Podcast KN:IX talks

Folge #05 | Religion – Ressource oder Herausforderung in der Prävention?

Praxiseinblicke in die Deradikalisierungsarbeit im Strafvollzug

In unserer fünften Folge von KN:IX talks beschäftigen wir uns mit der Bedeutung von Religion in der Deradikalisierungsarbeit im Justizkontext, das heißt in der Präventionsarbeit mit Menschen, die inhaftiert oder auf Bewährung sind. Dabei sprechen wir mit unserem Gast Solomon Caskie unter anderem darüber, welchen Stellenwert religiöse Themen in der Beratung im Justizkontext haben und wie seiner Ansicht nach Religion als wichtige Ressource für die Klient*innen wirken kann.

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Sie wollen mehr zur Rolle der Religion bei der Hinwendung zum religiös begründeten Extremismus erfahren? Im Rahmen von KN:IX hat Dr. Johannes Saal eine Analyse zu diesem Thema verfasst. Die Publikation können Sie hier herunterladen.

Im Podcast zu Gast

Solomon Caskie studierte Islamwissenschaft und VWL an der Georg-August Universität zu Göttingen sowie Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens mit den Fachbereichen Geo- und Sicherheitspolitik an der Philipps-Universität Marburg. Nach beruflichen Aufenthalten in Ägypten und dem Königreich Saudi-Arabien ist er gegenwärtig Leiter des Präventions- und Deradikalisierungsprojekts Kick-off in Trägerschaft der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. (TGS-H) in Kiel.

Die TGS-H ist eine Mitgliedsorganisation der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx).

Transkript zur Folge

(O-Ton, Musik im Hintergrund)

 

Solomon Caskie: Ich glaube, die positiven Effekte, die man erwirken kann, wenn Religion als Ressource entwickelt ist und wirklich dann ein starker positiver Faktor im Leben des Klienten, der Klientin etablieren kann, dann finde ich es zu groß, zu wichtig, um es nicht zu probieren.

 

(Musik im Hintergrund)

 

Charlotte Leikert (Intro KN:IX talks): Herzlich Willkommen zu KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. Bei KN:IX talks sprechen wir über das, was die Präventions- und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international beschäftigt. Für alle, die im Feld arbeiten oder immer schon mehr dazu erfahren wollten: Islamismus, Prävention, Demokratieförderung und politische Bildung. Klingt interessant? Dann bleiben Sie jetzt dran und abonnieren Sie unseren Kanal. KN:IX talks – überall da, wo es Podcasts gibt.

 

(Musik im Hintergrund)

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Herzlich willkommen, schön, dass Sie wieder eingeschaltet haben. Mich kennen Sie bereits aus der ersten Folge, mein Name ist Charlotte Leikert und heute hören Sie auch meine Kollegin Ulrike Hoole. KN:IX talks ist ein gemeinsames Projekt von ufuq.de, Violence Prevention Network und unserem Träger, der BAG RelEx. In dieser Staffel von KN:IX talks dreht sich alles um die Rolle der Religion. Wir sprechen heute mit Salomon Caskie über die Bedeutung von Religion im Justizkontext, das heißt in der Präventionsarbeit mit Menschen, die im Gefängnis sitzen. Dabei geht es unter anderem darum, welchen Stellenwert religiöse Themen in der Beratung haben und wie Religion als Ressource wirken kann. Lieber Solomon, ich freue mich, dass du dir heute die Zeit genommen hast, um mit uns zu sprechen.

 

Solomon Caskie: Moin! Ja, herzlichen Dank für die Einladung. Ich freue mich auch hier zu sein.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Bevor wir gleich mit dem Gespräch loslegen, möchte ich dich unseren Zuhörer*innen kurz vorstellen. Aktuell leitest du das Präventions- und Deradikalisierung Projekt Kick-off der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein, kurz TGS-H. Studiert hast du Islamwissenschaften und VWL in Göttingen sowie Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg. Vor deiner Zeit bei Kick-off warst du beruflich in Ägypten und Saudi-Arabien. Neben Kick-off setzt die TGS-H noch weitere Projekte um, sowohl im Bereich der Radikalisierungsprävention als auch darüber hinaus. Und genauso wie die Träger von Katrin Benzenberg und Susanne Wittmann, mit denen wir in der ersten Folge von KN:IX talks gesprochen haben, ist auch die TGS-H eine Mitgliedsorganisationen der BAG RelEx.

So, das jetzt aber genug als Einleitung. Lass uns doch direkt loslegen mit der ersten Frage. Und zwar würde ich dich einfach bitten, deine Arbeit noch mal so grob zu skizzieren.

 

Solomon Caskie: Gerne. Mein Projekt Kick-off gibt es seit 2017. Ich habe ein sehr diverses Team mit den unterschiedlichsten Hintergründen. Wir haben Sozialarbeiter*innen dabei, wir haben Religionswissenschaftler, wir haben Islamwissenschaftler dabei, wir sind zu fünft und decken auch tatsächlich eine ganze Reihe von unterschiedlichen Sprachen ab.

Was wir nun genau tun? Ganz konkret. Auf der einen Seite sind das präventiv-pädagogische Angebote, zum Beispiel Gruppenangebote. Wir haben eine ganze Reihe von Fortbildungen, die wir anbieten und die Bedienstete des Justizbereich in Schleswig-Holstein weiterzubilden. Eine weitere Säule von uns ist natürlich auch die Ausstiegs- und Distanzierungarbeit. Da geht es dann eher um die Arbeit mit bereits ideologisch Radikalisierten Inhaftierten oder Proband*innen. Das sind unsere Beratungsfälle.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Jetzt würde mich mal interessieren, wer sind denn so eure Klienten und Klientinnen? Also was für eine Gruppe an Menschen kann man sich da so als Zuhörer*in jetzt vorstellen?

 

Solomon Caskie: Wir haben eine absolut gemischte Runde – Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, Jugendliche. Wir haben Klient*innen, die sich in Schleswig-Holstein oder in Deutschland radikalisiert haben. Wir haben solche, die das im Ausland getan haben. Das ist absolut unterschiedlich.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Wieso kommen denn die Menschen zu euch in die Beratung? Also wie kommen die Menschen zu Kick-off?

 

Solomon Caskie: Einige Klient*innen radikalisieren sich vor der Haft. Eventuell steht eine Straftat in Folge der Radikalisierung. Somit wissen natürlich Gerichte, JVA (Justizvollzugsanstalten, Anm. d. Redaktion) sofort. Hier ist möglicherweise eine radikalisierte Person. Da wäre es von Interesse, möglicherweise einen Ausstieg zu probieren. In diesem Moment kommen natürlich die, die JVA auf uns zu und fragen an und natürlich muss das auch mit der jeweiligen Person, mit dem jeweiligen Klienten abgesprochen werden, dass da auch die Bereitschaft besteht. Das ist ganz wichtig. Es kann niemand in irgendeiner Art und Weise entfernt werden, distanziert werden von einem Gedankenbild, von einer Ideologie ohne das selber zu wollen. Das ist vielleicht die Grundprämisse. Auf der anderen Seite kann es natürlich sein, dass während der Haft oder während der Bewährung die jeweiligen Betreuenden das Gefühl haben, hier verändert sich irgendwas, möglicherweise radikalisiert sich die Person. Und vielleicht habt ihr mal Lust mit der Person zu sprechen und auch dann kommen wir gerne vorbei und führen erst Gespräche oder jeweils weitere, je nachdem, ob der Klient, die Klienten daran teilnehmen möchte.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Ja, wenn wir jetzt schon bei dem Punkt sind, was von der Seite der Klient*in kommt – großes Thema von unserem Gespräch ist ja die Rolle von Religion auch in der Beratung. Auch im Rückblick auf die jahrelange Projektarbeit von euch. Welche religiösen Themen werden denn von Klient*innen angesprochen, sei es jetzt in Erstgesprächen oder in Gruppensituationen? Vielleicht kannst du da noch mal drauf eingehen.

 

Solomon Caskie: Die Bandbreite ist natürlich riesig. Die Themen sind davon abhängig, inwieweit sich die Klient*innen mit unseren Berater*innen wohlfühlen, an welchem Stand man ist, wie gut die sich kennen. Es gibt natürlich auch momentan, wir befinden uns mitten im Ramadan zum Beispiel, situative Elemente, die ganz wichtig sind (wir haben das Gespräch am 19. April geführt, Anm. d. Redaktion). Wo der Ramadan sowieso anregt, spirituell zu reflektieren. Natürlich kommen dann auch in den Beratungen Gespräche zu Religion, zu möglicherweise ethischen Themen. Ganz häufig tatsächlich Fragen zu meiner persönlichen Religiosität, wie ich Dinge handhabe. Das ist dann natürlich unter Voraussetzung, dass man sich schon besser kennt. Aber die Themen sind weit gefasst. Natürlich große Krisen und Schwierigkeiten, wie Corona oder die Ukraine Situation gegenwärtig. Auch das sind Themen, die nicht notwendigerweise immer was auf Anhieb mit Religion zu tun haben, aber häufig dann davon beeinflusst sind, oder möglicherweise eine Basis darin haben. Die größte Bandbreite an Themen und Gesprächspunkte, ob sie nun wirklich theologisch sind, ob sind religiös-politisch sind, ob sie sozialer Natur sind.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): An der Stelle würde ich gerne ein bisschen einhaken. Du meintest gerade, dass es neben dieser Bandbreite an Themen auch immer Themen gibt, die sich quasi mit vermischen und, so habe ich das rausgehört, auch Bedürfnisse also, über bestimmte Themen zu sprechen, sich mit bestimmten Aspekten auseinanderzusetzen. Kannst du einige oder jetzt an Beispielen vielleicht auch nicht religiöse Bedürfnisse nennen, die eben hinter religiösen Themen stecken können?

 

Solomon Caskie: Es gibt natürlich die Situation, dass möglicherweise wie im Ramadan über religiöse Themen geredet werden möchte, auf der Basis von Interesse an religiösen Themen. Ich glaube, dass häufig im Bereich von unserer Arbeit, wo wir so viel mit Ressourcen, so viel mit Bedürfnissen, unterliegenden Problematiken oder Wünschen arbeiten, vergessen wir manchmal, dass, manchmal geht es auch wirklich einfach darum, über religiöse Sachen zu sprechen, auf der Basis von Interesse an religiösen Sachen, am religiösen Wissen. Aber natürlich, nichtsdestotrotz gibt es ganz viele Bedürfnisse, die dahinter liegen können, die man erkennen muss, die man dann auch bearbeiten muss, ernst nehmen muss. Häufig auch im Kontext Haft zum Beispiel, hat es damit zu tun, dass das kein leichter Ort ist. Die Menschen haben Sehnsucht nach Freiheit, nach Zugehörigkeit, versuchen vielleicht im Kontext dieser Haft ihre eigene Identität auch zu schärfen, suchen vielleicht über Religion nach Trost. Oder man spricht über religiöse Themen, möglicherweise um klassische islamische Tugenden auch ein bisschen zu fördern, zu gucken, vielleicht gibt es die Sehnsucht nach, ich muss geduldig sein, ich möchte geduldig sein, zum Beispiel. Alle diese Dinge sind ganz häufig da und wirklich wichtig. Und dann versuchen wir dann ganz intensiv darauf einzugehen und zu gucken: Was kann man da tun, wie können wir da unterstützen? Auf der anderen Seite, das ist jetzt wirklich die positive Seite, und das Gefühl haben wir, kann Religion ganz stark als Ressource wirken, wenn sie eben in der Lage ist, Personen zu bestärken, etwas Halt zu geben und zu trösten zum Beispiel, sehr wichtig für mich. Auf der anderen Seite gibt es eben auch Situationen, wo wir merken, dass die Religion gerne genutzt wird, um zum Beispiel den Tathintergrund, die eigene Schuld ein bisschen aufzuweichen und möglicherweise zu rechtfertigen. Es gäbe da für Klient*innen, den ein oder anderen Klienten, nichts Besseres, als wenn man den Berater oder die Beraterin möglicherweise überzeugen könnte, dass das, was sie getan haben, eigentlich religiös total legitim ist. Das wäre natürlich für uns eine ziemlich problematische Situationen, für den Klienten manchmal das, was auch da gewünscht ist, eine Art Selbstbestätigung, die Problematik, sich mit der Schuldfrage auseinanderzusetzen, wenn man das ein bisschen abwälzen kann, dann ist das auch ein Punkt. Das kommt aber tatsächlich im Verhältnis zu den ersteren genannten deutlich seltener vor.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): In dem Punkt ist es ja auch immer dieser Spagat, wenn man über Religion als Thema, auch was die Klient*innen mit einbringen, spricht, weil Religion ja an sich auch was sehr, sehr Haltgebendes sein kann. Was du gerade beschrieben hast, sie kann tröstend sein, Rahmen geben und ist ja per se nichts Problematisches.

 

(Musik)

 

Bis jetzt haben wir uns ja viel darüber unterhalten, wie die Klientinnen, was die so mitbringen an religiösen Bedürfnissen, wie sie vielleicht mit den Punkten umgehen und was auch aus ihrer Sicht herausfordernd sein kann im alltäglichen Leben, im Justizkontext, aber natürlich noch mal spezifisch in Bezug auf die Arbeit und den Deradikalisierungsprozess. Jetzt würde ich gern mit dir stärker auf eure Arbeit gucken als Beratende. Vielleicht kannst du einfach noch mal kurz zwei Sätze dazu sagen, wie denn so ein Beratungssetting aufgebaut ist.

 

Solomon Caskie: Natürlich. Es ist vielleicht wichtig zu sagen, dass wir im Vorfeld in etwa schon wissen, mit wem man spricht, wir sprechen im Vorfeld natürlich auch mit den Bewährungshelfer*innen bzw. mit den Leuten aus den JVA und Ansprechpartnern, überlegen so ein bisschen, was für uns die beste Kombination an Berater*innen ist. Wir arbeiten in Tandems, wir wollen immer eigentlich gerne zwei Berater*innen dabeihaben, sodass auf die Person selbst individuell eingegangen werden kann, mit den Ressourcen, die wir denken, am besten passen können. Aber das Umfeld, selbstverständlich, einige JVA haben große Räume, haben spezialisierte kleine Besucherräume, da kann man in einzelnen Räumen sitzen, andere haben geöffnete Besucherräume, wo wir mit den Klient*innen sprechen. Die sind dann möglicherweise vom Glas abgeschirmt, aber sie sind nichtdestotrotz relativ offen. Selbstverständlich in Bewährung ist der Proband, die Probandin etwas freier, wo wir uns treffen können, da kann man durchaus auch mal einen Spaziergang machen, was wirklich hilft. Häufig sind kleine Spaziergänge einmal um den See, oder etwas in der Art und Weise, kann wirklich die Stimmung lockern. Wir versuchen, das einzusetzen, was wir hier vor Ort haben. Das heißt jetzt nicht, dass wir gleich direkt segeln gehen, aber wir versuchen auch tatsächlich, das Setting so zu machen, dass es ganz angenehm ist und dass die Person entspannt ist. Wie gesagt, im Kontext Haft ist das natürlich auch so, dass wir mit dem arbeiten müssen, was verfügbar ist. Selbstverständlich im Kontext Corona, wenn dann auch noch notwendigerweise Scheiben eingefügt werden, Masken getragen werden müssen, dann erleichtert das die Beratungssituation nicht gerade. Trotzdem, wir sind froh, dass wir in der Corona-Phase auch so viel in den Gefängnissen sein konnten. Aber wenn man sich dann mehr oder weniger durch eine Scheibe anbrüllen muss, dann ist man nach 15 Minuten ganz schön heiser und niemand hat mehr Lust. Das macht einen Unterschied.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Ist noch mal total spannend, so ein bisschen mehr von diesem Setting, also, im Kopf zu haben. Und das hast du gerade ganz, ganz gut beschrieben, dass man sich auch einfach besser was darunter vorstellt, in welchen Kontexten ihr als Beratende und auch die Klient*innen aufeinandertreffen und was da vielleicht auch für Schwierigkeiten mit einhergehen können. Oder eben auch positive Effekte, was du meinst, Bewährung, man spaziert, ich glaube, die Vorteile von Gesprächen und Spaziergängen haben wir während Corona alle kennengelernt. Über die Zeit nach der Haft will ich später noch mal mit dir sprechen, da habe ich auch noch so ein paar Fragen. Aber lass uns erst noch mal in die Beratungssituation gucken. Welchen Stellenwert würdest du sagen hat Religion als Thema im Gegensatz zu anderen Themen, die aufkommen?

 

Solomon Caskie: Das ist sehr individuell. Das ist das Problem an einer individuellen Beratungsarbeit, dass das wirklich ein entscheidender Punkt ist: Wie sieht das die zu beratende Person? Was für ein Stellenwert hat die Religion bei unserem Klienten oder unserer Klientin? Das kann die größte Bandbreite haben. Häufig ist es tatsächlich so, dass die Religion ein wirklich wichtiger Teil der Person ist, eine große Rolle im allgemeinen Alltag spielt. Und da ist es dann sehr schwierig, wenn ich mit der Person, mit meinem Klienten, mit meiner Klientin darüber sprechen möchte, wie ethische Fragen zu behandeln sind, wie die Frage von Familie zum Beispiel, ganz beliebtes Thema. Das ist häufig nicht tatsächlich von der Religion zu lösen, das geht einfach über und es ist sehr wichtig zu sehen, nicht welchen Stellenwert möchte ich gerne dieser Religion oder einer Religion im Themenbereich einräumen, sondern wie wichtig ist das für meinen Klienten, für meine Klientin? An welchem Punkt haben sie das Gefühl, dass, hier muss nochmal darauf eingegangen werden, dass das auch wirklich moralische oder religiöse Hintergründe hat, Beziehungshintergründe hat. Wenn man das ein bisschen versucht aufzuschlüsseln, dann ganz häufig, landet man wirklich in religiösen Debatten. Und insofern: welchen Stellenwert hat Religion bei mir der Beratung? Meistens hat sie einen gewichtigen Stellenwert und ich versuche, diesen wirklich als solchen ernst zu nehmen und mit aufzunehmen und zu verstehen, als Teil der Person. Ich glaube nur, wenn man das wirklich ernsthaft betreibt, fühlt sich die gegenübersitzende Person auch ernstgenommen. Insofern, meistens ist die Religion ein wichtiger Punkt, ist bei weitem nicht der einzige Punkt, aber ich glaube, wir wären schlecht beraten zu sagen, die Religion hat hier bei dieser Person gar keine Bedeutung. Vor allem, und das ist nur ein kleiner Zusatz, wir befinden uns hier nicht ganz umsonst im religiös begründeten Extremismus. Ich glaube, es wäre eine Fehlannahme zu sagen, die Religion hat hier keine Rolle zu spielen.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Würdet ihr die Religion oder die Religiosität der Person, die euch gegenübersitzt, komplett ausklammern, dann würdet ihr ja auch einen Teil ihrer Persönlichkeit ausklammern und sie eben nicht in ihren Facetten als Gegenüber sehen. Also ich fand den Twist von dir gerade noch mal spannend mit Religion als Thema, als Religiosität, die eben eine Person mitbringt oder auch nicht. Und dieser Kontext, in dem wir uns befinden, religiös begründeter Extremismus. Und ich glaube, das ist diese Herausforderung, sich immer wieder bewusst zu machen, dass Religion aber eben nicht einzig in dem Kontext thematisiert wird und auch in eurer Arbeit, in unserer Arbeit, nicht einzig über diesen problematischen Rahmen von religiös begründeten Extremismus existiert, aber eben auch. Wie geht ihr denn, oder gehen deine Kolleg*innen in der Beratungssituation denn damit um, wenn religiöse Themen von den Klientinnen angesprochen werden?

 

Solomon Caskie: Also es ist grundsätzlich so, vielleicht schiebe ich das vielleicht einmal vor, bevor ich das beantworte, weil ich glaube, das ist wichtig. Es gibt zwei grundsätzliche Arten wie man mit religiösen Themen im Beratungskontext umgehen kann. Die eine ist tatsächlich eine eher sozialarbeiterische, sozialpädagogische Herangehensweise, die die Religion natürlich als Thema zulässt, es geht darum, dass wir viel über Religion sprechen. Wir arbeiten mit der Religion als wichtiges Element für die Person. Wir wollen die Religion als Ressource etablieren, wir wollen versuchen, das auch in andere Kontexte zu überleiten, die Toleranz zu anderen Themen und Meinungen erarbeiten zu lassen. Und hier gibt es ganz viele Punkte, wo die Religion angesprochen werden kann, zum Teil auch muss, vor allem wenn es um extremistische Inhalte geht, man muss darüber sprechen und schauen, wie die Reaktion ist und dann schauen, wie die Entwicklung ist. Was wir allerdings momentan weniger tun, das wäre der zweite große Ansatzpunkt ist, dass man nicht über die Religion spricht, sondern wirklich dezidiert mit der Religion arbeitet. Das heißt, wir schauen uns Koranverse an, wir arbeiten mit Tafsir, man arbeitet mit Hadithen, geht wirklich in die Religionswissenschaft hinein. Grundsätzlich arbeiten wir eher im Bereich des ersten Teils, wo es eher darum geht, über Religion zu sprechen, anstatt Präventionsansätze mithilfe wirklich religiöser, theologischer Inhalte zu versuchen. Dadurch, dass wir immer zu zweit in die Beratung reingehen, können wir durchaus auch unsere Berater darauf einstellen, dass auch wirklich ein authentisches Gespräch möglich ist. Und inwieweit sich natürlich auch die Berater*innen dann mit den jeweiligen Fragen und Themen wohlfühlen, das muss eben auch möglich sein, dass ein Berater oder eine Beraterin sagt: Diese Frage kann ich jetzt nicht in dieser Art und Weise beantworten, das ist für mich nicht drin. Das heißt aber, grundsätzlich möchte ich gerne, grundsätzlich möchten wir sehr gerne die Religion als Thema im Bereich systemischer und ressourcenorientierter Arbeit zulassen. Aber das ist natürlich auch wirklich sehr der Expertise und den Mitarbeitern geschuldet, ob jemand diese Art von theologischem Wissen hat, diese Art von Ausbildung hat, sodass dass das möglich ist. Das erfordert sehr viel.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Dann ja auch wirklich gut, seine Grenzen zu kennen, ne, um dann eben auch in der Situation mit dem oder der Klient*in authentisch bleiben zu können. Ich glaube, wenn die Menschen merken, dass man sich gerade auf Halbwissen zurückruft, dann ist das sicher auch schwierig für die Beratungsbeziehung, oder?

 

Solomon Caskie: Es ist sogar meines Erachtens einer der schnellsten Art und Weisen, wie man eine gute Beratungssituation kaputt bekommen kann, ist,  wenn man die Grenzen des eigenen Wissens vor allem im Bereich Religion, die so wichtig sein und die Inhalte so viel Bedeutung haben können, für die Klient*innen, dass man da anfängt, tatsächlich, wie soll ich sagen, off script ein bisschen was zusammenzubauen, das kann fatal sein. Da ist dann auch, wie soll ich sagen, der Ruf sehr schnell ruiniert. Deswegen ist es wichtig, dass in diesem Kontext ehrlich damit umgegangen wird, welche Punkte, wenn ich direkt gefragt wird, kann ich beantworten, welche kann ich nicht beantworten? An welchem Punkt ist das wirklich auch eine Frage oder ein Thema, was vielleicht mit dem Seelsorger besprochen werden muss, wo auch wirklich da dann die Expertise besteht? Oder dann kommen zum Teil Klient*innen hinein und sagen: Ich habe gedacht, wir beten hier, wir machen ein gemeinsames Gebet. Und dann muss man wirklich sagen: Verstehe ich, aber wirklich nicht etwas, was, was wir machen können oder wollen, das ist nichts, was ich anbieten kann. Da ist wirklich dann ein Seelsorger oder ein Theologe wirklich für zuständig. Und ich bin sehr froh, dass wir mittlerweile in Schleswig-Holstein auch das anbieten können, dass sich diesen Punkten auch wirklich angenommen werden kann.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Und da eben auch für euch dieser Unterschied: Wo geht es wirklich primär um Religiosität und das Ausleben der eigenen Religiosität? Das muss dann ja auch nicht unbedingt in der Deradikalisierungsarbeit aufgefangen werden, die ihr anbietet. Aber noch mal in Bezug auf eure Arbeit im Bereich Deradikalisierung. Eine Frage, die sich auf das bezieht, was du vorhin gesagt hast, als du erklärt hast, wo ihr euch selbst befindet mit eurer Arbeit. Und zwar, es gibt ja stärker religiöse Ansätze in der Präventionsarbeit und eben stärker Ansätze, die sich auf eine sozialpädagogische Perspektive fokussieren oder eben auch eine Synthese aus beidem anstreben. Welche Vor- und Nachteile von dezidiert religiösen Ansätzen der Beratungsarbeit oder in der Präventionsarbeit allgemein siehst du?

 

Solomon Caskie: Also ich glaube, meine Position ist relativ deutlich. Ich bin eigentlich der Meinung, dass die Religion wirklich inkludiert sein sollte, sei es über die, diese erste sozialpädagogische Variante oder tatsächlich auch im Bereich der theologischen Präventionsarbeit. Und ich glaube, wenn wir uns jetzt im zweiteren Bereich befinden, da hat es eine Reihe von Vorteilen, wenn man sich wirklich theologisch im Bereich der Präventionsarbeit befasst. Und ich stütze mich hier tatsächlich auf Erfahrungen und Erlebnisse, die ich gemeinsam oder erzählt bekommen habe von meinem geschätzten Kollegen Dr. Shehata. Der als Imam, als ausgebildeter Theologe in diese Gespräche reingehen kann, der von vornherein das Vertrauen von Klienten erlangen kann über diese Position, der in der Lage ist, gezielt auf Textstellen einzugehen, mit der, mit dem Klienten oder Klientin wirklich zu schauen: Kann man möglicherweise eine Religion, den Islam in dem Fall, vielleicht neu entdecken? Kann man da möglicherweise Stellen entdecken, vor allem in der Arbeit mit Primärquellen, vor allem mit Hadithen und Koran, kann man da wirklich so reingehen, dass die Bilder und die Interpretationen etwas eine andere Bedeutung bekommen können? Und da haben wir die Erfahrung gemacht, das, das kann wunderbar klappen. Nichtsdestotrotz gibt es viele Punkte, wo man sagen muss, da muss man ein bisschen aufpassen. Von vorneherein, den Punkt, den ich jetzt gerade gesagt habe, das sei ein Riesenvorteil, eine gewisse religiöse Autorität zu haben, zu sein. Das steht natürlich ein bisschen im Kontrast zu unseren systemischen Vorstellungen, dass die Person einen eigenen Weg, eine eigene Perspektive kreieren und bauen soll und nicht das mehr oder weniger noch einmal erzählt bekommen soll, was dann zu glauben ist. Das ist ein Problem, aber ich glaube, man kann es lösen, indem man tatsächlich an systemische Ansätze anschließt oder parallel laufen lässt, die durchaus dann diese, diese sehr starke Vorbildsituation, möglicherweise eine Abhängigkeitssituation, die man wirklich nicht möchte, wirklich ausgleichen kann, ein bisschen. Es gibt natürlich auch andere Punkte, die man häufig hört, die ich auch ernst nehme, wirklich wichtig finde. Ein Kritikpunkt am theologischen Ansatz ist immer: theologisieren wir gerade den Extremismus hier? Vergessen wir nicht tatsächlich die unterliegenden Schwierigkeiten, von denen wir wissen, dass viele sozialer Natur sind. Wenn wir tatsächlich an diesen Punkten nicht arbeiten, nur theologisch arbeiten, verändern wir dann tatsächlich etwas? Haben wir die Grundproblematiken dann übersehen? Und ich glaube, an dem Punkt ist es wieder wichtig, dass man versucht, eine Synthese aus theologischen und, und systemischen Ansätzen zu finden. Und ein, wahrscheinlich für mich einer der wichtigsten Punkte ist, dass es sowieso die Schwierigkeit gibt Islamismus und Islam, ein Bild von, von vielen zu trennen. Wir arbeiten immer ganz intensiv daran, dass man sagt: Der Islamismus als Ideologie, der Islam als Religion, hier gibt es entscheidende Unterschiede und die sind wichtig, dass man quasi nicht den Muslim mit dem Islamisten in einen Topf wirft. Wir wissen, was das für stigmatisierende Problematiken mit sich bringt und wir wissen, wie häufig man manchmal, und das ist ein ernstes Problem, das Gefühl hat: Jetzt habe ich sehr lange über Extremismus und Islamismus gesprochen und bin mir nicht sicher, ob die Person nun weggeht und das Gefühl hat, jetzt weiß ich ganz viel und dann Islam und Islamismus miteinander vermischt. Ganz häufig, wenn wir uns in diesem Themenfeld bewegen, dann ist die, ist die Anfrage: Erzählt uns was zu Extremismus, erzählt uns was zu Islamismus, nicht: Erzählt uns vom Islam, damit wir eine Basis haben, verstehen, worin wir uns hier bewegen und was, was da eigentlich die Basis ist und was die Religion ausmacht. Und dann vielleicht irgendwann muss man darüber sprechen, was für Ideologisierung und was für problematische Inhalte zum Teil davon abgeleitet werden. Man darf es aber nicht mischen. Und das ist ein Problem, wenn wir sagen, wir setzen uns hin und arbeiten mit theologischen Inhalten über islamistische Problematiken. Führt das dazu, dass es dem Klienten besser geht? Ziemlich wahrscheinlich. Führt es dazu, dass die Sicht auf das, was wir tun und die Sicht auf diese Problematik, von der Vermischung von den beiden, dass das fortgeführt wird oder intensiviert wird? Kann sein. Muss man wirklich vorsichtig sein.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Ich fand es total spannend, was du gerade noch mal gesagt hast: „Theologisiert man dann nicht den Extremismus“. Wir haben uns tatsächlich hier in der Folge auch ganz bewusst nicht der Frage gewidmet: Welche Rolle spielt Religion in der Hinwendung? Weil das ist ja tatsächlich ein Thema, was sehr, sehr oft aufkommt, wenn man über Religion und Extremismus und so spricht, sondern wir wollen gucken: Was ist das eigentlich in der Beratung, welchen Stellenwert hat Religion, religiöse Themen für die Klient*innen? Was ist dann auch eine Stärkung, die sie aus der Religion erfahren? Und trotzdem oder gleichzeitig ist es natürlich in diesem Kontext, religiös begründete Extremismus. Die Leute sind ja auch deswegen mit euch als Beratungsstelle in Kontakt gekommen. Aber es ist eben nicht Religion als Problematik und Ursache, weil, das hast du ja auch angesprochen, es gibt tausend Gründe, warum sich Menschen einer extremistischen Ideologie zuwenden. Und die sozialen Faktoren, die machen halt einfach den Großteil aus. Und es ist eben nicht diese Idee, dass Leute eine religiöse Idee hören und dann sofort zum sogenannten IS ausreisen. Und das fand ich jetzt gerade noch mal sehr, sehr wichtig, darauf noch mal einzugehen.

 

(Musik)

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Als kleiner Exkurs: Wenn wir in die Wissenschaft blicken, so besteht hier ebenfalls der Konsens, dass die Gründe, warum sich Menschen zu extremistischen Ideologien hingezogen fühlen, sehr komplex und vielfältig sind und jeder Fall anders ist. Wir finden hier viele verschiedene Hinwendungsmotive, die eine Radikalisierung begünstigen können, aber nicht müssen. Man kann sie in Push- und Pull-Faktoren einteilen. Unter Push-Faktoren kann man Faktoren verstehen, die Menschen anfälliger für extremistische Ansprachen machen. Zu diesen zählen auf der einen Seite individuelle Faktoren wie Krisenerlebnisse oder Misserfolge, die dann nicht ausreichend verarbeitet wurden. Zum anderen können soziale oder gesellschaftliche Faktoren wie Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen oder die Erfahrung sozialer Ungleichheit hier eine Rolle spielen. Das alles kann zur Folge haben, dass Menschen verstärkt nach Orientierung und Perspektiven suchen. Pull-Faktoren beziehen sich dagegen darauf, was extremistische Gruppen den Menschen anbieten können und weshalb diese Gruppierungen dann für manche attraktiv erscheinen. Extremist*innen bieten einfache Antworten auf Fragen, die sich Menschen auf der Suche nach Sinn und Orientierung in einer zunehmend komplexen Welt stellen. Das können beispielsweise eindeutige Regeln, Rollenvorstellungen oder auch das Versprechen von Abenteuer und Heldentum sein. Außerdem versprechen sie Zugehörigkeit zu einer auserwählten Gemeinschaft und bieten ein Gefühl von Anerkennung und Sicherheit. Gleichzeitig werden mit einem klaren Freund-Feind-Schema auch Sündenböcke für individuelle oder gesellschaftliche Probleme präsentiert. Die Rolle der Religion, genauer gesagt des Islam, wird dabei von Wissenschaftler*innen ganz unterschiedlich beurteilt. Nur noch selten wird aber die Ansicht vertreten, dass die Religion an und für sich extremistisch ist oder extremistische Haltungen verursacht. Häufiger wird argumentiert, dass Extremist*innen ihre Ideologie einfach nur religiös begründen. Wie schon unser Gast Solomon gesagt hat: Wir sollten das Thema Religion bei der Hinwendung zum religiös begründeten Extremismus keinesfalls ausklammern. Problematisch wird es vielmehr, wenn wir den Faktor Religion überbewerten. Das kann nämlich schnell zu Verallgemeinerungen, Vorurteilen und Stigmatisierung von Muslim*innen führen, wenn diesen aufgrund ihrer Religion eine besondere Anfälligkeit für eine Radikalisierung zugeschrieben wird. Deshalb ist es für uns so wichtig zu betonen, wie vielfältig die Hinwendungsmotive und Biografien radikalisierter Personen sind. Und extremistische Gruppierungen versuchen eben, für diese unterschiedlichen Motive und Bedürfnisse, seien sie nun religiös oder ganz weltlich, vermeintlich einfache, religiös begründete Antworten zu geben. Wenn Sie mehr dazu lesen möchten, welche Rolle die Religion bei der Hinwendung zum religiös begründeten Extremismus spielt: Wir im KN:IX haben dazu eine Analyse von Dr. Johannes Saal veröffentlicht. Den Link zu dieser Analyse und weitere Quellen finden Sie in den Shownotes.

 

(Musik)

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Du meintest eben, oder hattest eben Bezug genommen, auf die Rolle von einem Imam – welche Rolle, würdest du sagen, spielt die Religionszugehörigkeit der beratenden Person?

 

Solomon Caskie: Also auch hier finde ich, gibt es unterschiedliche Punkte. Es kann total unterstützend sein, wenn die Religion die gleiche ist, wenn man auf der Basis von der Religion einfach von vornherein einen besseren Zugang zueinander erhält, von vorneherein. Aber das haben wir jetzt schon so häufig gesagt, dass, darauf brauche ich nicht noch mehr einzugehen. Ich glaube, das kann ein einfacher Türöffner sein. Auf der anderen Seite, was man auch gerne vergisst, ist die Chance, dass man einen Muslim und einen anderen Muslim nebeneinandersetzt und dann hat man möglicherweise einen Schiiten und einen Sunniten, oder möglicherweise sind die doch tatsächlich ziemlich unterschiedlich, sodass die vermeintliche „oh, beides Muslime“ auf einmal gar nicht so den extremen Vorteil einem bietet. Ich glaube, an dieser Stelle rennt man schnell dem Vorurteil hinterher, das ist alles in etwa eins, ein Islam, passt schon. Das ist tatsächlich nicht der Fall. Das kann auch durchaus sein, dass es total hilfreich und sinnvoll sein kann, wenn eine Person jemanden als Berater, Beraterin bekommt, die was ganz anderes denkt und glaubt als man selbst. Das kann sehr positive Prozesse einleiten, wo auf einmal die Diskussionen sehr intensiv werden, aber wenn das menschlich untereinander gut funktioniert, dann kann das total hilfreich sein. Insofern. Wie beantworte ich die Frage? Welche Rolle spielt das? Sie spielt manchmal eine Rolle, sie spielt bei ausgewählten Fällen kann es hilfreich sein, bei anderen kann es total super sein, wenn man genau nicht drauf achtet. Das muss man auch im Rahmen der Beratung ein bisschen herausfinden.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Ja, das zeigt so super schön, was das eigentlich heißt, dieses im Einzelfall. Weil, das ist ja was, was man total oft liest: Das kann man so nicht sagen, das muss man sich genauer angucken. Aber ich finde, genau die Ausführungen, die du gebracht hast, die helfen, um ein Bild davon zu bekommen. Also was bedeutet es denn eigentlich, wenn man in der Beratung versucht, wirklich mit dem oder der Klient*in zu arbeiten, wirklich zu gucken: Was braucht sie? Was bringt er mit?

 

(Musik)

 

Lass uns doch noch mal auf die Zeit nach der Haft gucken. Du hattest eben ja schon angedeutet, dass ihr auch über die Entlassung mit den Menschen in Kontakt seid, die ihr während der Haft beraten habt. Habe ich das richtig verstanden?

 

Solomon Caskie: Absolut. Ich glaube, das ist sogar wirklich wichtig, nach Entlassung und dann der Übergang zum Beispiel in die Bewährung, dass da im Kontakt geblieben wird, dass da weiter miteinander gesprochen wird. Also es gibt ja zwei Optionen. Es gibt auch die Option, dass wir tatsächlich bereits oder erst im Bewährungsfall dazu gerufen werden. Aber häufiger ist es tatsächlich so, dass man die Person schon aus der Haftphase kennt. Und dann ist meist schon ein relativ enges Verhältnis da. Ich glaube, es ist nicht zu unterschätzen, was für neue Herausforderungen dann in Bewährungshilfe auftauchen, was für ganz neue Situationen, die man auch im Vorfeld alle gar nicht besprechen konnte, perspektivisch betrachten konnte. Sondern am Anfang ist es wirklich ein großer Unterschied, eine große Herausforderung. All die Dinge, die vermeintlich leicht sein würden, haben alles wirklich große Hürden. Viele von den Klient*innen haben jetzt nicht die allergrößten Rückhalt aus familiären Hintergründen, viele von den Klient*innen, die wir haben, da ist es nicht so einfach, mit den finanziellen Mitteln, die dann zur Verfügung stehen, Wohnungen zu mieten. Das ist das, da kommt auf einmal ein ganz neues Set von Herausforderungen. Vielleicht ist das ein bisschen zu plakativ, aber häufig habe ich das Gefühl, dass diese neue Situation in der Bewährung vielleicht sogar der schwierigere Teil ist als die Haft, wo die Person wieder anfangen muss, selbstständig mit Schwierigkeiten umzugehen und sich auch vielen Problemen ausgesetzt ist. Da muss man gucken, dass da nicht möglicherweise ganz viel Frustration sich wieder aufbaut. Es ist einfach so, man ist dann, auch weil man gerade aus dem Gefängnis gekommen ist, auf einmal nicht gefeit vor Diskriminierungserfahrungen. Und auch wenn wir ganz viel darüber sprechen, das kann ich immer noch anfassen. Probleme auf einmal im Job, wie reagiere ich mit der Vergangenheit, wie reagiere ich mit den letzten Jahren, die ich verbracht habe? Erzähle ich das, erzähle ich das nicht. Da gibt es wirklich viel was, was man begleitet und ein bisschen abdämpft. Und, also da sind wir auch dann wirklich, versuchen wir unterstützend zu wirken, wir versuchen selbstverständlich, die, wie soll ich sagen, die alten Triggerpunkte im Kopf zu behalten, zu schauen, okay, wo können wir die versuchen zu moderieren. Ganz vieles haben wir dann auch schon über Gespräche in den Gefängnissen, in der Haft, schon ganz intensiv geübt. Aber es gibt einfach neue, eine neue Anzahl von Herausforderungen. Und es ist sinnvoll, da noch ein bisschen mit dabei zu sein, um das zu unterstützen. Und das ist aber auch ein schöner Punkt, weil Gott sei Dank sind wir da nicht alleine, da gibt es dann ganz viele unterschiedliche Organisationen, Bewährungshelfer, die einem sehr unter die Arme greifen können, die wirklich auch unterstützend wirken. Da sind wir nicht allein. Das ist zwar dann für die Klient*innen harte Arbeit, aber es funktioniert meistens gut.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Ja gut, also wirklich da noch mal die Notwendigkeit von einer langfristigen Beratung, so habe ich das ja auch verstanden, also wenn man, wenn man die Person schon aus der Haft kennt, dann eben ist mit der Haft das halt nicht gegessen, sondern dann fängt ein neuer Prozess an und Situationen können sich immer noch mal ändern, neue Situationen entstehen, die sie eben sehr vulnerabel werden lassen.

 

Solomon Caskie: Ich würde nicht sagen, dass das ein ganz neuer Prozess ist. Der Prozess in der Distanzierung ist dann weiter fortgeschritten, aber sieht sich einfach anderen Herausforderungen entgegen. Das heißt, die Umstände verändern sich so drastisch, dass man einfach auch das wirklich im Kopf behalten sollte, das auch wirklich sehen sollte. Und ja, es ist super, dass es ein Netz gibt von Leuten, die sich darum kümmern. Es gibt aber meines Erachtens auch eine maximale Anzahl von Leuten, die dabei sein sollten, zum Beispiel. Wir ziehen uns dann auch gewollter Weise irgendwann zurück und reduzieren dann möglicherweise die Häufigkeit der Treffen. Glaube ich, ist auch wichtig. Es ist auch, kommt ein Zeitpunkt, wo wir das Gefühl dann auch haben, okay, ist klar: unsere Teile der Aufgaben sind hier erfüllt und wir müssen dann auch sagen okay, für uns ist die Sache durch, wir …

 

Charlotte Leikert (KN:IX): … lasst die Person gehen.

 

Solomon Caskie: Viel, viel Glück. Und es ist auch wichtig, dass die Person dann das Gefühl hat, alles klar, jetzt bin ich durch. Auch ein wichtiger Teil der Arbeit ist zu wissen, wann ziehen wir uns zurück.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Auf jeden Fall noch mal ein spannender Aspekt. Ja, ich habe tatsächlich noch die Frage in Bezug auf Distanzierungsarbeit, auf die Arbeit, die ihr im Rahmen der Beratungstätigkeiten umsetzt, sind diese Stichworte Reintegration, Rehabilitation, Resozialisation ganz zentral. Und jetzt noch mal als Schlusswort quasi: Wie kann Religion in dem Kontext und da auch in der Deradikalisierungsarbeit als eine Ressource genutzt werden?

 

Solomon Caskie: Dann hole ich noch mal aus – 35 Minuten später (lacht)…nein. Mir ist es ein Anliegen zu sagen, dass ich der Meinung bin, dass Religion eine hervorragende Ressource sein kann für diesen Prozess, auch für diese schwierige Zeit in Haft, diese problematische Zeit in Bewährungshilfe. Ich glaube, wenn wir ressourcenorientiert arbeiten, wenn wir danach schauen, wie können wir eine Person stärken, ich finde es immer schön, wenn ich sie stärken kann, wenn ich Religion als Ressource stärken kann. Und ja, dass wenn das gelingt, ist das super. Ich glaube, es ist auch klar geworden im Kontext unserer Konversation, dass das nicht einfach ist und dass es Fallstricke hat und dass wir an einigen Punkten aufmerksam sein müssen. Aber ich glaube, die positiven Effekte, die man erwirken kann, wenn Religion als Ressource entwickelt ist und wirklich dann ein starker positiver Faktor im Leben des Klienten, der Klientin sich etablieren kann, dann finde ich es zu groß, zu wichtig, um es nicht zu probieren.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Das ist doch ein schönes Schlusswort. Solomon, vielen, vielen Dank für das Gespräch, für die Einblicke in deine Arbeit und die ganzen Bilder und Kontexte, die du noch mal unseren Hörer*innen auch näher gebracht hast. Ich fand es total spannend und bin mir ganz sicher, dass auch die Leute, die uns gerade zuhören, viel neue Einblicke mitnehmen.

 

Solomon Caskie: Ja, vielen Dank. Ich fand das auch eine schöne, interessante Konversation. Also vielen Dank dafür.

 

(Musik)

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Wenn Sie mehr über die Arbeit von Kick-off erfahren wollen: Wir haben Ihnen die entsprechenden Links in die Shownotes gepackt. Dort finden Sie zum Beispiel auch Hintergrundinformationen zum Thema unserer Staffel, Religion und Präventionsarbeit. Falls Sie Fragen zur heutigen Folge oder allgemein zum Format KN:IX talks haben, schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an info@kn-ix.de. In der nächsten Staffel von KN:IX talks, das heißt in den nächsten drei Folgen, widmen wir uns den Themen Familie, Elternschaft und Kindeswohl. Diese Staffel erscheint dann im Sommer. Falls Sie also die anderen Folgen von KN:IX talks noch nicht kennen: Bis dahin haben Sie genug Zeit, sie sich alle anzuhören. Ich wünsche Ihnen jetzt eine schöne Zeit und alles Gute.

 

(Musik im Hintergrund)

 

Diese Folge wurde von der BAG RelEx im Rahmen von KN:IX umgesetzt.

Moderation: Charlotte Leikert

Außerdem hörten sie: Ulrike Hoole

Technische Umsetzung: Ulrike Hoole

Inhaltliche Vorbereitung sowie Schnitt und Postproduktion: Ulrike Hoole und Charlotte Leikert.

 

(Abspann Musik)

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Sie hörten eine Folge von KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. KN:IX talks ist eine Produktion von KN:IX, dem Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“. KN:IX ist ein Projekt von Violence Prevention Network, ufuq.de und der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx.

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KN:IX wird durch das Bundesprogramm Demokratie Leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Finanzierung erhalten wir von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Bundesministerium des Inneren, Bau und Heimat, dem Bayrischen Landeskriminalamt, dem Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration in Sachsen-Anhalt, der Landeskommission Berlin gegen Gewalt und im Rahmen des Landesprogramms „Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus“.

 

(Abspann Musik)

Weiterführende Links

„Kick-off“ der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. (TGS-H)
https://provention.tgsh.de/project/kick-off/

Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx)
https://www.bag-relex.de/

KN:IX Analyse „Die Rolle der Religion bei der Hinwendung zum religiös begründeten Extremismus“, Dr. Johannes Saal (2021)
https://kn-ix.de/download/5157/

Religion – eine Ressource in der Radikalisierungsprävention?, Joachim Langner (2020)
https://www.bpb.de/themen/infodienst/316249/religion-eine-ressource-in-der-radikalisierungspraevention/

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