In den vergangenen Tagen haben verschiedene Medienberichte, u. a. im Berliner Tagesspiegel, der FAZ, der WELT und in der NZZ, scharfe Kritik an der Praxis der Islamismusprävention in Deutschland und dem Gros der mit öffentlichen Mitteln finanzierten zivilgesellschaftlichen Träger geübt, die bundesweit pädagogisch zu Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus in Schule und Jugendarbeit arbeiten. Die Darstellungen in diesen Beiträgen sind in großen Teilen falsch, halb wahr und irreführend. Sie schaden nicht nur dem Ansehen der infrage gestellten Träger, sondern vor allem der Sache selbst – nämlich der pädagogischen Auseinandersetzung mit Fragen zu Islam, antimuslimischem Rassismus und der Islamismusprävention.
Der an die Adresse der im Themenfeld aktiven pädagogischen und präventiven Praktiker*innen gerichtete Vorwurf ist seit vielen Jahren der gleiche: „Grüne und Linke“ sowie „Lobbyorganisationen“ und „muslimische NGOs“, so heißt es, würden sich der Realität in den Schulen und Klassenzimmern verweigern. Diese „Realität“ zeichnen die Frankfurter Ethnologin Susanne Schröter in der NZZ, Michael Hammerbacher vom Berliner Verein DEVI – Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung e. V. oder die in einigen Beiträgen zitierte Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner Balcı in den düstersten Farben: „Islamistische Schüler*innen“ setzen muslimische und nichtmuslimische Mitschüler*innen unter Druck, die anders denken als sie, sich anders kleiden oder im Ramadan nicht fasten wollen. „Wer nicht spurt“, so heißt es da, würde als „ehrlos beschimpft, gemobbt und drangsaliert“. Dabei sprechen sie von „konfrontativer Religionsbekundung“ und fassen darunter Fragen und Konflikte, die sich im Schulalltag tagtäglich stellen und in denen es, so behaupten etwa Schröter und Hammerbacher mit Verweis auf rechtsextremistische Strategien aus den 1990ern, islamistischen Jugendlichen um die Errichtung „befreiter Zonen“ ginge. Wer diese Phänomene und Entwicklungen kritisch anspreche – der Mord am französischen Lehrer Samuel Paty sei da laut DEVI e. V. in einem offenen Brief an die Berliner Bildungssenatorin lediglich die „Spitze eines Eisbergs“ – würde, so Schröter in der NZZ, von eben jenen Kreisen und Organisationen als rassistisch denunziert und „passend zum linksintellektuellen Zeitgeist“ zum Schweigen gebracht.
Tatsächlich sind all diese (und viele andere) Fragen und Konflikte aus dem Schulalltag – darunter auch religiöser Konformitätsdruck oder religiös begründetes Mobbing – den zivilgesellschaftlichen Trägern außerschulischer pädagogischer Angebote und Präventionsarbeit gut bekannt. Sie werden entgegen den Behauptungen keineswegs geleugnet, verharmlost oder ignoriert – gerade, weil sie vielen Lehrer*innen, die eine der wesentlichen Zielgruppen dieser Träger darstellen, große Probleme bereiten. Die Phänomene werden von den meisten Trägern allerdings auch aus anderen Perspektiven, z. B. der von Jugendlichen, betrachtet und bewertet. Das führt im Ergebnis zu einer anderen pädagogischen und präventiven Praxis, die Stigmatisierung muslimischer Jugendlicher möglichst vermeidet und damit ein weiteres Anfeuern möglicher Radikalisierungsprozesse verhindern soll. Denn entgegen anderslautenden Beteuerungen geht es de facto in allen Beiträgen von Vertreter*innen dieses Ansatzes ausschließlich um Muslim*innen.
Zum Dreh- und Angelpunkt der Forderungen nach erhöhter Wachsamkeit gegenüber Islamismus an Schulen und der damit einhergehenden Kritik an der pädagogischen und präventiven Trägerlandschaft ist zuletzt der Begriff von der „konfrontativen Religionsbekundung“ geworden. Ihm stellen die Kritiker*innen den Begriff der „Grundrechtsklarheit“ an die Seite, die es Pädagog*innen erleichtern würde, einen Umgang mit religiös konnotierten Konfrontationen zu finden. Dabei ist der Begriff der „konfrontativen Religionsbekundung“ kein wissenschaftlich oder empirisch abgesicherter, sondern einer, der vor allem dem Bauchgefühl entspringt. Denn was jemand, z. B. ein Lehrer oder eine Lehrerin, als „konfrontativ“ im Weiteren und als „konfrontative Religionsbekundung“ im engeren Sinne wahrnimmt, ist äußerst subjektiv und hat nicht zuletzt mit eigenen Annahmen, Erfahrungen und der eigenen Sozialisation zu tun. Das bedeutet nicht, dass Grenzüberschreitungen unter Bezugnahme auf Religion nicht zu sanktionieren seien – nur erfolgt die Sanktionierung nicht wegen der Religion, sondern aufgrund der jeweils überschrittenen Grenze, z. B. wenn es um sexistische Beleidigung und Repression geht. Auch wenn – um ein anderes geläufiges Beispiel zu nennen – einige Jugendliche im Ramadan andere Jugendliche unter Druck setzen, weil diese nicht „richtig“ fasten, ist eine Intervention selbstverständlich erforderlich. Aber diese Intervention stellt nicht die Frage nach Islam oder Islamismus, sondern erfolgt auf der Grundlage des Regelverstoßes, über den man mit Jugendlichen meist sehr gut sprechen kann: Wie gehen wir gemeinsam damit um, wenn einige nicht damit einverstanden sind, was andere tun oder lassen?
Diese Unterscheidung ist eine ums Ganze. Denn wenn in Medienbeiträgen oder der „Bestandsaufnahme konfrontativer Religionsbekundungen in Neukölln“ von DEVI e. V. an Neuköllner Schulen oder auch in den Warn- und Hilferufen einiger Lehrer*innenverbände nach dem Mord an Samuel Paty bei allen möglichen religiös oder auch nur vermutlich religiös konnotierten Positionen („Ich schwör‘ auf Koran“ /„Das ist haram“) und Grenzüberschreitungen von Jugendlichen auf Islamismus oder gar auf eine islamistische Strategie zur Errichtung „befreiter Zonen“ geschlossen und das in einem Atemzug mit dem „IS“ genannt wird, dann handelt es sich nicht nur um einen Generalverdacht, sondern tatsächlich um Rassismus. So ist Sexismus – um beim Beispiel zu bleiben – wie andere Formen von Diskriminierung und Gewalt pädagogisch als Sexismus zu bewerten und nicht als Ausdruck spezifischer Religiosität oder gar als Anzeichen religiös begründeter Ideologisierung, nur weil es sich um Jugendliche aus muslimischen Familien handelt. Es wird ja auch sonst niemand wegen sexistischer Verhaltensweisen des Rechtsextremismus verdächtigt, nur weil reaktionäre Geschlechterbilder zu dessen Weltbild gehören. Sexismus und Patriarchat sind kein „Islam-Problem“, sondern kommen bekanntlich weltweit und in den „besten Familien“ vor, z. B. in solchen mit eher konservativem oder traditionalistischem Weltbild, die oft wenig mit Diversität und Gendersternchen anfangen wollen.
Mit der Gefahr einer pauschalen Stigmatisierung von Zielgruppen ist eine in Fachkreisen viel diskutierte und grundlegende Widersprüchlichkeit von Pädagogik und universeller Prävention berührt. In den hier diskutierten Medienberichten und der „Bestandsaufnahme“ ist dieser Widerspruch allerdings nicht einmal der Rede wert – stattdessen konzentrieren sie sich darauf, die Realität und die Bedeutung der Erfahrung von Diskriminierung und Rassismus für das Verhalten von Jugendlichen herunterzuspielen. Stattdessen wird hier buchstäblich jede vermeintlich oder tatsächlich in religiöser Weise erscheinende Problematik in die Nähe von Islamismus gerückt.[1] Es geht also nicht um die Frage, ob zivilgesellschaftliche Träger der Präventionsarbeit problematische und herausfordernde Verhaltensweisen von (muslimischen) Jugendlichen tatsächlich negieren oder ignorieren würden, das tun sie nicht, sondern um deren Bewertung. Denn das ist die Erfahrung aus vielen Jahren Praxis in der Islamismusprävention: Es gibt all jene Fragen und Konflikte mit muslimischen Jugendlichen, die problematisches Verhalten mitunter religiös begründen, obwohl sie meist gar nicht besonders religiös sind – mit Islamismus haben sie in aller Regel nichts zu tun. Und das gilt auch, wenn es zum Beispiel um Beten in der Schule (selten), Sexualkunde und Evolutionstheorie (kommt vor) oder das Fasten im Ramadan (häufiger) geht. Pädagogische Irritation, Intervention, Konfrontation und Sanktionierung erfolgen hier dann nicht wegen der Religion, sondern ausschließlich wegen etwaiger Regelverstöße.
Vor diesem Hintergrund müssen sich außerschulische Träger und die Lehrer*innenausbildung sehr viel mehr als bisher um die Fragen und Konflikte an zunehmend heterogen zusammengesetzten Schulen kümmern und Pädagog*innen in ihrer Arbeit unterstützen – da ist sicher noch viel Luft nach oben. Die bestehenden Probleme und Konflikte aber auf Islam (= alle Muslim*innen) oder gar auf Islamismus zu beziehen, wie es in den oben skizzierten Positionen, Forderungen und Bestandsaufnahmen in einem Atemzug geschieht, leistet Stigmatisierungen Vorschub, verschärft die Polarisierung, gefährdet den Schulfrieden und kann im Einzelfall selbst Radikalisierungsprozesse fördern.
Pädagogisch gesehen wäre dies zudem ein Armutszeugnis, denn es handelt sich bei den Jugendlichen, die Probleme machen, in der Regel auch um Jugendliche, die Probleme haben. So kommen fast alle Klagen von Lehrer*innen aus so genannten Brennpunktschulen, d. h. die Jugendlichen kommen zum großen Teil aus prekären sozialen Verhältnissen und Elternhäusern. Da stauen sich gleich eine ganze Reihe von Benachteiligungen, Entwürdigungen und Diskriminierungserfahrungen auf. Für viele mag es da in jugendlichen Suchprozessen naheliegen, Stärke, Anerkennung und Selbstwirksamkeit aus einer von ihnen dazu eingesetzten Religion zu ziehen. Solche Lebensverhältnisse, die daraus sich ableitenden Perspektiven und – teils höchst problematischen, weil z. B. aggressiven – Verhaltensweisen mit in den Blick zu nehmen, ist Voraussetzung gelingender präventiver, pädagogischer und inklusiver Arbeit. Sie hingegen auf die Religion oder eine vermeintliche Ideologie der Schüler*innen zu reduzieren (meist wird dabei Religion und Ideologie gleichgesetzt), sich im Weiteren für spezifische Bedarfe und Motivlagen der Zielgruppe nicht zu interessieren und eigene Verantwortung wahlweise auf den örtlichen Imam oder den Staatsschutz abzuschieben, ist – so gewaltig die Aufgabe angesichts mangelnder Ressourcen auch erscheinen mag – keine pädagogische Option.
Das hatte wohl auch der „Erfinder“ des Begriffs der „konfrontativen Religionsbekundung“ im Sinn. Kurt Edler schrieb dazu: „Ideologie kann erst dort ihre Wirkung entfalten, wo der junge Mensch eine Prädisposition mitbringt; sie liegt oft in der Störung der Beziehung zu den Eltern, einem Schulversagen oder einer generellen Frustration über die Lebensverhältnisse. Diskriminierungserfahrungen an der Schule oder im Lebensumfeld können für Hasskonstrukte empfänglich machen. Schulen müssen sich der Tatsache bewusst sein, dass ein schlechtes Binnenklima in ihrem Haus indirekt radikalisierungsfördernd wirken kann – so wie es auch andere Formen selbstschädigenden Verhaltens begünstigen kann.“[2] Dieser Gedankengang taucht in den aktuellen Überlegungen zum Umgang mit „konfrontativer Religionsbekundung“ allerdings nicht mehr auf.
Wenn aber solche Erfahrungen von Jugendlichen ignoriert werden, fallen sie als Ansatzpunkte einer pädagogischen Arbeit aus, die auf Basis grundlegender Anerkennung der Person sowie der Vermittlung der Erfahrung von selbstverständlicher Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit (z. B. in demokratischer Schule) den Raum für (selbst)kritische Reflexionen erst eröffnet. Statt sich eigener Kompetenzen zu bedienen, um Konfliktsituationen (sozial-)pädagogisch zu lösen, sind Lehrkräfte angehalten, diese zu melden. Die Betonung von „Grundrechtsklarheit“ als vermeintlich Orientierung gebender „Lösung“ ist dann zwar folgerichtig, kann aber die gewünschte Handlungsklarheit nur suggerieren, z. B., wenn es darum geht, zwischen den Grundrechten negativer und positiver Religionsfreiheit zu vermitteln. Tatsächlich wirkt der Bezug auf Grundrechte hier eher wie eine Kriegserklärung – nicht, weil Grundrechte in einer migrantischen, heterogenen und diversen Klasse nicht gelten würden. Sondern weil hier – so dürften es viele Jugendliche lesen – „unsere“ Grundrechte gegen „eure“ Religion (= Ideologie) ins Feld geführt würde. Unschwer zu sehen, dass damit keiner Lehrkraft geholfen ist – im Gegenteil. Damit – um es noch einmal zu betonen und gewollte Missverständnisse auszuschließen – ist nicht gemeint, dass Lehrer*innen keine klare Haltung gegenüber Grenzverletzungen und Regelverstößen einnehmen sollten, die ggf. auch Konfrontationen und Sanktionen umfasst.
Tatsächlich gibt es eine gelingende Praxis im Umgang mit schwierigen, auch religiös begründeten Positionen und Verhaltensweisen „muslimischer“ (und anderer) Schüler*innen ja bereits – nicht zuletzt an Neuköllner Schulen wie dem Campus Rütli. Auch dies ignoriert die bisher einseitig geführte Debatte. Dabei kann man hier die Lehrerinnen und Lehrer fragen, wie sie mit palästinensisch-stämmigen Jugendlichen eine Reise nach Palästina und Israel vorbereitet und durchgeführt haben, wie sie das Fasten im Ramadan begleiten, über Geschlechterrollen sprechen oder mit Schweigeminuten anlässlich von Terroranschlägen umgehen. Ihre Erfahrungen zeigen, dass es geht. Das erfordert Zeit und Raum, sich auf die Jugendlichen einzulassen, ihnen Teilhabe zu ermöglichen, sich für ihre Perspektiven zu interessieren und auch schwierigen Positionen Raum zu geben, um sie hinterfragen zu können. Im Schulalltag sind Zeit und Raum knappe Ressourcen. Darum gilt es zu kämpfen, nicht gegen die Jugendlichen.
Und noch etwas: Anlaufstellen und zivilgesellschaftliche Träger, an die sich pädagogische Fachkräfte mit Fragen und Konflikten im Themenfeld von Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus wenden können, gibt es in Berlin bereits. Auch eine Vielzahl erfahrener Anlauf- und Beratungsstellen für vermutete Fälle von Islamismus gibt es in Berlin und bundesweit. Das heißt nicht, dass es nicht noch mehr davon geben könnte und dass sich ihre Arbeit und ihre Sichtbarkeit nicht noch verbessern ließen. Darüber nachzudenken, kann die aktuelle Diskussion Anlass geben. Eine Anlauf- und Dokumentationsstelle, deren Haltung und Ansatz allem bisherigen Anschein nach und gemessen an der dazu entfachten politischen und medialen Kampagne eher dazu angetan ist, Polarisierung und Segregation an Schulen und in der Gesellschaft noch zu befördern, braucht es hingegen nicht.
[1] In der „Bestandsaufnahme Konfrontative Religionsbekundungen in Neukölln“ von DEVI e. V. werden etwa Fragen zu Essgewohnheiten, Mädchen, die „nur“ Mutter werden wollten oder die Äußerung einer Lehrperson „Wenn dann nicht einmal Jungen mit Jungen nackig duschen wollen, sondern eine Unterhose anhaben…“ aufgeführt (S. 16).
[2] Edler, Kurt (2021): Grundrechtsklarheit. Pädagogik in Zeiten der Identitätspolitik, böll.brief Teilhabegesellschaft Nr. 15, S.10 https://www.boell.de/sites/default/files/2021-02/b%C3%B6ll.brief%20TG15%20Grundrechtsklarheit.pdf?dimension1=division_bw
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