDF) durch Mitglieder des Beirats kommentiert:

  • „Legalistischer Islamismus“ und „Politischer Islam“ Herausforderungen für die Präventionspraxis – verfasst von Jamuna Oehlmann (BAG RelEx) und kommentiert von Ramses Michael Oueslati (Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg)
  • Recht behalten ist auch keine Lösung – Ambiguitätstoleranz in der Islamismusprävention – verfasst von Dr. Jochen Müller (ufuq.de) und kommentiert von Michaela Glaser (Berghof Foundation Berlin, Frankfurt University of Applied Sciences)
  • Zum Umgang mit Hochrisikoklientel in der selektiven und indizierten Prävention – verfasst von Thomas Mücke und Julia Handle (Violence Prevention Network) und kommentiert von Prof. Peter Neumann (King’s College London)

 

Grundlegend für den Beitrag von Jochen Müller ist die Annahme, dass insbesondere durch die Wirkung gesellschaftlicher Bedingungen, die viele Menschen als verunsichernd wahrnehmen, Angebote vermeintlich einfacher Wahrheiten kursierten und einen Hauptfaktor für die Attraktivität extremistischer Bewegungen und die Zunahme gesellschaftlicher Polarisierungen spielten. Gerade dann aber, so die These, solle pädagogische Arbeit der Versuchung widerstehen, ihrerseits Anspruch auf „Wahrheiten“ zu stellen, sondern müsse vielmehr lernen, mit Widersprüchen und Ambiguitäten umzugehen. Das beinhalte auch, von eigenen gesellschaftlichen Wertvorstellungen abweichende Positionen Jugendlicher nicht vorschnell abzulehnen oder zu verurteilen, sondern die Existenz unterschiedlicher Normen und Perspektiven grundsätzlich anzuerkennen und diese so weit wie möglich miteinander ins Gespräch zu bringen.

 

Kommentar von Michaela Glaser

Michaela Glaser (Berghof Foundation Berlin, Frankfurt University of Applied Sciences) teilt in ihrem Kommentar die Kritik an einem verkürzten, hierarchischen Verständnis von Toleranz, das abweichende Perspektiven und Wertvorstellungen lediglich dulden, in der Regel aber als minderwertig betrachten würde. Demgegenüber beinhaltet Ambiguitätstoleranz die gleichberechtigte Anerkennung verschiedener Perspektiven. Wie im Beitrag benannt, sind damit zugleich die Grenzen der Toleranz bestimmt: Sie sind dort erreicht, wo eben diese Gleichberechtigung von Standpunkten und Lebensentwürfen zurückgewiesen werde. Das bedeute aber auch, dass auch in diesem Toleranzverständnis bestimmten Wertorientierungen, indem sie die Grundlage toleranten Miteinanders bildeten, ein anderer Geltungsanspruch zukomme – und zukommen müsse – als anderen.

Hinsichtlich der im Text diskutierten Umsetzung von Ambiguitätstoleranz in der pädagogischen Praxis stellt sich für Glaser deshalb die Frage, was mit der suggerierten Anerkennung auch solcher Positionen gemeint sei, welche die im Text selbst gezogenen Grenzen der Toleranz (Abwertung, Anti-Pluralismus, absolute Wahrheitsansprüche) überschreiten. Hier sei wichtig zu konkretisieren, ob dies bedeute, auch ebensolche Haltungen zu tolerieren, oder ob gemeint sei, die Person zu akzeptieren, ihre Haltung jedoch zu kritisieren, sofern sie sich gegen demokratische und menschenrechtliche Grundprinzipien richte. Denn eine Markierung dieser Grenzen, so Glaser, müsse auch für die pädagogische Praxis gelten, da ein Verständnis von Toleranz, das solche Grenzen nicht ziehe, seine eigene Basis untergrabe.

In Bezug auf das im Text angeführte Beispiel männlicher Jugendlicher, die traditionell-patriarchale Geschlechterrollen vertreten stimmt Glaser zu, dass solche Vorstellungen weiterhin in den meisten Kulturkreisen dominierten. Daraus folge aber nicht, dass diese von allen Angehörigen dieser Kulturkreise unterschiedslos befürwortet würden. Dominante Normen in einer Kultur seien vielmehr immer auch Resultat interner Machtverhältnisse, was durch den bloßen Blick auf „kulturelle Differenz“ Gefahr laufe, übersehen zu werden. Daher sei es zwar anzuerkennen, wenn jemand für sich z.B. ein traditionelles Rollenverständnis vertrete, jedoch nicht wenn jemand daraus den Anspruch ableite, dass dieses Verständnis auch für andere Angehörige „seiner“ oder „ihrer“ kulturellen Gruppe bindend sei. Pädagog*innen wären deshalb auch gefordert, nicht nur „kultureller Verschiedenheit“ (z. B. in Bezug auf Geschlechterrollenvorstellungen) Raum zu geben, es gelte vielmehr Räume zu schaffen, in denen unterschiedliche Positionen, die unter Jugendlichen geteilter kultureller Herkunft zu diesen Normen existieren, gleichermaßen artikuliert werden können.

Auch von anderen Beiratsmitgliedern wurde hier angemerkt, dass eine Konkretisierung notwendig sei, wann es sich um ein traditionelles, komplementäres Geschlechterverständnis handle und wann um frauenfeindliche Positionen – wobei zu bedenken sei, dass hier leicht Vorurteile (beispielsweise von der unterdrückten muslimischen Frau) reproduziert werden könnten.

Vor allem wurde die Frage nach den Grenzen der Ambiguitätstoleranz debattiert. In der pädagogischen Praxis gehe es zwar einerseits um das Aushalten von Positionen, welche der eigenen widersprechen, da man mit einem rigiden Bestehen auf die Richtigkeit der eigenen Position im Konflikt mit anderen Sichtweisen in der Regel wenig erreiche.  Daher solle in diesem Kontext die Spannweite der Toleranz weiter sein als in der politischen Debatte. Gleichzeitig bestünde aber die Notwendigkeit, zu verdeutlichen, dass mit der Abwertung Anderer die Grenzen der Toleranz erreicht seien. Der Autor betonte, dass auf der einen Seite pädagogische Interventionen und Konfrontationen selbstverständlich erforderlich seien, wenn „rote Linien“ überschritten würden. Auf der anderen Seite sei es aber gerade nicht möglich, solche „roten Linien“ sowie Formen der Intervention genau zu definieren. Vielmehr seien diese immer im Kontext der jeweiligen Situation zu betrachten. Grundsätzlich plädiere er dafür, die Linien und Grenzen möglichst weit zu ziehen und Ambiguitäten auszuhalten, um Gespräch und Auseinandersetzung zu ermöglichen. Hier die Balance zu finden – da waren sich die Beiratsmitglieder einig – sei insbesondere vor dem Hintergrund aktueller polarisierender Auseinandersetzungen eine zentrale Herausforderung für Fachkräfte.

 

[1] Der vorliegende Kommentar bezieht sich auf eine frühere Textversion.

 

 

Am 28. Februar wurde der Kommentar von Ramses Michael Oueslati (Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg) veröffentlicht und ab kommender Woche finden Sie Prof. Peter Neumanns (King’s College London) Kommentar ebenfalls hier in unserem News-Blog.

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Die IFAK e.V. – Verein für multikulturelle Kinder- Jugendhilfe und Migrationsarbeit ist eine Selbstorganisation von Zugewanderten und Einheimischen. Sie verfügt über eine 50-jährige Erfahrung im Bereich der professionellen, transkulturellen, generationsübergreifende Arbeit in den verschiedensten Bereichen der Kinder- u. Jugendhilfe sowie der Migrations- und Flüchtlingsarbeit und ist im Paritätischen organisiert. Als einer der ersten fünf bundesweit agierenden Organisationen im Themenfeld Islamismus, hat sie die Präventionslandschaft seit 2012 aktiv mitgestaltet und ihre Expertise mit den vielfältigen gesellschaftlichen und fachlichen Herausforderungen stetig weiterentwickelt. Die IFAK e.V. ist eine der fünf Gründungsträger*innen der BAG RelEx. 

Themenzuständigkeit im Verbund:

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  • Diversity – Ansätze in der Präventionsarbeit
  • Psychische Erkrankungen bei Klient*innen in der Distanzierungsarbeit
  • (Weiter-) Entwicklung Jugendhilfestandards in der Präventionsarbeit

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