Podcast KN:IX talks
Folge #13 | Auf den Spuren des christlichen Antijudaismus
Umgang mit dem verbindenden Feindbild Antisemitismus in der Extremismusprävention
Staffel 5 von KN:IX talks in 2023 beschäftigt sich mit dem Thema Antisemitismus. In dieser ersten Folge der neuen Staffel von KN:IX talks zeichnen wir die Entwicklung antisemitischer Muster von Antijudaismus bis hin zu modernen verschwörungsideologischen Codes nach. Wir möchten wissen, wie sich Antisemitismus verändert hat und was das Ganze mit dem Christentum zu tun hat. Dabei stoßen wir auch auf ein paar überraschende Fragen. Was haben rote Haare mit Antijudaismus zu tun? Und warum ist die Bezeichnung „christlich-jüdisches Abendland“ eigentlich antisemitisch?
Im Podcast zu Gast
Dr. Katharina von Kellenbach ist Projekteferentin für „Bildstörungen: Elemente einer antisemitismuskritischen pädagogischen und theologischen Praxis“, ein Projekt der Evangelischen Akademie zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der jüdisch-christlichen Beziehung, der theologischen und familienbiographischen Reflektion der Shoah, der feministischen Theologie und dem interreligiösen Dialog.
Transkript zur Folge
(O-Ton, Musik im Hintergrund)
Dr. Katharina von Kellenbach: Es heißt, in der Feindschaft oder in der Ablehnung der Juden treffen sich gegensätzliche politische Positionen: rechts und links, islamistisch und AfD, also… Leute, die queer und homophob [sind], feministisch und konservativ. Also in dieser Ablehnung oder im Antisemitismus wird eine Gemeinschaft gegründet. Sie ist gemeinschaftsfördernd.
(Musik im Hintergrund)
Dr. Katharina von Kellenbach: Juden sind in keinem Land momentan wirklich sicher. Das heißt, die Gewalt, die mit dieser Ideologie verbunden ist, ist real. Und beeinträchtigt das Leben von Juden, aber auch von den Interaktionen, wie wir uns als Gesellschaft verstehen. Ob wir uns als eine pluralistische Gesellschaft verstehen. Diese demokratische Idee der Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit, die diesem nationalem Gedanken eigentlich entgegensteht.
(Intro KN:IX talks)
Charlotte Leikert (Intro KN:IX Talks): Herzlich willkommen zu dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. Bei KN:IX talks sprechen wir über das, was die Präventions- und Distanzierungs-Arbeit in Deutschland und international beschäftigt. Für alle, die in dem Feld arbeiten oder immer schon mehr dazu erfahren wollten: Islamismus, Prävention, Demokratieförderung und politische Bildung. Klingt interessant? Dann bleiben Sie jetzt dran und abonnieren Sie unseren Kanal KN:IX talks. Überall da, wo es Podcasts gibt.
Svetla Koynova (KN:IX): Hallo und herzlich willkommen zu KN:IX talks. Mein Name ist Svetla Koynova und gemeinsam mit meinen Kolleginnen Meryem Tinc und Alexandra Korn verantworte ich die Folgen von KN:IX talks, die von Violence Prevention Network produziert werden. In der ersten Staffel von KN:IX talks im Jahr 2023 widmen wir uns dem Thema Antisemitismus.
Laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken nimmt die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland zu. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, ergänzt: “Antisemitismus wird gewalttätiger.” Bundesinnenministerin Nancy Faeser reagierte darauf mit der Ankündigung, antisemitische Straftaten härter zu ahnden. Bei KN:IX talks möchten wir moderne Ausprägungen des Phänomens beleuchten und in seinen unterschiedlichen Facetten diskutieren, um der Frage nachzugehen, wie sich die Extremismusprävention wirkungsvoll dagegen einsetzen kann. Wir möchten in dieser ersten Folge der Staffel einen Blick in die Vergangenheit werfen und die Entwicklung antisemitischer Muster von Antijudaismus bis hin zu modernen verschwörungs-ideologischen Codes nachzeichnen. Wir wollen verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Antisemitismus auch heute noch so weitverbreitet ist. Wir möchten wissen, wie sich der Antisemitismus verändert hat und was das Ganze mit dem Christentum zu tun hat. Dabei stoßen wir auf ein paar überraschende Fragen: was haben rote Haare mit Antijudaismus zu tun? Und warum ist die Bezeichnung “christlich-jüdisches Abendland” eigentlich antisemitisch?
Über die Antwort auf diese Fragen werden wir mit unserer heutigen Gästin, Frau Dr. Katarina von Kellenbach sprechen. Dr. von Kellenbach ist Projekteferentin für „Bildstörungen: Elemente einer antisemitismuskritischen pädagogischen und theologischen Praxis“ Katharina studierte evangelische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Berlin (West) und in Göttingen, bevor sie 1983 in die USA zog, um an der Temple University in Philadelphia zum Thema Anti-Judaism in Feminist Religious Writings zu promovieren. 1991 wurde sie am St. Mary’s College of Maryland eingestellt, wo sie den Fachbereich in Religious Studies aufbaute und eine akademische Karriere als Professor of Religious Studies durchlief. 2018-2019 verbrachte sie als Leiterin der ZiF Forschungsgruppe „Felix Culpa: Zur kulturellen Produktivität der Schuld“ und 2019-2020 war sie Visiting Corcoran Chair in Christian-Jewish-Relations am Boston College in Boston. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der jüdisch-christlichen Beziehung, der theologischen und familienbiographischen Reflektion der Shoah, der feministischen Theologie und dem interreligiösen Dialog.
Vielen Dank, Katharina, dass du dich heute zu diesem Gespräch bereiterklärt hast. Wieso ist es wichtig, die Mechanismen von Antisemitismus zu verstehen, wenn man sich mit Phänomenen wie Islamismus oder Rechtsextremismus beschäftigt?
Dr. Katharina von Kellenbach: Weil Juden immer “the canary in the mine” sind, sagt man auf Englisch. Das heißt, es ist der Kanarienvogel in der Kohlenmine, im Schacht. Sie sind immer eine Minderheit, die stören…. Die Harmonie, die Gleichsamkeit, die also diese Idee der totalen Harmonie stören. Und darüber werden sie immer zum Ziel, zur Zielscheibe extremistischer Bewegungen, die ja genau eine Gleichheit, eine Harmonie, eine totale Gesellschaft anstreben. Und deswegen ist Antisemitismus zentral, um Extremismus zu verstehen, aber auch, um Extremismus aufzubrechen oder zu bekämpfen, weil es ja darum geht, Respekt für Andersartigkeit einzuüben. Und das Judentum als Religion besteht auf der Sonderlichkeit, auf der Grenze. Also das ist schon in der hebräischen Bibel so angesagt. Also dieses Volk, diese Gruppe soll anders sein als die anderen. Und diese Abgrenzung und dieser Minderheitenstatus wird auch in der religiösen Praxis kultiviert. Also anders zu leben als alle anderen: anderes Essen, andere Feiertage, andere Gesetze. Also diese Sonderstellung, diese Sonderbarkeit ist Teil der religiösen Aufgabe Israels in der Welt, könnte man sagen. Und dieser Minderheitenstatus ist immer ein Dorn im Auge der Mehrheitsreligionen, also des Christentums und des Islams, die ja ebenfalls aus dem Bund Gottes mit Abraham entspringen, sich da einschreiben und die aber universalen Anspruch haben.
Svetla Koynova (KN:IX): Kannst du uns erzählen, wie der Antisemitismus als säkularisiertes Weltbild in der Gegenwart präsent ist?
Dr. Katharina von Kellenbach: Ich würde sagen, dass der Antisemitismus in ganz unterschiedlichen Heilsvisionen und Unheilserklärungen eingeschrieben ist. Heilsvisionen, und es kann eine christliche Heilsvision sein; es kann eine islamische Heilsvision sein, es kann eine nationalsozialistische Heilsvision sein. Also das Heil, das diese Bewegung anstrebt, schließt Juden aus. Also ganz dezidiert: “Die dürfen da nicht mehr drin sein” und als Unheils Erklärung fungieren die Juden als diejenigen, die das zersetzen, die das zerstören, die als Gegner, als Feinde zu diesem Heil fungieren. Und wenn man die Juden ausschalten kann, dann kommen wir dem Heil näher. So funktioniert Antisemitismus. Ich möchte das zum Beispiel an Teilen, das ist jetzt ein heißes Thema, umstrittenes Thema, an Teilen der BDS Bewegung zum Beispiel oder der postkolonialen Israelkritik nachzeichnen, die sich so auf Israel als Beispiel stürzen, als Paradigma der europäischen Kolonialpolitik von Rassismus, von allem, was was Übel ist oder was sozusagen dem Heil entgegensteht, also der Gerechtigkeit, dem Frieden, der postkolonialen antirassistischen Arbeit. Und irgendwie, wenn man Israel ausschaltet, wenn Israel nicht mehr existiert, dann kommen wir zu dieser heilen Welt, dann erreichen wir diese Idee einer gerechten, postkolonialen Welt. Und damit wird Israel genau auch wieder zu so einem Schlüsselpunkt der Heilsvision und der Unheilserklärung. Was nicht bedeutet, dass natürlich ganz viel fürchterlich ist und diskutiert werden muss usw. usw. Aber Antisemitismus oder der Antisemitismus ist dann präsent, wenn das nicht mehr rational, nicht mehr faktisch, nicht mehr politisch diskutiert wird, sondern tatsächlich Teil dieser Heilsvision und Unheilserklärungen wird – und warum es Israel ist, warum das die Juden sind, sein müssen…? Also ein winziges Land, eine kleine Gruppe, die wirklich 1 %, ja so verschwindend gering ist. Das kann nur Antisemitismus erklären.
Svetla Koynova (KN:IX): Kannst du uns erzählen, wann und warum sich der christliche Antijudaismus zu einem Antisemitismus, wie wir ihn heute nennen, entwickelt hat und wie es vielleicht in Europa war im Vergleich zu anderen Ländern und Gebieten?
Dr. Katharina von Kellenbach: Also mit der Französischen Revolution, mit der Idee der Egalité, Fraternité und Liberté wurden alle Menschen zu Bürgern gemacht. Und wenn ich sage alle Menschen, dann meine ich, dass bestimmte Menschen eben noch keine Bürger waren. Und dazu gehörten Frauen, dazu gehörten Juden und dazu gehören zumindest in den USA, Sklaven, aber auch in europäischen Ländern, die eben Kolonien hatten, gehörten Sklaven, hatten keine Bürgerrechte. Das heißt, das 19. Jahrhundert ist im Grunde ein ganzes Jahrhundert, in dem diskutiert wurde, wer eigentlich dazugehört. In Europa waren das Juden. Die Französische Revolution hat entschieden, dass jüdische Männer auch gleiche Rechte haben sollten, aber nur, wenn sie ihre Privilegien, ihren privilegierten Status innerhalb der jüdischen Gemeinde aufgeben. Aber in Deutschland waren es fast 70 Jahre, in denen diskutiert wurde, ob Juden Bürgerrechte bekommen sollen oder nicht. Und in dieser Debatte, wo jeder Philosoph, jeder Schriftsteller, jeder Bürgermeister, jeder Pfarrer ein kleines Pamphlet, ein kleines Manifest zur jüdischen Frage geschrieben hat: “Können Juden zur Schule gehen?” Die Schule war eine christliche Schule. “Sollen Juden in eine christliche Schule gehen?” ,”Muss sich die Schule verändern?”,” Können Juden überhaupt ausgebildet werden?”, “Können sie Ärzte werden?”, “Können sie aufgenommen werden in die deutsche Gesellschaft?” Diese Debatten waren politische Debatten und waren dann der Kern des Antisemitismus. In 1870 wurden im ganzen Deutschen Reich Juden, jüdische Männer, muss man sagen, emanzipiert. Und ein Jahr später wurde die antisemitische Partei ausgerufen und das Wort Antisemitismus erfunden. Und im Gegenzug, weil ich ja Amerikanerin bin, ist es interessant, die US-Geschichte anzuschauen, wo das nie eine Frage war. Juden waren Bürger, weil sie weiß waren. Der Rassismus und der Antisemitismus sind die Ideologien, die dann daraus erwachsen. Nachdem das politisch durchgesetzt war, die Gleichheit. Also politisch waren sie gleich. Aber dann kommt der Rassismus und der Antisemitismus, der dann richtig ausschließt und dann nochmal neu aufrollt. Der Ku-Klux-Klan in den USA, aber der Antisemitismus dann eben in Europa und dann mit den Nationalsozialisten und zwar europaweit. Also wir denken immer, der Nationalsozialismus wäre deutsch. Stimmt. Wobei Adolf Hitler ein Österreicher war. Also mindestens ist es, Österreich Ungarn. Aber es ist ja eine ganze europäische Geschichte, dass die Juden doch noch mal komplett ausgegrenzt werden.
Svetla Koynova (KN:IX): Und es wurde auch Druck ausgeübt im mediterranen Raum, um antisemitische Codes auch zu übernehmen oder auch Ausschlussmechanismen in Kraft zu setzen in anderen Gesellschaften, die eben von Europa aus ausgingen und wovon wir auch im Bereich des islamistischen Extremismus heutzutage auch sehr viel zu tun haben – mit diesen tradierten antisemitischen Codes.
Dr. Katharina von Kellenbach: Die Holocaust-Forschung fängt eigentlich jetzt erst an, wirklich ernst zu machen, dass die Endlösung eben keine europäische, die war nicht auf Europa angelegt, sondern war tatsächlich als eine Welt-Lösung gedacht, “die Endlösung der jüdischen Frage”. Und die war natürlich überall, auch am südlichen Rand des Mittelmeers, unterwegs und hätte nationalsozialistisches Deutschland gewonnen, dann hätten die weitergemacht. Es ist ohne Frage. Und wir fangen jetzt erst an, tatsächlich die Grundlagenforschung zu machen. Was genau in Ländern, wo Rommel war, in Ägypten, was da eigentlich genau passiert ist, auch in den muslimischen Ländern.
Svetla Koynova (KN:IX): Welche Auswirkungen hat die Tradierung dieser Codes eigentlich auch heute noch auf Jüdinnen und Juden?
Dr. Katharina von Kellenbach: Es ist fatal auch. Also ich meine, es fängt damit an, dass in Deutschland ein Polizeiauto vor der Synagoge steht. Das ist ein Unding. Aber Juden sind in keinem Land momentan wirklich sicher. Das heißt, die Gewalt, die mit dieser Ideologie verbunden ist, ist real. Und beeinträchtigt das Leben von Juden, aber auch natürlich von uns allen, von den Interaktionen, also wie wir uns als Gesellschaft verstehen, ob wir uns als eine pluralistische Gesellschaft verstehen, also diese demokratische Idee der Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit, dass die diesem Nationalgedanken eigentlich entgegensteht, wo eigentlich alle gleich sind, also alle christlich, alle weiß, alle, was immer diese populistisch-nationalistische Idee sein mag. Und dagegen steht eine Idee, dass wir unterschiedlich – multireligiös, pluralistisch, vielfarbig [sind]. Also wie das ausschauen könnte, als eine Demokratie. Ich denke, da sind wir immer noch, nach 200 Jahren sind wir da immer noch dran. Ich kann nur sagen, dass ich tatsächlich in den USA das lange Zeit eben anders erlebt habe, dass die Synagogen immer offen waren, dass da nie ein Polizeiauto davor stand, dass jüdische Studierende jederzeit sagen konnten: “Ich bin jüdisch, bin orthodox, ich lebe koscher, was auch immer.” Das hat sich in den letzten fünf, acht Jahren auf jeden Fall verändert an den Unis, weil jüdische Studierende über Israel extrem angefeindet werden, so dass sie sich auch nicht mehr trauen zu sagen, dass sie jüdisch sind, weil sie sofort mit der Politik Israels identifiziert werden. Und auf der Straße natürlich nach Pittsburgh, aber auch nach Charlottesville, die Synagogen auch angefangen haben aufzurüsten. Und in Charlottesville haben ja diese White Nationalists auch tatsächlich gerufen: “Jews will not replace us”. Und sie haben die Synagoge angegriffen. Also das passierte, war aber tatsächlich auch als eine Zeitenwende oder als ein richtiger Schub erfahren von den jüdischen Gemeinden in den USA, die sich eigentlich relativ sicher gefühlt haben und wirklich überrascht und schockiert waren. Die Vehemenz, die Geschwindigkeit, mit der auf einmal alle wussten, wer Rothschild ist, das war ein “non-issue”, es ist also – es ist ja eine sehr kapitalistische Gesellschaft, Geld, Banken etc. Auf einmal kommt dieser Code “Rothschild” raus und die Leute verstehen das, was damit gemeint ist. Also das finde ich einfach immer wieder erstaunlich, wie so was hochpoppt und dann sofort Power annimmt.
Svetla Koynova (KN:IX): Ich fand es auch interessant, diese Parallele mit diesem Slogan des Austausches: Das Narrativ des Bevölkerungsaustausches, das sich hier in Deutschland primär gegen Muslime und Musliminnen wendet, ist hier auch präsent. Also wie sozusagen zwischen den verschiedenen Ausgrenzungsbewegungen und zwischen den verschiedenen Formen der Menschenfeindlichkeit auch ein Austausch stattfindet. Welche Codes des alten Antijudaismus findet man heute wiederin deutschsprachigen Gesellschaften? Vielleicht um das noch mal zu präzisieren?
Dr. Katharina von Kellenbach : Ich würde noch tiefer gehen als die Codes, aber die Codes können sich nämlich anpassen. Aber Antijudaismus ist eine Denkstruktur. Eigentlich ist es ein Weltbild, das dem Christentum eingeschrieben ist. Und in diesem Weltbild fallen den Juden bestimmte Rollen zu. Und eine Rolle ist, dass sie Macht haben und schuldig sind und irgendwie von Anfang an bösartig codiert sind. Und wie sich dann diese Bösartigkeit genau auslebt, hat sich in den Jahrhunderten in verschiedenen Codes dann niedergeschrieben. Aber das Verschwörungsmotiv. Das Verratsmotiv, das Geld- und Machtmotiv sind schon im Neuen Testament angelegt und haben dann über die Jahrhunderte einfach verschiedene Geschichten und Bilder noch dazugewonnen. Das zweite Motiv ist, dass die Juden immer die Feinde sind, die Gegner. Und wie diese Feindschaft dann genau ausschaut, ist auch absolut variabel. Das heißt Juden “sind” [in diesen Narrativen] Kommunisten und Kapitalisten und Rassisten und Internationalisten und Frauenfeinde und weichlich verweichlichte Nicht-Männer, sind Wehrzersetzer und Militaristen usw. Es ist absolut widersprüchlich. Das Einzige, was immer gleich bleibt, ist die Gegnerschaft, also die Gegenposition. Und die dritte Rolle, die Juden im christlichen Weltbild spielen, ist, dass sie immer alt sind, die Wurzel sind, etwas ist, was überwunden werden muss und irgendwie Teil der Identität sind, aber gleichzeitig auch abgeschafft, beseitigt, überwunden werden muss. Und diese drei Rollenzuschreibungen sind theologisch eingeschrieben. Aus der christlichen Theologie, sind aber dann im 19. Jahrhundert säkularisiert und wie gesagt, in hunderten Einzelbeispielen und dann noch mal konkreten Bildern und Geschichten niedergeschrieben worden.
Svetla Koynova (KN:IX) : Das heißt, man denkt sich sozusagen ein Feindschaftsbild aus und man überträgt das auf Juden und Jüdinnen. Kann man das so sagen? Oder man hat eine Intuition, wer die Feinde sind. Und man verbindet Juden und Jüdinnen mit diesem und jenem Feindbild.
Dr. Katharina von Kellenbach: Eigentlich eher noch umgekehrt, dass die Feinde irgendwie jüdische Züge dann auch annehmen. Also ich habe meine Dissertation ja in feministischer Theologie geschrieben und was mir dann da eben aufgefallen ist, dass eine Theologie, die neu ist, die progressiv ist, die eine Vision hat dessen, wie eine feministische Welt auszusehen hat, dass in dieser Vision auf einmal die Gegenseite, also das Patriarchat, der Ursprung des Patriarchats, die Verfechter des Patriarchats, die nehmen dann auf einmal jüdische Züge an. Also auf einmal wird dann eben der Monotheismus zum Ursprung des Patriarchats, oder die Pharisäer werden zu Verfechtern des Patriarchats. Oder Paulus wird in seiner Jüdisch-keit zum Patriarchen und in seiner Christlichkeit zum Feministen. Also es gibt… Es passiert so eine Aufspaltung, wer wir sind oder wer wir sein wollen und welche Teile des Christentums wir annehmen wollen. Und die Gegenseite wird dann irgendwie jüdisch und dadurch wird das ganze Judentum dann auch noch mal patriarchalischer, als es eigentlich ursprünglich war, weil nämlich im 19. Jahrhundert war es genau andersherum. Da war das Jüdische verweichlicht, da war das Christentum richtig männlich und patriarchalisch und aufrecht und statthaft und die Juden waren irgendwie verweichlicht und süßlich und materiell und körperlich. Also da war genau, was dann als jüdisch galt, genau das Gegenteil. Und das meine ich damit, also es ist gar nicht mal, dass die Juden irgendwie sind und dann zum Feind werden, sondern wir haben bestimmte Feinde, und die nehmen dann irgendwie jüdische Züge an.
Svetla Koynova (KN:IX): Das ist auch interessant. Deswegen sprechen wir auch von Codes, weil es nicht immer direkt ist, sondern es so Andeutungen sind, die irgendwelche vermeintlichen Eigenschaften darstellen sollen. Aber eigentlich ist es nur ein Bezugspunkt zu einem bereits bekannten Feindbild. Ich habe, weil wir jetzt ganz viele eigentlich dieser Stereotype auch in dem Gespräch selbst erwähnt haben… Wollte ich dich fragen, wie du damit umgehst in deiner Bildungsarbeit, mit der Benennung dieser Stereotype oder dieser Codes, um sie erkennbar zu machen, aber ohne auch noch die Vorurteile und die Feindschaft selbst zu kristallisieren und wiederzugeben. Wie gehst du damit um in der Bildungsarbeit um?
Dr. Katharina von Kellenbach: Also ich habe jetzt angefangen, wirklich mit Schulbüchern zu arbeiten. Erstens, weil Kinder unschuldig sind. Also darüber hebelt man aus, dass Menschen sofort in die Abwehr gehen. Also wir wissen, dass insbesondere in Deutschland, wenn jemand oder etwas als antisemitisch bezeichnet wird, dann ist ein Skandal schon angesagt und die Leute werden sofort defensiv. Aber Kinder sind unschuldig. Also die können eigentlich noch nichts dafür. Und in den Schulbüchern, insbesondere in den Religionsbüchern, werden ganz viele antijüdische Inhalte transportiert, zum Beispiel in Geschichten über Judas, den Verräter, ganz oft dargestellt, mit Kippa oder auch so ein bisschen dunkelhäutig. Und um ihn rum steht dann so eine Gruppe von Pharisäern und Hohenpriestern, die irgendwie so klüngelig, wie so klüngelig, drum rum stehen. Und damit hat man sowohl das Verschwörungsmotiv, als auch das Geldmotiv, als auch das Verratsmotiv schon in dem Bild. Und dass das aber antijüdisch ist, also antisemitisch, nennen wir das Wort ist, ist ja den Schulbuchautoren und den Religionslehrern, geschweige denn den Kindern, überhaupt nicht bewusst. Und trotzdem absorbieren wir dadurch bestimmte negative Stereotype gegenüber dessen, was was jüdisch sein bedeutet. Und das, finde ich, funktioniert relativ gut und vielleicht besser als, sagen wir mal, bei der documenta in Kassel, wo ein Bild auftaucht und dann einfach im Raum steht: “Das ist ein antijüdischer Code”. Aber das kann eigentlich gar nicht diskutiert werden. Also ich finde es ganz schwierig, dass wir… dass die Debatte eben so kontrovers oder? Hochgradig emotional? Geführt wird, dass Lernprozesse ganz, fast unmöglich, werden. Man muss sich bestimmte Sachen anschauen, um sich deren bewusst zu werden und dann auch eine Sprache zu finden. Ich weiß nicht, wie ihr damit umgeht. Es ist ein Dilemma.
Svetla Koynova (KN:IX): Es ist sehr interessant, dass du sagst eigentlich, das visuelle Bild kann uns helfen, Wörter zu finden für das, was wir vielleicht auch im ersten Moment nicht erkannt habe als Code. Im wahrsten Sinne des Wortes können wir an den Bildern nachvollziehbar machen, was problematische Codes und darüber dann auch eine Diskussion führen, wo das eventuell herkommt. Und du hast jetzt in deiner Beschreibung des Bildes bereits mehrere antisemitische Motive benannt und hast es ist auch gleichzeitig, fand ich sehr interessant, direkt auch verbunden mit diesen rassischen Attributen, die dann auch Juden und Jüdinnen zugeschrieben werden.
Dr. Katharina von Kellenbach: Also in der Kirchengeschichte wurden diese Codes im Mittelalter über diese spitzen Hüte transportiert. Das war der Code, worüber die Leute wussten, dass es sich hier um Juden handelt, aber nichts im Gesicht. Also die Gesichter waren irgendwie nicht anders codiert, sondern tatsächlich eine äußere… ein Kleidungsmerkmal, diese Hüte und manchmal auch die Zeichen. Aber ab einem bestimmten Punkt kommen dann die Nasen ins Spiel, dass tatsächlich die als jüdisch markierten. Und Judas ist ja immer der Einzige der zwölf Apostel, der deutlich jüdisch ist. Und der wird tatsächlich mit der Hakennase, mit roten Haaren und zum Teil zunehmend auch mit einer dunkleren Hautfarbe dargestellt. Und das kumuliert über die Jahrhunderte hinweg.
Svetla Koynova (KN:IX): Und was haben diese antijüdische und säkulär-antisemitische Codes mit Verschwörungstheoretikern von heute zu tun?
Dr. Katharina von Kellenbach: Antisemitismus funktioniert, um Gemeinsamkeiten oder Widersprüche unterschiedlicher politischer Positionen zu überbrücken. Das heißt, in der Feindschaft oder in der Ablehnung der Juden treffen sich gegensätzliche politische Positionen: rechts und links, islamistisch und AfD, also Leute, die queer und homophob [sind], feministisch und konservativ. In dieser Ablehnung oder im Antisemitismus wird eine Gemeinschaft gegründet. Sie ist gemeinschaftsfördernd. Und auch das ist eine ganz alte Tradition, dass in dem “Geld-Juden” sich die Stände und die Bauern und da konnten sich unterschiedliche Gruppen wiederfinden, die eigentlich gegeneinander konkurriert haben. Aber die Juden stehen sozusagen im Zentrum und im Hass. Und dann, in der Vertreibung der Juden, konnten sich diese Konflikte und diese Widersprüche auflösen. Und insofern ist der Antisemitismus ein Brückennarrativ. Also zum Beispiel das “jüdisch-christliche Abendland” wäre so eines, und dieser Topos zum Beispiel ist ja sowohl anti-islamisch erst mal aufgeladen. Also es geht darum, wer ausgeschlossen wird. Aber es ist gleichzeitig auch ein antijüdischer Topos, weil in diesem Begriff der jüdisch-christlichen Zivilisation das Jüdische aktiv unsichtbar gemacht wird. Also das Jüdische besteht dann allenfalls aus dem Alten Testament, aber nicht auch aus einer eher ebenbürtigen, widerständigen, vitalen, dynamischen Religionsgemeinschaft, die es in Europa gegeben hat. Die ist ja überhaupt nicht damit gemeint. Wenn Leute von der jüdisch-christlichen Tradition sprechen, dann sprechen sie von der christlichen Tradition mit einem jüdischen Buch. Das heißt, es ist sowohl ein antijüdischer Begriff, der das Judentum aktiv ent-eignet, ent-erbt, sich einverleibt und unsichtbar macht als eine Gegenkraft, als auch ein antiislamischer Begriff. Aber es ist ein Brückennarrativ insofern, als der Anknüpfungspunkte hat in der Mitte der Gesellschaft. Also das finden viele Leute eigentlich sehr einleuchtend und richtig. Als Begriff.
Svetla Koynova (KN:IX): Kannst du uns noch ein bisschen was über euer Podcast Bildstörung erzählen? Was sind die Themen? Was habt ihr damit vor? Wen wollt ihr erreichen?
Dr. Katharina von Kellenbach: Also wir haben uns jetzt entschieden, tatsächlich an den christlichen Bildern zu arbeiten und jeweils in 30 Minuten ein Stereotyp aufzunehmen und die Geschichte, also ein Bild auch zu nehmen. Es meistens aus Schulbüchern oder aus anderen bekannten Darstellungen, aus Kirchen, Malereien, Reliefs. Und dann die Geschichte zu erzählen und dann dieses Bild zu ent- stören. Wir haben inzwischen gemacht “Judas” und haben versucht, diese Judas-Geschichte noch mal anders zu verstehen, weil Tatsache ist, das Neutestamentliche geht ja nicht weg. Das Neue Testament ist auch ein jüdisches Buch und man kann und muss diese Geschichten noch mal anders verstehen. Auch die Geschichte von Judas. Wir haben die Geschichte der Tempel Reinigung genommen und haben da so eine Karikatur genommen, wo Jesus die Banker aus Wall Street vertreibt. Also dieses Motiv, dass Jesus eben die Händler, das Geld und die Tempel-Eliten austreibt – ein antijüdisches Motiv. Wir haben das Motiv der Ehebrecherin genommen, wo die Pharisäer und Schriftgelehrten kommen, mit den Steinen in den Händen und diese Ehebrecherinnen steinigen wollen, die da von Jesus geschützt werden. Alles das sind biblische Geschichten, die sich aber eben säkularisiert haben und benutzt werden, ohne dass die biblischen Wurzel-Geschichten noch bekannt sind. Und das wollen wir eben in ganz kurzen Narrativen stören und ent-stören.
Svetla Koynova (KN:IX): An wen wendet ihr euch mit dem Podcast?
Dr. Katharina von Kellenbach: Also wir hoffen tatsächlich auch Religionslehrer, Kindergarten[lehrkräfte] oder was weiß ich. Also überall, wo diese Geschichten erzählt werden, aber vielleicht auch durchaus Antisemitismus-Experten, die den religiösen Background nicht mehr haben und auch nicht mehr genau verstehen, wo diese Geschichten eigentlich herkommen und wie man den Text noch mal anders lesen kann, damit nicht diese Vorurteile weiter bestärkt und unterstützt werden.
(Outro KN:IX talks)
Charlotte Leikert (KN:IX) : Sie hörten eine Folge von KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. KN:IX talks ist eine Produktion von KN:IX, dem Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus. KN:IX ist ein Projekt von Violence Prevention Network, ufuq.de und der Bundesarbeitsgemeinschaft Religiös-begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx. Ihnen hat der Podcast gefallen? Dann abonnieren Sie uns und bewerten KN:IX talks auf der Plattform Ihres Vertrauens. Wenn Sie mehr zu KN:IX erfahren wollen, schauen Sie doch auf unserer Webseite www.kn-ix.de vorbei. Und wenn Sie sich direkt bei uns melden wollen, dann können sie das natürlich auch machen mit einer Email an info[at] kn-ix.de. Wir freuen uns über Ihre Anmerkungen und Gedanken.
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KN:IX wird durch das Bundesprogramm Demokratie Leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Finanzierung erhalten wir von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration in Sachsen-Anhalt, der Landeskommission Berlin gegen Gewalt und im Rahmen des Landesprogramms „Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus“. Die Inhalte der Podcast Folgen stellen keine Meinungsäußerungen der Fördermittelgeber dar. Für die inhaltliche Ausgestaltung der Folge trägt der entsprechende Träger das Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus die Verantwortung.
(Abspann Musik)
Weiterführende Links
Zum Begriff Säkularisierung: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik-lexikon/321226/saekularisierung/
Das Projekt „Bildstörungen“: https://www.eaberlin.de/akademie/studienleitung/dr-katharina-von-kellenbach/
Das Kompetenznetzwerk Antisemitismus: https://kompetenznetzwerk-antisemitismus.de/
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