Podcast KN:IX talks

Folge #06 | „Wer darf mir sagen, ob ich als gute Muslima eine Kfz-Versicherung abschließen kann?“

Strukturaufbau in der religionssensiblen Präventionsarbeit

Unser heutiger Gast hat seine Dissertation zum Thema „Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention. Erfahrungen, Herausforderungen und Perspektiven“ verfasst. Wir nutzen daher die Möglichkeit, mit ihm die Diskussion über die Einbindung muslimischer Vereine und Verbände in der Präventionsarbeit fortzusetzen, die wir in Folge #4 „Zwischen Anerkennung und Stigmatisierung“ mit Matthias Schmidt begonnen haben.

Heute fokussieren wir uns auf Fragen des Strukturaufbaus, reden über asymmetrische Partnerschaftsbeziehungen und über die Vielfalt der pädagogischen Zugänge, wenn es um das Thema Religion geht. Dr. Jens Ostwaldt unterhält sich mit uns auch über Philosophisches – über die Bedürfnisse, die Gläubige in der gegenwärtigen Gesellschaft verspüren und wir sprechen über seinen Blickwinkel als Wissenschaftler, der die Praxis „von innen“ kennt.

Im Podcast zu Gast

Dr. Jens Ostwaldt ist Professor für Soziale Arbeit an der IU Internationale Hochschule mit dem Arbeits- und Forschungsschwerpunkt Extremismus und Radikalisierung. Zuvor leitete er die Fachstelle zur Prävention von religiös begründetem Extremismus (PREvent!on) im Demokratiezentrum Baden-Württemberg.

Transkript zur Folge

(O-Ton, Musik im Hintergrund)

 

Dr. Jens Ostwaldt: Aber ich glaube, dass auch so ein Streben nach Religion, so wie diese Tik Tok Videos so ein Streben danach sind: “Ich brauche einfach jetzt mal eine klare Antwort. Also es muss mir mal jetzt jemand sagen: “Nein, darfst du nicht.” Oder “Ja, darfst du”. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt, weshalb wir aktuell… und das ist auch so, das, was auch – Da kommt der Rekurs in die Soziale Arbeit –  in so einer Welt leben, wo wir Menschen zusehends diese Ambiguitätstoleranz verlieren. Also die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit auszuhalten und zu sagen, „das ist richtig; und gleichzeitig kann aber auch das auch richtig sein, weil es einfach sich möglicherweise ausschließt, aber trotzdem irgendwie zueinander passt oder auch nicht“. Und dass es passt, das ist alles in einem Menschen drin. Der eine Mensch macht das in der Situation; in der anderen Situation macht er das (oder sie) und ist trotzdem der gleiche Mensch.

 

(Musik im Hintergrund)

 

Charlotte Leikert (Intro KN:IX talks): Herzlich Willkommen zu KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. Bei KN:IX talks sprechen wir über das, was die Präventions- und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international beschäftigt. Für alle, die im Feld arbeiten oder immer schon mehr dazu erfahren wollten: Islamismus, Prävention, Demokratieförderung und politische Bildung. Klingt interessant? Dann bleiben Sie jetzt dran und abonnieren Sie unseren Kanal. KN:IX talks – überall da, wo es Podcasts gibt.

 

 (Musik im Hintergrund)

 

Svetla Koynova (KN:IX): Dr. Jens Ostwald ist Professor für Soziale Arbeit an der IU Internationale Hochschule mit dem Arbeits- und Forschungsschwerpunkt Extremismus und Radikalisierung. Zuvor leitete er die Fachstelle zur Prävention von religiös-begründetem Extremismus PREvent!on am Demokratie-Zentrum Baden Württemberg. Er hat seine Dissertation zum Thema „Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention. Erfahrungen, Herausforderungen und Perspektiven.“ verfasst. Und wir nutzen daher die Möglichkeit, mit ihm die Diskussion über die Einbindung muslimischer Vereine und Verbände in die Präventionsarbeit fortzusetzen, die wir in Folge 4: „Zwischen Anerkennung und Stigmatisierung“ mit unserem Gast Matthias Schmidt begonnen haben. Heute fokussieren wir uns auf die Folgen des Strukturufbaus, reden über asymmetrische Partnerschaftsbeziehungen und über die Vielfalt der pädagogischen Zugänge, wenn es um das Thema Religion geht. Jens unterhält sich mit uns auch über Philosophisches: über die Bedürfnisse, die Gläubige in der gegenwärtigen Gesellschaft verspüren. Und wir sprechen über seinen Blickwinkel als Wissenschaftler, der die Praxis – in Anführungszeichen – „von innen“ kennt.

 

Unsere ersten Überlegungen waren inspiriert durch ein Monitoringteam, mit dem wir zusammenarbeiten. Die haben uns erzählt, dass die Videos von extremistischen Akteur*innen oder Akteur*innen, die sich in der Peripherie des Extremismus befinden … die Videos, die am beliebtesten sind, sich eigentlich mit Alltagsfragen beschäftigen und zum Beispiel eine Art Ratgeber sind… Für (Themen wie) „Ist es eigentlich okay, wenn ich als Muslima eine KFZ-Versicherung abschließe?“ Und das wird dann als Thema verhandelt in ganz kurzen, knappen und spannenden Videos, die irgendwie auch eine klare Antwort liefern auf die Frage. Auf welches Bedürfnisse reagiert das deiner Meinung nach?

 

Dr. Jens Ostwaldt: Ich denke, das ist ein Phänomen, was wir schon einige Zeit beobachtet haben. Ich glaube, wenn man zurückgeht auch in die Anfänge der neo-salafistischen Szene, so in Deutschland, sagen wir mal Anfang der 2000er vielleicht, da war das ja eigentlich ein ganz ähnliches Phänomen. Die Videos, die da produziert wurden, Pierre Vogel und Co. und auch die ganzen Vorträge, die es gab, haben sich ja vor allem mit Alltagsfragen beschäftigt. Und das war zu dem Zeitpunkt, wenn ich die Diskussion richtig wahrgenommen habe, tatsächlich ja eher eine Frage davon… war also eine Frage von Angebot und Nachfrage. Das heißt also, dass tatsächlich es keine islamischen Stimmen gab gesellschaftlich, die diese Themen bearbeitet haben, also die tatsächlich mal gesagt haben, so: „Darf ich im Ramadan Zähneputzen, also während des Tages, weil dann ja theoretisch Wasser im Mund… Und ist das schon Fasten gebrochen oder nicht? Und das sind Alltagsfragen, die damals durch die salafistischen Akteure hauptsächlich tatsächlich ja, würde ich sagen, bearbeitet wurden. Dass das heutzutage auch noch der Fall ist, finde ich tatsächlich ein ganz interessantes Phänomen, weil es anscheinend und da habe ich tatsächlich was Social Media angeht, nicht so absolut den Überblick… Aber wenn ich die Forschungslandschaft richtig einschätze, dann ist es tatsächlich immer noch so, dass vor allem diese Akteurinnen und Akteure in der Peripherie des Extremismus (übrigens finde ich das einen sehr, sehr guten Begriff der Kollegen von Modus ZAD), dass diese Akteurinnen und Akteure diejenigen sind, die eben auch diese Themen bearbeiten. Und das finde ich deshalb interessant, weil sich ja vor allem islamische Verbände und Vereine eigentlich in den letzten Jahren schon in eine Richtung entwickelt haben, wie man sagen kann, die sind jung oder wollten zumindest jünger werden, mehr im Internet präsent sein. Und so weiter. Anscheinend ist diese Bestrebungen nicht bei vielen Jugendlichen angekommen, oder die Entwicklung ist einfach zu schnell, als dass Verbände und Vereine da hinterherkommen. Also ich meine, Tik Tok ist ja ein sehr spezielles Format und ich unterstelle einfach mal den Verbänden, dass es einfach schwierig ist, das da zu antizipieren entsprechend und die Inhalte… das sozusagen strukturell. Welche Bedürfnisse werden gestillt? Ich glaube tatsächlich, dass es so eine Frage davon ist, Religion irgendwie greifbar zu machen. Also die Frage danach, wo wirkt Religion und meine Religiosität und meine Spiritualität in meinen Alltag hinein? Und das kann eben durch Dinge passieren wie „Darf ich eine KFZ Versicherung abschließen? Darf ich im Ramadan Zähneputzen? Also tagsüber während der Fastenzeit? Darf ich mich tätowieren?“ Das ist so dieser Klassiker, den wir schon seit 15 Jahren diskutieren oder so, aber ich glaube, das ist immer noch aktuell, das darf man nicht vergessen. Und da bieten diese Tik Tok Videos, die ja tatsächlich auch relativ kurz sind, das ist auch ein Punkt, wo jemand halt irgendwie innerhalb von einer Minute oder halben Minute die Ansichten, die eben relativ klar formuliert sind und eben auch hier wieder weniger mit „kommt drauf an“ auskommen, sondern, relativ zumindest, klare Antworten bieten. Ich glaube, dass ist so ein Bestreben auch nach Eindeutigkeit, erst mal eine Besinnung auf Religion und ein Streben nach Spiritualität vielleicht, vielleicht gar nicht unbedingt Religiosität, weil es ja auch unterschiedliche Formen von Spiritualität, Spiritualität, also das Bestreben danach gibt, dass es eine, eine Entität gibt, eine Transzendenz in der Welt, die wir nicht fassen können, die man anbeten kann oder zu der man irgendwie beten kann oder wie auch immer. Und ich glaube, dass das eine ganz interessante Entwicklung ist. Wo kann ich auch als Mensch grundsätzlich oder eben als junger Mensch, so ein bisschen diese Spiritualität finden, die eben, glaube ich, aktuell sehr viel komplexer ist, als sie mal vor 30, 40 Jahren möglicherweise war, weil sie sich eben in einer komplexen Welt bewegt. Der zweite Punkt wäre, dass wir aktuell aus meiner Sicht jetzt auch gerade in den letzten Corona-Jahren in so einer Welt leben, die sehr stark nach Eindeutigkeit strebt. Also ich glaube die Welt ist so kompliziert geworden und es gibt an so vielen Stellen in der Welt „kommt darauf an“-Antworten. Also es gibt nicht diese eine Wahrheit. Aber ich glaube, dass auch so ein Streben nach Religion, so wie diese Tik Tok Videos so ein Streben danach sind: “Ich brauche einfach jetzt mal eine klare Antwort. Also es muss mir mal jetzt jemand sagen: “Nein, darfst du nicht.” Oder “Ja, darfst du”. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt, weshalb wir aktuell… und das ist auch so das, was auch – Da kommt der Rekurs in die Soziale Arbeit –  in so einer Welt leben, wo wir Menschen zusehends diese Ambiguitätstoleranz verlieren. Also die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit auszuhalten und zu sagen, „das ist richtig; und gleichzeitig kann aber auch das auch richtig sein, weil es einfach sich möglicherweise ausschließt, aber trotzdem irgendwie zueinander passt oder auch nicht“. Und dass es passt, das ist alles in einem Menschen drin. Der eine Mensch macht das in der Situation; in der anderen Situation macht er das (oder sie) und ist trotzdem der gleiche Mensch.

Vor welchen Herausforderungen stehen diese Menschen? Ich glaube halt genau vor diesen Herausforderungen, weil mein Eindruck ist, dass die Verbände und Vereine grundsätzlich jetzt nicht nur muslimisch, sondern tatsächlich alle Religionen auch genau damit Schwierigkeiten haben, sich auf diese sehr komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen einzulassen. Möglicherweise haben die christlichen Kirchen noch den Vorteil, weil sie eben strukturell sehr gut aufgestellt sind, da entsprechend zu reagieren, reagieren zu können. Jetzt hat aber natürlich auch die Kirche Nachwuchsprobleme, ganz klar. Und mit diesem Problem haben auch muslimische Akteurinnen und Akteure, auch wenn ja von mancher Seite immer gesagt wird, das Problem hätten sie nicht. Aber ich glaube auch, dass muslimische Verbände vielleicht aktuell noch weniger, aber perspektivisch, dieses Nachwuchsproblem haben, weil es, glaube ich, einfach für die Verbände schwierig ist, diese gesellschaftliche Situation oder mit dieser gesellschaftlichen Situation auch umzugehen auf so einer religiösen Ebene. Und das wäre der erste Punkt zu diesem Unterpunkt. Der zweite Punkt ist, dass es aktuell und das ist ein ganz interessanter Aspekt, finde ich, dass ich beobachte, dass konservative Religionsausübung eigentlich etwas ist, was tatsächlich auch immer mehr in der Kritik steht vor dem Hintergrund von so einer Liberalisierung der Gesellschaft. Also was wir, glaube ich, was ich so ein bisschen beobachte ist und das ist gutes Beispiel, glaube ich, diese Fachstelle Konfrontative Religionsbekundung in Neukölln. Und zwar, dass man sagt okay, wenn konfrontative Religion erst mal was ist – das ist es irgendwie schwer zu definieren. Auf der einen Seite; auf der anderen Seite ist es natürlich, wenn man sich dann das Konzept durchliest, dann geht es da eigentlich um konservative Religionsausübung, die eben problematisiert wird. Und da könnte man jetzt auf unterschiedliche Art und Weise draufschauen. Aber für mich ist es tatsächlich so, dass auch konservative Religionsausübung natürlich ihren Platz haben muss in einer Gesellschaft, auch wenn man möglicherweise sagen muss, dass vielleicht das Bild dafür, das Frauenbild oder die Art und Weise, wie Gesellschaft gedacht wird, nicht zu dem passt, was wir in Anführungsstrichen „gesellschaftlich demokratisch“, „irgendwie gut“ finden. Da ist auch die Frage: Was ist das überhaupt? Aber dass es da einfach tatsächlich Punkte gibt, die, die man dann vielleicht nicht gut finden kann, aber auch das gehört eben dazu. Und so eine Akzeptanz von konservativer Religionsausübung ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt. Und da, wenn man das alles zusammennimmt, glaube, daher könnte es, könnte es jetzt auch eher so eine Idee oder Hypothese, könnte so dieser Struggle von Jugendlichen oder von Menschen allgemein kommen, so ihrem religiösen Platz in der Gesellschaft zu finden.

 

Svetla Koynova (KN:IX): Was hier besonders spannend ist ja auch, dass es dann eigentlich problematisch wird, wenn ein doppelter Standard angewandt wird. Wenn bei manchen Religionen auch konservative Religionsausübung in Ordnung und akzeptiert wird, gesamtgesellschaftlich und bei anderen nicht. Und grundsätzlich ist aus religionssoziologischer Perspektive, eine Religion zu praktizieren, immer verbunden mit irgendeiner Art von Einschränkung und einer Art auch vielleicht von Segregation gegenüber den Nichtgläubigen. Und dann gibt es eine extreme Vielfalt in jeder religiösen Gemeinschaft in Bezug auf die individuelle Ausübung. Inwiefern ist jemand praktizierend? Ist jemand teils praktizierend? Und genau da stellen sich diese alltäglichen Fragen. In diesem einen Fall: „An welches Gebot halte ich mich jetzt?“ Ich möchte noch mal kurz zurückkommen auf die Frage des Aufbaus, auch spezifisch der muslimischen Gemeinden, weil da immer wieder einfach verlangt wird von unterschiedlichen Akteurinnen, dass muslimische Verbände eine Rolle spielen. Die Frage des Aufbaus hast du schon angesprochen und hast in mehreren Punkten vielleicht auch schon angedeutet, was denn Herausforderungen sind für diese Verbände, um tatsächlich eine Rolle zu spielen und bei welchen Entwicklungen sie vielleicht auch nicht so schnell hinterherkommen. Aber es gibt auch andere. Erst mal kannst du vielleicht auch noch mal was zu Strukturaufbau sagen und dann vielleicht auch über andere Herausforderungen sprechen.

 

Dr. Jens Ostwaldt: Also aus meiner Sicht wäre es wichtig, Strukturaufbau der islamischen Verbände auch entkoppelt von Präventionsarbeit zu betrachten. Zweck islamischer Verbände ist ja nicht, Präventionsarbeit zu machen. Und das halte ich für einen ganz zentralen Punkt. Wenn Sie sich engagieren möchten und das können aufgrund Ihrer Struktur, dann natürlich – absolut, keine Frage. Aber ein islamischer Verband oder ein islamischer Verein hat nicht per se eine größere Rolle in der Präventionsarbeit als es zum Beispiel die örtliche Schulsozialarbeit hat, die sich ja auch nicht einfach so in Präventionsarbeit engagieren muss, sondern ich finde, wir müssen, wir sollten die islamischen Verbände in dem Kontext als einen wichtigen gesellschaftlichen Akteur wahrnehmen, der eine entsprechende gesellschaftliche Verantwortung hat. Und die Verantwortung kann eben auch im Kontext Präventionsarbeit übernommen werden. Darum finde ich das wichtig, weil eben die Vereine extrem heterogen sind, was die Struktur angeht und die Verbände natürlich erst mal Verband sind. Aber auch die Verbände sind sehr unterschiedlich und da ist der Strukturaufbau natürlich ein wichtiger Punkt, wenn es um Professionalisierung geht, weil ich glaube, das ist ja auch eine Diskussion, die gibt es schon seit anno dazumal so, aber die Sache ist ja auch heute noch, dass Imame, wenn wir uns DITIB angucken, Imame aus der Türkei kommen, türkische Staatsbeamte sind. Und so weiter und so fort. Was ist erst mal an der Sache an sich? Wird ja von oft kritisiert, aber in der Sache könnte man auch so argumentieren: Die sind in der Regel gut ausgebildet. Theologisch sind die fit so, okay. Das Problem ist aber, dass diese Imame natürlich nie in Deutschland oder ganz selten in Deutschland gelebt haben. Sprechen tatsächlich in der Regel, das ist zumindest das, was ich jetzt die letzten Jahre, was mir immer wieder zurückgemeldet wurde, relativ wenig, wenig Deutsch bzw. einfach so, dass sie zumindest Schwierigkeiten haben, auch den Jugendlichen irgendwie zu folgen oder denen auch gewisse Ratschläge zu geben und auch, was eben auch die das Verständnis der Gesellschaft erschwert. Natürlich. Und das war der erste Punkt Strukturaufbau, Professionalisierung auf der Ebene der Posten der Funktionärinnen und Funktionäre in den Verbänden. Und ich glaube, der zweite Punkt, um das so ein bisschen zu kürzen, ist ein grundsätzliches Umdenken innerhalb der Vereine. Es ist noch sehr viel auf Ehrenamtlichkeit ausgelegt und das ist natürlich in kirchlichen Strukturen genau das Gleiche und ich halte es auch für sehr wichtig. Ehrenamt ist zentral und es trägt ja auch die Gesellschaft, das ist vollkommen klar. Nur hat ein Interviewpartner damals in meiner Diss das ganz schön formuliert, er hat von „prioritätsloser Flexibilität“ geredet und was er damit meint, ist, dass man 20 Leute zum Lahmacun-Backen aktivieren kann, gar keine Frage. Und da können die wirklich 50-60-70 Helferinnen und Helfer für ein ganzes Wochenende können die da akquirieren? Das ist absoluter, absoluter Wahnsinn! Traum wahrscheinlich für jeden Fußballverein in Deutschland. Die Kehrseite der Medaille ist aber auch, dass es schwierig ist, dann Menschen in ein Hauptamt zu bringen, weil sie eben sagen: „Wir machen das doch alles ehrenamtlich und so.“, also es gibt sozusagen dieses Umdenken nicht zu sagen, wir brauchen dann schon auch jemanden, der das Ganze hauptamtlich koordiniert, sei es mit einer 50 % Stelle oder mit ein bisschen mehr, der Geld dafür bekommt, den Moscheeverein zu führen. Den Geldsack dafür bekommt dieses, das Ganze zu organisieren, der das eben nicht ehrenamtlich macht. Und das ist, glaube ich, ein Punkt, der an ganz vielen Stelle dieses Schlagwort „Ehrenamt als Gottesdienst“ ist, glaube ich, in den Vereinen, so wie ich das wahrnehme, noch sehr stark verbreitet. Und das wäre so ein zweiter Punkt, dass es auch intern ein Umdenken geben muss hin zu einer Professionalisierung, dass man, auch wenn man in einer Moscheegemeinde arbeitet, Geld dafür kriegen kann und das ist auch notwendig ist, um das, um das zu tun.

 

Svetla Koynova (KN:IX): Einerseits ist es interessant. Du sprichst ja auch davon, dass die Menschen, die sich dort engagieren, sei es im Hauptamt oder ehrenamtlich, einfach den Anspruch an sich selbst haben sollten, mitzukommen. Auch bei den Alltagsthemen jetzt zum Beispiel der Jugendlichen, worüber wir vorhin gesprochen haben, gleichzeitig aber bereits extrem viele Aufgaben wahrnehmen und ganz oft auch von außen noch diesen zusätzlichen Auftrag bekommen: „Und jetzt kümmert euch auch bitte um Extremismusprävention!“, was aber natürlich automatisch auch mit einer Stigmatisierung verbunden ist und wofür sie im Zweifelsfall ja auch gar nicht ausgebildet sein müssen. Ich frag mich einfach, was du für Erfahrungen gemacht hast, was deine Interviewpartner*innen dir zu diesem, vielleicht auch einfach ganz persönlichem, Widerspruch erzählt haben.

 

Dr. Jens Ostwaldt: Ja, das ist ein mega zentraler Punkt, um mal sozusagen mich selber zu zitieren. Ich habe das in meiner Diss als „Professionalisierungsparadox der Präventionsarbeit“ beschrieben. Es ist eine relativ simple Sache, aber tatsächlich auch genau das, was du beschreibst. Auf der einen Seite gibt es eben dieses hohe ehrenamtliche Potenzial. Dieses Potenzial ist aber ausgeschöpft mit den Grundaufgaben, die in der Moschee zu erledigen sind. Der zweite Punkt, der eine Rolle spielt, ist, dass über die Projektakquise, also über die Umsetzung eines Projekts – das wird Matthias vielleicht, das kam in seinem Interview, ich habe es gelesen, so an mancher Stelle durch – dass auch durch diese Projektumsetzung tatsächlich auch natürlich sich der Verband, Verein ein bisschen weiterentwickelt. Man hat Geld für Fachkräfte, man kann plötzlich Islamwissenschaftler*innen oder Sozialarbeiter*innen einstellen und entwickelt sich weiter. Das heißt, das Projekt, das umgesetzt wird, für das man Drittmittel bekommt, wirkt auch in die Vereinsstrukturen hinein. Das heißt gewissermaßen eine Professionalisierung durch Projektumsetzung. Das wäre das Zweite. Wenn man das zusammenführt, führt das aber im Endeffekt dazu, dass ein Verein sich vor allem durch Drittmittel und diese Projekte professionalisieren kann, weil sie dann das Geld haben, Personen einzustellen. Um aber einen solchen Antrag zu schreiben, das wissen wir ja alle so ein bisschen aus eigener Erfahrung, um so einen Antrag zu schreiben, um das Ganze administrativ auch zu begleiten, um so einen Verwendungsnachweis zu machen, um eine Idee zu entwickeln, brauchen wir, braucht man, extrem viele Kapazitäten und natürlich auch das Wissen, das Know-how, die Kompetenzen, die wahrscheinlich einzelne Person in den Moscheegemeinden ganz sicher haben. Aber die sind eben wahrscheinlich dann an anderer Stelle schon ehrenamtlich eingebunden. Das heißt also, das Akquirieren von Drittmitteln würde ja Women- und Menpower binden, die man dann sozusagen für den Kernbereich der Moschee-Arbeit fehlt. Und das ist so ein bisschen das Problem, dass es dort dann eben zu diesem Punkt kommt: „Okay, entweder machen wir unsere Arbeit nicht richtig und versuchen dieses Projekt umzusetzen, oder wir machen die Kleinarbeit, können aber das Projekt nicht beantragen“. Und dann kommt es eben und das haben auch viele Interviewpartner gesagt zu Punkten, dass natürlich dann [die Mitglieder des] Moschee-Vorstand[es] sagen: „Ja, nee komm, dann lass uns lieber gucken, dass wir hier alles am Laufen halten. Und dann machen wir eben keine Kooperation mit der Stadt oder mit dem Jugendamt oder mit wem auch immer genau. Oder eben dann [das Programm] „Demokratie leben!“ oder so, wenn man größer denken möchte. Also das ist ein wichtiger Punkt. Es fehlen da einfach die die Kapazitäten an vielen Stellen.

 

Svetla Koynova (KN:IX): Umgekehrt habe ich aber auch das Gefühl, dass oft Runden existieren, bei denen unterschiedliche Netzwerkpartner zusammenkommen. Dass die Vereine und Verbände aber nicht immer eingebunden werden in diese Treffen, wo es auch darum geht, zum Beispiel strategisch zu überlegen, wie kann man auch vielleicht eine Interessensbekundung gemeinsam schreiben.

 

Dr. Jens Ostwaldt: Asymmetrische Partnerschaften, die Idee zum Beispiel zu sagen, wenn Moscheegemeinden eingebunden werden. Du hast ja das am Anfang gesagt, dass es die Forderung gibt, Moscheegemeinden müssen in der Präventionsarbeit dabei sein und ist uns wichtig, dass ihr mit denen was macht. Das war damals in meiner Praxis, als ich in der Präventionsarbeit unterwegs war, genau das Gleiche. Ich hatte dieses Projekt zum Netzwerkaufbau bzw. zum Aufbau eines Präventionsnetzwerks. Am Anfang war eben als ich mich so ein bisschen umgehört habe, bin ich so ein bisschen durch Baden-Württemberg getingelt und habe mich irgendwie schlau gemacht: „Okay, was muss ich beachten? Was ist so? Was glaubt ihr, was ist wichtig?“ Und an fast jeder Ecke wurden da Moscheegemeinden, islamische Verbände [genannt] – die müssen mit dabei sein, in deinem Präventionsnetzwerk. Und die Frage ist aber, die Frage war…. aber niemand konnte mir so richtig sagen, warum und wie genau das auszusehen hat. Das ist der eine Punkt. Aber der zweite Punkt, der wichtiger ist, dass ja tatsächlich, dass viele Präventions-Projekte das hören und sagen: „ja, so eine Moscheegemeinde ist schon wichtig, dass sie dabei ist“, aber die werden dann eben relativ oft als sozusagen assoziierte Partner eingebunden. Das ist ja so ein bisschen dieser Begriff bei den Anträgen, die sind dann schon dabei, aber kriegen sozusagen kein Budget, sondern schreiben dann vielleicht eine Interessensbekundung und machen dann bei Workshops mit oder liefern vielleicht auch die“ Zielgruppe“ in Anführungsstrichen, also eine Jugendgruppe, mit der man dann Workshop machen kann, was ja total super ist, inhaltlich gar nicht die Frage, aber auch das bindet natürlich wieder ehrenamtliche Kapazitäten. Das heißt, dass bei diesen Projekten relativ, also an wenigen Stellen, auch dann diese Moscheegemeinden als vollwertige Projektpartner mitgedacht werden.

 

Svetla Koynova (KN:IX): Das ist dann eher so ein Nice to have.

 

Dr. Jens Ostwaldt: Ja, so als assoziierte Partner, zu sagen, okay, hier, webt man dann so in diese Interessensbekundung ein und dann sagt man hier:“ die machen doch noch mit und die machen noch mit“, um so auch das Netzwerk aufzuzeigen. Ohne Zweifel wichtig. Das bedeutet aber für die Moscheegemeinden eben, dass für sie keine, neben dem inhaltlichen Mehrwert, der ohne Zweifel abfällt, gar keine Frage, aber eben kein finanzieller Mehrwert im Sinne von wir können dadurch 1/3 Stelle finanzieren abfällt.

 

Svetla Koynova (KN:IX): Ähm. Ich knüpfe jetzt aber auch ein bisschen an die inhaltliche Rolle der Verbände und Vereine an. Wie du gerade gesagt hattest: Oft werden islamische Vereine und Verbände auch als so eine Art Zugangserweiterung gesehen. Sie sollen ihre Jugendgruppen mitnehmen. Sie sollen uns ermöglichen, mit unserer Zielgruppe in Verbindung zu kommen. Aber nicht bei allen Projekten wird auch die inhaltliche und theologische Versiertheit dieser Menschen mitbedacht, die da mitarbeiten. Bei welchen pädagogischen Maßnahmen findest du es denn, und in welchen Fällen findest du es eigentlich besonders wichtig, dass es diese Kenntnis der Religion eigentlich gibt? Oder braucht es das überhaupt? Kontrovers gesagt.

 

Dr. Jens Ostwaldt: Das ist eine interessante Frage, mit der ich mich ja so auch im Laufe der letzten Jahre immer mal wieder beschäftigt habe. Deshalb vielleicht bin ich da auch gar nicht so der krasse Experte, aber hab da vielleicht auch so eine Position entwickelt. Also mein Eindruck ist es, dass in den letzten Jahren durch eben diese Konjunktur von Präventionsprogrammen, Religiöse Sinnsuche und bleiben wir jetzt mal vielleicht kurz im islamischen Kontext, weil es da sehr viel ausgeprägter ist als im christlichen oder vielleicht nur dort zu finden ist, möglicherweise auch, sehr stark verbunden ist mit einer Haltung: „Oh, wir müssen aufpassen, dass die nicht abgleiten mit dieser… Also okay, jetzt ist jemand auf der religiösen Sinnsuche und weiß nicht so richtig. Jetzt müssen wir erst mal gucken, dass wir auf eine Brandmauer gegen Islamismus aufbauen. Und dann kann er sich da sozusagen in dem Spektrum zurechtfinden.“ Jetzt sehr, sehr plakativ gesagt, aber so in diese, in diese Richtung. Was ich da mir wünschen würde, und das hat sich in den letzten Jahren auch in der Praxis gezeigt, ist tatsächlich mehr sozialpädagogische Kompetenz auch in der Religionsvermittlung, also auch in den Moscheegemeinden und aber nicht nur da, sondern eben diese Verbindung von … also Soziale Arbeit hat ja diesen Ermöglichungsaspekt. Also zu sagen, wir unterstützen Menschen dabei und die soziale Arbeit unterstützt Menschen dabei, sagen wir mal ganz einfach, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, mit Herausforderungen umzugehen und dies sozusagen aus sich selbst heraus. Wir brauchen Personen, die in der Lage sind, eine Entwicklung von Menschen, in diesem Fall von jungen Menschen, begleiten zu können. Mit der entsprechenden Kompetenz, auch zu wissen zu einer Entwicklung und auch zu einer Sinnsuche gehört auch ein gewisses Changieren – mal in so eine extreme Richtung und mal da, vielleicht auch mal ganz kurz in so einen problematischen Bereich reinzuschnuppern, wo ich dann eben als sozialpädagogische Fachkraft möglicherweise die Kompetenzen habe das auch entsprechend einzuschätzen. Also dieses Changieren von Jugendlichen, das hat der Matthias tatsächlich in seinem Interview ganz anschaulich dargestellt, also was so eine pädagogische Arbeit in einem Verband bewirken kann, wo es dann eben darum geht, mit den jungen Menschen über Themen zu sprechen, die sie, die sie beschäftigen. Menschen, die dazu in der Lage sind, dies auch zu tun, sich in unterschiedliche Themen einzuarbeiten. Ich habe mit ihm ja auch im Rahmen einer Diss gesprochen und da hat er ganz anschaulich erzählt, was die so machen. Dann gibt es nämlich mal Gesprächskreis, dann gibt es riesige Diskussionen, dann, ich weiß, das ist hängengeblieben: Da meinte er, dann haben sie mal über die protestantische Ethik von Hegel gelesen und so, also so man so denkt, „Okay, habe ich jetzt nicht gelesen“, aber so Sachen, die… Also so Punkte, wo man sagt, okay, das ist vielleicht gerade interessant, dann arbeite ich mich da ein und das hat dann glaube ich viel mehr mit, ich wiederhole mich, sozialpädagogischer Kompetenz oder pädagogischer Kompetenz im Allgemeinen als mit religions-pädagogischer Kompetenz zu tun.

 

Svetla Koynova (KN:IX): Schon seit Beginn des Gesprächs möchte ich dich konfrontieren mit deiner Rolle als Wissenschaftler. Du hast in der Vergangenheit in der Praxis gearbeitet. Das heißt, du kennst auch diese Dilemmata sehr gut, wenn man nach Förderung sucht. Gleichzeitig die Stigmatisierung, die einem entgegen schwappt von unterschiedlicher Seite, wenn man sich mit Extremismusprävention beschäftigt. Und jetzt bist du in der Wissenschaft und hast entsprechend die Möglichkeit vielleicht kontroverse Thesen zu formulieren, weil du vielleicht weniger in Abhängigkeitsbeziehungen stehst und dann auch gleichzeitig, manchmal aber bestimmt auch dafür genutzt wirst, von anderen Akteur*innen vielleicht, auch bestimmte Meinungen zu legitimieren. Von gesellschaftlichen Akteur*innen, die diese Autorität der Wissenschaft nicht genießen. Um ein konkretes Beispiel zu geben: Es werden ja viele, auch islamische Vereine und Verbände von bestimmten gesellschaftlichen Akteuren dann auch unter einen Generalverdacht gestellt, aus dem es sehr schwer rauszukommen ist. Manchmal, weil man auch wenn man ganz klar sich bekennt, zu demokratischen Werten einem unterstellt wird, dass das ja auch nur Schein sein könnte und dass man im Hintergrund doch andere Absicht verfolgt, zum Beispiel das Scharia einzuführen. Wenn dann allerdings eine Wissenschaftler*in kommt und sagt, dem ist nicht so, und zwar basierend auf diese empirischen Basis. Dieser Person wird dann geglaubt, aber nicht den Akteur*innen selbst. Wie verstehst du eigentlich deine Rolle in diesem Netzwerk aus Beziehungen, die ja durchaus auch sehr von Macht mitbestimmt werden?

 

Dr. Jens Ostwaldt: Also ganz, ganz wichtige Frage. Und da will ich ganz ehrlich sein, ich bin da noch auch in einem gewissen Findungsprozess. Also das muss ich ganz ehrlich sagen, diesen Schritt, diese Gedanken mache ich mir natürlich auch. Also inwiefern ist dort sozusagen meine Forschung oder auch die die Artikel, die ich schreibe, welche Wirkung haben die gegebenenfalls auch gesellschaftlich? Und das ist natürlich in dem Kontext sehr sensibel. Ich bin jetzt anderthalb Jahre an der Hochschule, habe vorher natürlich auch wissenschaftlich gearbeitet, aber es war nicht mein Kern, mein Kernbereich, sondern war sozusagen auch so Nebenoutput, wenn man so will, von der praktischen Präventionsarbeit. Und das ist einfach ein Reflexionsprozess, der bei mir jetzt muss ich sagen, ich weiß nicht, wie das bei anderen Kolleginnen und Kollegen ist, die da vielleicht relativ klar das für sich formuliert haben. Aber für mich ist das schon auch noch ein Prozess, den ich, den ich reflektieren muss. Und vielleicht bleibt es auch so, also vielleicht ist das auch eine Sache, wo ich sage, ich muss das immer wieder für mich auch klarkriegen. Ich glaube, man muss sich eben auch immer klarmachen, wie formuliere ich Dinge und wie genau… sodass es sozusagen auch ganz klar ist, was möchte ich damit sagen. Das ist der erste Punkt und der zweite Punkt ist auch dort, obwohl wir uns und möglicherweise ernte ich damit jetzt Widerspruch, obwohl wir uns natürlich in der in der Wissenschaft befinden. Aber ich glaube, in den Sozialwissenschaften ist es auch immer eine Form, auch dort braucht man eine gewisse Ambiguitätstoleranz. Was ich damit sagen will ist, wenn wir zum Beispiel auf islamische Verbände gucken, dann könnte man die Meinung vertreten…. Nehmen wir DITIB als Agent des türkischen Staates, türkische Staatsbeamte als Imame. Also das sind ja Thesen, die es gibt und Position, die es gibt. Und man sollte gar nicht mit denen zusammenarbeiten. Möglicherweise. Dann gibt es aber auch und dann könnte man sagen: „ja viele Punkte, die dort kritisiert werden, stimmen.“ Was aber auch stimmt, ist, dass die Ortsvereine vor Ort sehr gute Arbeit machen, dass es dort viele ehrenamtliche Mitarbeitende gibt, dass die engagiert sind, dass die an ganz vielen Stellen wichtige Partnerinnen und Partner vor Ort sind, dass dort tatsächlich ja auch Gesellschaft gelebt wird. So, und dass wir 1000 Gemeinden haben, die vor Ort sind, die Teil der deutschen Gesellschaft sind wie alle anderen auch. Und was machen wir mit denen? Also das ist eine ganz nüchterne Frage, und ich glaube, da muss ich ganz ehrlich sagen, bin ich so am zwischen so einer harten wissenschaftlichen Positionierung und einer Überlegung: „Okay, es ist aber noch viel mehr.“ Und dieses Ganze, diese Ganze, was viel mehr ist, die Menschen, die dort drum herum sind, diese ganzen unterschiedlichen Aspekte, diese ganze Heterogenität, das ist für mich… das ist  ein Riesen-Reflexionsprozess. Wie kriege ich das sozusagen auch eine Position, die allen Akteuren und Akteuren, in dem Fall jetzt den den Muslimen, Muslimen, die jetzt, um bei dem konkreten Beispiel zu bleiben, bei DITIB aktiv sind, gerecht wird.

 

Svetla Koynova (KN:IX): Ich habe das Gefühl, eine der Schwierigkeiten ist, dass es in den Sozialwissenschaften immer unterschiedliche Ebenen gibt, auf Phänomene zu gucken. Es gibt einfach eine Metaebene, es gibt eine mittlere Ebene, die Meso-Ebene und dann gibt es die individuelle Ebene. Und die Faktoren, die bei der persönlichen Entwicklung da eine Rolle spielen, sind vielleicht ganz andere als bei der Entwicklung einer Organisation oder eines Akteurs, der als Verband auftritt. Ähm, ich habe jetzt einen Punkt, den wir noch gar nicht besprochen haben. Ich weiß nicht, ob du dich da auch überhaupt darauf einlassen möchtest. Das betrifft die Individualebene, und zwar vielleicht auch eher eine spezifische Extremismuspräventionsarbeit, nämlich die sogenannte selektive und indizierte Prävention, bei der es darum geht, Menschen, die von einer Radikalisierung gefährdet sind oder sich in einem Radikalisierungsprozess befinden, zu beraten und zu begleiten. Und da fragen wir uns auch, und das finden wir weiterhin eine kontroverse Debatte, der Extremismusprävention, auch, auf die wollen wir uns ja immer einlassen: In welchen Fällen ist eigentlich ein religionssensibler Zugang der richtige und in welchen Fällen ist eigentlich die Religion selbst und diese spirituellen Fragen, über die wir gesprochen haben, vielleicht auch gar nicht so wichtig? Hast du dazu eine Meinung als Wissenschaftler oder als Praktiker? Das ist beides interessant.

 

Dr. Jens Ostwaldt: Also ich versuche natürlich möglichst zu differenzieren. Aber ganz natürlich, ganz klar. Ich habe eine Perspektive auf das Phänomen als Praktiker gehabt. Und diese Perspektive lege ich ja sozusagen nicht ab mit der Wissenschaft. Man ist ja immer ein immer ein bisschen biased irgendwie. Und das ist auch ich glaube, wenn man das, wenn jemand sagt, nein, bin ich nicht, es ist einfach. Also vielleicht gibt es da Personen, keine Ahnung, aber ich glaube, dass das nicht möglich ist, weil man ja auch immer mit einer spezifischen Weltsicht irgendwie auf Sachen guckt, also deine Zusammenfassung, deine Paraphrasierung hat es genau getroffen. Unterschiedliche Perspektiven verlangen oder bringen tatsächlich unterschiedliche Dinge hervor, die auch möglicherweise auch schwer miteinander zu vereinbaren sind, weil die sich vielleicht widersprechen. Und da wären wir wieder bei Ambiguitätstoleranz und das muss man dann irgendwie zusammenbringen. Und das ist dann auch für Wissenschaft, glaube ich, gar nicht so einfach, würde ich sagen. Gegebenenfalls. Okay. Sorry. Individualebene. Genau. Also… Ich glaube, dass Religionssensibilität nie fehl am Platz ist. Ich glaube, religionssensible Arbeit ist immer wichtig, unabhängig davon, ob die Person sich religiös aus religiösen Gründen radikalisiert hat oder ob Religion nur, das nur in Anführungsstrichen, „das Vehikel“ gewissermaßen war. Ich bin der Meinung, aber da gibt es ja auch unterschiedliche Positionen in der Wissenschaft… Ich bin der Meinung, dass in den allermeisten Fällen Religion eher das Vehikel ist, also dass die Person tatsächlich eine Ideologie sucht oder ein Vehikel sucht, auf dem die Erfahrung, die Identität usw. die Identitätssuche irgendwie „abgeladen“ in Anführungsstrichen werden können und damit sozusagen ein Grab gefüllt wird, um irgendwie einfach… Das heißt, ich such mir irgendwas und das ist in dem Fall vielleicht die Religion. Das heißt also einfach, es gibt ja diesen Satz, ich weiß gar nicht genau, von wem er stammt. Reden wir von radikalen Islamisten oder von islamisierten Radikalen? Das ist auch schon ein alter Hut. Aber ist ja so ein bisschen auch die Frage in dem Kontext. Und ich glaube, wir sprechen von islamisierten Radikalen, also dass Religion tatsächlich eher so ein bisschen der das Ventil ist, oder? Bzw. die Idee, um das, was schon vorher da ist, irgendwie aufzufüllen oder mit Sinn zu zu füllen. Das führt zu aus meiner Sicht zu zwei Schlussfolgerungen. Die erste Schlussfolgerung ist: Religion spielt trotzdem eine Rolle. Unabhängig davon, ob sie Auslöser ist oder Vehikel ist, ist trotzdem Religion da. Das heißt, die Person versteht sich selber als religiös. Ich muss dann anders mit ihr arbeiten, glaube ich. Also es geht da nicht darum, irgendwie hat irgendwie Suren-Battle zu betreiben, sondern ich muss so ein bisschen gucken, wie komme ich da dahinter? Wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen aus der Ausstiegsberatung spreche, dann bestätigen die das so, dass es tatsächlich weniger darum geht, mit den Personen über theologisch tiefgreifende Diskussionen ins Gespräch zu kommen, sondern eher: Es geht um soziale Problemlagen, wenn man so will. Es geht um mehr, es geht um familiäre Belastung, biografische Belastungen, es geht um Lebensumstände. Und dann geht es irgendwie auch um Religion, weil eben Religion eine Frage von Identitätsfragen dem Moment ist. Deshalb ist Religionssensibilität total wichtig. Das führt zum Zweiten Punkt, dass ich glaube, dass eben auch dort sozialpädagogische Sozialarbeiter-Kompetenzen ganz zentral sind in der Kombination mit jeweils anderen Professionen, also mit Psychologie, auch mit Theologie, natürlich ganz zentral. Dass es dort so ein Zusammenspiel ist. Aber dass ich glaube, dass die soziale Arbeit in der Lage ist, schon einen ganz großen Teil dieser Herausforderungen da aufzuarbeiten, wenn man mit diesen Personen arbeitet.

 

Svetla Koynova (KN:IX): Nochmal vielen herzlichen Dank für Deine Einblicke und für die unterschiedlichen Perspektiven.

Dr. Jens Ostwaldt: Gerne. Vielen Dank für die Einladung. Hat mich sehr gefreut.

 

(Musik)

 

Diese Folge wurde von Violence Prevention Network im Rahmen von KN:IX umgesetzt. Moderation: Svetla Koynova.

Technische Umsetzung: Sophie Scheuble.

Inhaltliche Vorbereitung sowie Schnitt und Postproduktion: Sophie Scheuble und Svetla Koynova.

 

(Abspann Musik)

 

Charlotte Leikert (Outro KN:IX talks): Sie hörten eine Folge von KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. KN:IX talks ist eine Produktion von KN:IX, dem Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“. KN:IX ist ein Projekt von Violence Prevention Network, ufuq.de und der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx. Ihnen hat der Podcast gefallen? Dann abonnieren Sie unseren Kanal und schauen Sie auf www.kn-ix.de vorbei. Sie wollen sich direkt bei uns melden? Dann schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an info@kn-ix.deKN:IX wird durch das Bundesprogramm Demokratie Leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Finanzierung erhalten wir von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Bundesministerium des Inneren, Bau und Heimat, dem Bayrischen Landeskriminalamt, dem Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration in Sachsen-Anhalt, der Landeskommission Berlin gegen Gewalt und im Rahmen des Landesprogramms „Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus“.

 

(Abspann Musik)

Weiterführende Links

Folge #4 von KN:IX Talks: „Zwischen Anerkennung und Stigmatisierung. Muslimische Vereine in der Präventionsarbeit“

https://kn-ix.de/podcast/zwischen-anerkennung-und-stigmatisierung/

„Randbereiche des Extremismus“ auf YouTube

https://www.bpb.de/lernen/bewegtbild-und-politische-bildung/themen-und-hintergruende/322791/randbereiche-des-extremismus-auf-youtube/

Ostwaldt, Jens: Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention. Erfahrungen, Herausforderungen, Perspektiven

https://www.researchgate.net/publication/349589285_Islamische_und_migrantische_Vereine_in_der_Extremismuspravention_Erfahrungen_Herausforderungen_Perspektiven

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