Podcast KN:IX talks

Folge #16 | Ideologie oder Psyche? Debatten um Extremismus und Radikalisierung

Bei extremistischen Straftaten wird häufig die Frage gestellt, ob der oder die Täter*in vor allem aus ideologischen Gründen gehandelt hat oder aufgrund einer psychischen Störung. In Folge #16 von KN:IX talks widmen wir uns deshalb den Zusammenhängen und Wechselwirkungen von psychischer Verfasstheit und Radikalisierung.

Dazu sprechen wir mit der forensischen Psychiaterin Dr. Nahlah Saimeh. Aus ihrer Tätigkeit als Gutachterin weiß sie, dass psychische Störungen und Erkrankungen bei den wenigsten Täter*innen vorhanden sind und betont, wie wichtig es ist, jeden Einzelfall zu prüfen. Außerdem kommen Kolleg*innen aus einigen der Mitgliedsorganisationen der BAG RelEx zu Wort und erzählen, inwiefern sie das Thema psychische Verfasstheit in ihrer Praxisarbeit beschäftigt.

Im Podcast zu Gast

©Ralf Zenker für Nahlah Saimeh

Dr. Nahlah Saimeh (*1966 in Münster) ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Forensische Psychiatrie. Sie leitete lange Jahre Kliniken für forensische Psychiatrie, unter anderem war sie von 2004-2018 Ärztliche Direktorin am LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt und Leiterin des Gutachten- und Fortbildungsinstituts. Seit 2018 ist sie als forensische Gutachterin selbständig. Sie ist Dozentin und Autorin diverser Bücher. Zu ihren Schwerpunktthemen zählen u. a. Radikalisierung und Extremismus.

Transkript zur Folge

(O-Töne, Musik im Hintergrund)
Dr. Nahlah Saimeh: Die großen terroristischen Anschläge sind in der Regel nicht von psychisch kranken Leuten begangen worden, dazu sind sie auch viel zu komplex. Aber es gibt eben Einzeltäter, die durchaus auch für mehrere Tote und Schwerverletzte sorgen können, je nachdem, was für eine Waffe eingesetzt wird und die dann eben im Nachhinein tatsächlich eine Schizophrenie haben. Es ist schon eine relevante Zahl, das ist nicht zu vernachlässigen. Aber man kann nicht sagen, dass die alle psychisch krank sind. Das ist eben falsch.

 

(Musik im Hintergrund)
Charlotte Leikert (Intro KN:IX talks): Herzlich willkommen zu KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen Der Islamismusprävention. Bei KN:IX talks sprechen wir über das, was die Präventions- und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international beschäftigt. Für alle, die in dem Feld arbeiten oder immer schon mehr dazu erfahren wollten: Islamismus, Prävention, Demokratieförderung und politische Bildung. Klingt interessant? Dann bleiben Sie jetzt dran und abonnieren Sie unseren Kanal. KN:IX talks – überall da, wo es Podcasts gibt.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Hallo und herzlich willkommen zur 16. Folge von KN:IX talks. Schön, dass Sie wieder dabei sind. Mein Name ist Charlotte Leikert…

 

Ulrike Hoole (KN:IX): … und mein Name ist Ulrike Hoole und gemeinsam hosten wir den Podcast für die BAG RelEx.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Bei extremistischen Straftaten, vor allem bei Einzeltäter*innen, wurde in den letzten Jahren die Frage lauter, ob der oder die Täter*in vor allem aus ideologischen Gründen gehandelt hat oder aufgrund einer psychischen Störung. Und genau darum geht es heute: Wir gucken uns an, wann psychische Belastungen oder Störungen in einer Radikalisierung eine Rolle spielen und sprechen dazu mit der forensischen Psychiaterin Dr. Nahlah Saimeh. Aus ihrer Tätigkeit als Gutachterin weiß sie, dass psychische Störungen und Erkrankungen bei den wenigsten Täter*innen vorhanden sind. Dabei hat sie betont, wie wichtig es ist, sich den Einzelfall anzugucken und dahingehend zu prüfen. Warum für sie bei Radikalisierung sogenanntes dämonisierendes Denken eine besondere Rolle spielt, und das auch unabhängig der Ideologie, verrät sie uns im Laufe der heutigen Folge. Außerdem haben wir uns bei den Mitgliedsorganisationen der BAG RelEx umgehört und auch in diesen Gesprächen festgestellt, dass das Thema psychische Verfasstheit unsere Kolleg*innen beschäftigt. Allerdings in ganz unterschiedlicher Weise. Drei von ihnen kommen heute in der Folge zu Wort, seien Sie gespannt.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Dr. Nahlah Saimeh ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt forensische Psychiatrie. Sie leitete lange Zeit Kliniken für forensische Psychiatrie. Aktuell ist sie als forensische Gutachterin selbstständig. Zu ihren Schwerpunktthemen zählen unter anderem Radikalisierung und Extremismus.

Frau Saimeh, wir möchten uns mit Ihnen heute den Zusammenhängen und Wechselwirkungen von psychischer Verfasstheit und Radikalisierung beziehungsweise extremistisch motivierten Straftaten widmen. Dabei richtet sich unser Podcast vor allem an Personen, die in Präventions- oder Ausstiegsarbeit im Bereich islamistischer Extremismus arbeiten. Sie erstellen forensische Gutachten zur Schuldfähigkeit und zur Gefährlichkeitsprognosen von Straftäter*innen. Haben Sie denn während Ihrer Tätigkeit schon mal ein Gutachten für eine Person aus dem islamistischen Milieu erstellt?

 

Dr. Nahlah Saimeh: Ja, natürlich habe ich auch Leute aus dem islamistischen Milieu begutachtet. Das waren allerdings in dem Fall eher, ich sage mal hierarchisch nachrangige Leute, die dem IS und dem Konzept des IS sehr angehangen haben, weil sie im Grunde eine ganz klare Orientierung suchten für ihr Leben und möglichst wenig selbstreflexiv sich einen Rahmen für ihr Leben setzen wollten. Und das auch durchaus mit sozialstaatlichen Erwartungen verknüpft war, also dass man gewissermaßen Handlangertätigkeiten, administrative Tätigkeiten machen kann und dafür eben dann auch Geld bekommt und eine Wohnung gestellt bekommt. In gewisser Weise so eine Art, wir würden sagen sozialstaatliche Leistungen erhält. Das waren jetzt keine hoch manipulativen Überzeugungstäter, das waren nicht die charismatischen Ideologen und Anführer, sondern das waren eher Leute, die einer guten Sache dienen wollten aus ihrer Sicht und sich dann doch, glaube ich, auch etwas verrannt hatten, respektive die Komplexität unterschätzt hatten. Und das andere war tatsächlich jemand, der so ein bisschen fast Forrest Gump artig – man meint gar nicht, dass es so was gibt – in die Sache reingekommen war, weil er eigentlich übereifrig helfen wollte bei Krankentransporten und mit seinen selbst organisierten Krankentransporten dummerweise in die Frontlinien des IS hineingekommen ist und gewissermaßen die falschen Leute transportiert hat. Also es gibt wirklich ganz unterschiedliche Kasuistiken, die manchmal so sind, dass man sich fragt „Ist es vielleicht doch das Drehbuch zu einem schlechten Film?“ Und es gibt natürlich andere, die hoch militant sind, die schon einer, in dem Fall sozusagen extremistischen Überzeugungen sehr nahestehen, die ich aber dann gesprochen habe im Kontext von ganz anderen Straftaten, wo es gar nicht um terroristische Akte ging.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): In den Fällen, die Sie jetzt gerade genannt haben, hört sich das für mich so an, als würden Sie jetzt, da weniger die Ursachen für die Taten jetzt in der psychischen Verfasstheit oder auch psychischen Störung sehen und dementsprechend wahrscheinlich auch die Schuldfähigkeit entsprechend beurteilen. Kann man das so sagen?

 

Dr. Nahlah Saimeh: Also, das waren Prognosegutachten, das waren tatsächlich Gutachten zur Frage, wie gefährlich die Leute sind. Und da war die Schuldfähigkeit eh geklärt: Das waren alles psychisch gesunde Leute. Und ich selbst kenne aus meiner klinischen Tätigkeit durchaus Fälle von Gewaltstraftaten, wo der Täter ein islamistisches Narrativ hatte, aber der faktisch dann schizophren war. Und man an solchen Fällen sehr gut beobachten konnte, dass wenn man die Schizophrenie dann vernünftig behandelt hat und er Medikamente bekommen hat, dass sich dann diese Ideologie auflöste. Also gewissermaßen die Ideologie war eine Art Folie für die schizophrene inhaltliche Denkstörung.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Bei Gewalttaten, die eben auch als Anschlag interpretiert werden könnten, je nachdem, wie man es eben aus welcher Perspektive man das sieht, und die von muslimisch gelesenen Menschen begangen werden, gibt es ja die Tendenz, dass in der öffentlichen Debatte schnell ein islamistischer Hintergrund angenommen wird, auch wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass sie an einer psychischen Störung leiden. Wie ist denn Ihre Einschätzung, welche Rolle spielen psychische Störungen im Hinblick auf extremistische Gewalttaten?

 

Dr. Nahlah Saimeh: Na ja, also im Regelfall sage ich ganz klar terroristische Gewaltakte, also Terroranschläge, Attentate mit einem definierten ideologischen Hintergrund – und davon ist der Islamismus einer der gesellschaftspolitischen Motivstränge, es gibt ja noch andere – können Sie in der Regel ja nur in Anführungsstrichen vernünftig, also „kriminell vernünftig“ und wirksam begehen, wenn sie nicht psychisch krank sind. Das heißt, die allermeisten Taten von Terroristen, von Attentätern mit einem ideologisch motivierten Hintergrund werden von psychisch nicht sonderlich gestörten Personen begangen, also jedenfalls nicht psychisch kranken Personen begangen. Das ist auch klar, weil sie einen hohen Planungsgrad brauchen, sie brauchen eine gute Absprachefähigkeit, brauchen eine Menge Organisation, Logistik, sie brauchen möglicherweise komplexe Finanzströme, sie müssen eine große Selbstbeherrschung haben. Einer meiner gewissermaßen Lieblingsbeispiele ist zum Beispiel das LKW-Attentat auf der Croisette an der Cote d’Azur vor etlichen Jahren oder eben natürlich auch das Attentat am Breitscheidplatz in Berlin. Sie brauchen ja in der Regel doch eine gewisse Art von Selbstüberwindung, einen LKW in eine Menschenmenge zu steuern. Also man wird ja üblicherweise eher bei einem Erwerb des Führerscheins darauf hin erzogen, nicht in eine Menschenmenge zu fahren. Das heißt, Sie müssen ganz bewusst etwas tun, was sie sonst ja eigentlich nicht tun und Sie müssen darauf in Ihren Willen fokussieren. Und das können Sie eigentlich in der Regel ja nur bei einer relativ guten psychischen Robustheit.

Es gibt aber einzelne Taten, in der Tat, die werden von psychisch kranken Menschen begangen, von häufig dann eben wahnhaft gestörten Menschen oder von schizophrenen Patienten. Und da sie aber im öffentlichen Raum stattfinden, kann man sie zunächst mal formal häufig nicht richtig von Attentaten unterscheiden. Also der mit einem Messer in einer Einkaufsstraße Amok läuft und zufällig auf nordeuropäische aussehende Frauen einsticht und „Allahu Akbar“ schreit, der geht ja dann erst mal gewissermaßen als islamistischer Terrorist vielleicht durch. Aber wenn Sie dann den Einzelfall betrachten und dass die Psychopathologie eben sehr genau untersuchen, also schlichtweg eine klinisch-psychiatrische Untersuchung machen mit der Frage „Hat der was oder hat der nichts?“, dann wird eben deutlich, dass mitunter eine schwere psychische Störung so stark die Persönlichkeit deformiert, dass man das nur noch schwer im engeren Sinne als islamistischen Anschlag bezeichnen kann. Weil einfach sozusagen in der Person selbst so viel Verrücktheit ist. Wenn jemand ideologisch motivierte Gewalt begeht, dann ist das ja nicht im engeren Sinne verrückt, sondern das ist eine zugespitzte Form der sozusagen politischen und ideologischen Meinungsbildung, die für die Person selber natürlich schon eine Funktion hat, aber eben nicht im Sinne eines kompletten Realitätsverlustes.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Also, wenn ich Sie richtig verstehe, dann würden Sie sagen, die Fälle, in denen psychische Störungen die Ursache sind für extremistische Gewalttaten, sind eher geringer einzuschätzen als die Fälle, in denen psychische Störungen keine Rolle spielen?

 

Dr. Nahlah Saimeh: Genau. Die großen, die großen terroristischen Anschläge sind in der Regel nicht von psychisch kranken Leuten begangen worden. Dazu sind sie auch viel zu komplex. Aber es gibt eben Einzeltäter, die durchaus dann auch für mehrere Tote und Schwerverletzte sorgen können, je nachdem, was für eine Waffe eingesetzt wird und die dann eben im Nachhinein tatsächlich eine Schizophrenie haben. Es ist schon eine relevante Zahl, das ist nicht zu vernachlässigen. Aber man kann nicht sagen, dass die alle psychisch krank sind. Das ist eben falsch.

 

Musik
Charlotte Leikert (KN:IX): Wie sie die Rolle von psychischer Verfasstheit bei Radikalisierung einschätzen, haben wir auch unsere Kolleg*innen aus den Mitgliedsorganisationen gefragt. Für Viviana spielt das Thema definitiv eine große Rolle. Sie arbeitet bei der Beratungsstelle Wegweiser von Re/init [e. V.] in NRW.

 

Viviana (Re/init e. V.): In unserer Beratungsstelle nimmt die psychische Verfasstheit unserer Klientinnen und Klienten eine immer größere Rolle ein. Immer häufiger beobachten wir die Wechselwirkung zwischen einer beginnenden Radikalisierung und vermeintlichen psychischen Erkrankungen. Gerade wenn man selbst erkennt, dass das eigene Verhalten sich in eine Richtung entwickelt, die man selbst nicht als normal wahrnimmt, also sich gegebenenfalls eine gewisse Krankheitserkenntnis einstellt, dann kann Religion viel Halt und Erklärung bieten. Und ich stelle es mir auch durchaus angenehmer vor, davon auszugehen, dass man gerade von Allah getestet wird oder es alles so in seinem Plan ist, als zu akzeptieren, dass man vielleicht doch ernsthaft erkrankt ist. Und daher wäre ich vorsichtiger mit der Einschätzung von psychischer Verfasstheit als begünstigende Faktor für eine Radikalisierung. Aber wie in jedem Fall ist es ja ein Zusammenspiel aus verschiedenen Faktoren. Daher sehe ich durchaus ein Risiko darin, wenn Menschen, die ernsthaft psychisch erkrankt sind und ihre Hoffnungen auf ihre Religion stützen, auf Personen und Inhalte stoßen, die diese Hoffnung und Suche nach Erklärungen für ihre extremistische Agenda ausnutzen. Als Beratungsstelle in der Islamismusprävention liegen dort jedoch nicht unsere Kernkompetenzen und wir verstehen dann unseren Auftrag zunächst in der Vermittlung geeigneter geeignete Einrichtungen. Wir stoßen hier aber nahezu immer auf Herausforderungen, die eine angemessene Behandlung zum Beispiel in Form einer Therapie erschweren. Denn unsere Klientinnen und Klienten befinden sich dann ja häufig in Kreisen, die jede Form von Therapie komplett ablehnen und ihnen davon abraten würden. Trotzdem ist unser erstes Ziel als Beratungsstelle in diesen Fällen, dass wir versuchen, geeignete therapeutische und/oder psychiatrische Einrichtungen zu vermitteln, um in der betroffenen Person erst mal gesundheitlich zu helfen.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Ganz ähnlich sieht das auch die Psychologin Alexandra George, die bei der Präventions- und Beratungsstelle PROvention der Türkischen Gemeinde in Schleswig Holstein [e. V.] arbeitet.

 

Alexandra George (TGS-H e. V.): Meine Stelle wurde unter anderem deshalb geschaffen, weil sich in der Arbeit gezeigt hat, dass sehr viele Personen in der Beratung psychische Belastungen aufweisen. Wir würden sagen, dass es eigentlich ähnlich ist wie im gesellschaftlichen Durchschnitt. Das heißt, es liegen ähnlich häufig Hinweise vor, auf affektive Erkrankungen, also Depressionen, auf Angststörungen, Zwangsstörungen oder Zwangshandlungen. Bei den Jugendlichen und da eher bei den Mädchen können Essstörungen vorliegen. Ganz wichtig ist dabei, und teilweise erschwerend für unsere Arbeit, dass diese Störungen oder Belastungen von uns vermutet sind und dass sie nicht diagnostiziert sind und dass sie auch dadurch oft gar nicht von Anfang an besprechbar sind und wir dann eben schauen müssen „Ist es überhaupt sinnvoll, das aufzumachen?“. Weil wir natürlich auch immer gucken müssen, was können wir leisten im Rahmen unserer Beratungsarbeit. Darüber hinaus vermuten wir ähnlich wie es wahrscheinlich in anderen Beratungsfeldern auch ist, bei einigen Klient*innen auch Traumafolgestörungen. Wir haben es auch vereinzelt Suizidalität zu tun.

In der Vergangenheit war manchmal die Abgrenzung von religiösem Eifer, religiösem Wahn und Schizophrenie von einer tatsächlichen Radikalisierung Thema. Das sind aber eher Einzelfälle und es ist auch so, dass dann oftmals kein Auftrag für uns vorliegt. Es gibt auch nicht immer eindeutig abgrenzbare Konstellationen. Es kann zum Beispiel ein Größenwahn vorliegen, der so ausgelebt wird, dass im Auftrag einer göttlichen Figur gehandelt wird. Und das ist dann auf den ersten Blick nicht immer zu unterscheiden von einer ideologischen Überzeugung.

Ja zu möglichen Zusammenhängen zwischen psychischer Verfasstheit und einer Radikalisierung, da würde ich mich eher zurückhalten. Mein Eindruck ist auf jeden Fall aber, dass sich Radikalisierungsprozess relativ gut in bestehende biopsychosoziale ideologische Ansätze integrieren lassen. Beobachtbar sind da schon Parallelen, zum Beispiel zu Suchterkrankungen oder depressiven Erkrankungen, die miteinander interagieren. Da spielen ja auch soziale Faktoren in der Krankheitsentstehung aber auch im Fortgang eine große Rolle. Ich finde, es ist wichtig zu betonen, dass es insgesamt sehr gut ist, wenn es ein Bewusstsein gibt für diese Zusammenhänge. Es sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei Radikalisierungsprozess um eine aktive Zuwendung zu einer Ideologie oder zu einer Szene handelt und dass diese Zuwendung aus einer politischen Überzeugung passiert und auch aufgrund des als attraktiv wahrgenommenen Angebots. Wir wollen gerne auch darauf hinweisen, dass es nicht richtig wäre, eine Radikalisierung als Form einer psychischen Erkrankung oder Symptomatik zu verstehen.

 

Musik
Charlotte Leikert (KN:IX): Man kann also sagen, dass die Zusammenhänge zwischen psychischen Störungen und extremistischen Gewalttaten sehr komplex sind. Auch wenn es in der öffentlichen Diskussion manchmal anders erscheint, gibt es eben keine empirischen Beweise dafür, dass diese Taten größtenteils von Personen mit psychischen Störungen verübt werden. Darüber hinaus zeigen mehrere Studien, dass die Fälle, in denen psychische Störungen bei extremistischen Verhalten und Gewalttaten eine Rolle spielen, vor allem in spezifischen Fällen auftreten. Nämlich eher dann, wenn es sich um sogenannte Lone Actors handelt, als um Mitglieder von organisierten terroristischen Gruppen.

 

Musik
Ulrike Hoole (KN:IX): Wenn Sie sagen, es sind nicht alle krank, wo verläuft die Grenze und welche anderen Facetten in Bezug auf die psychische Verfasstheit von Menschen begegnen Ihnen denn in Ihrer Arbeit?

 

Dr. Nahlah Saimeh: Also ich bin ja ein großer Freund davon – und davon lebt natürlich die forensische Psychiatrie – sich jede Persönlichkeit individuell anzuschauen, denn Taten werden immer von Individuen begangen. Eine psychiatrische Untersuchung ist ja, auch wenn das vielleicht vielen anders erscheint, es ist ja doch kein Würfelspiel, sondern es ist ja zunächst mal eine medizinische Untersuchung in Bezug auf das Vorhandensein psychopathologischer Symptome, die einem Krankheitsbild zugeordnet werden. Das ist erst mal ganz einfach. Also wenn jeder, wenn jemand eine Schizophrenie hat oder eine wahnhafte Störung hat, dann ist das eine klassische klinische Erkrankung, das ist eine medizinische Diagnose. Wenn jemand das nicht hat, dann ist er erst mal psychisch gesund. Dann kann man sich die Persönlichkeit angucken und dann kann man schauen: „Hat jemand eine Persönlichkeitsstörung?“ Da komme ich auf den Bereich der antisozialen Persönlichkeit. Viele Leute, die sich in dem Umfeld tummeln, haben eine hohe Neigung zu Gewalttätigkeit. Wenn ich eine hohe Faszination für Gewalt habe, eine hohe Faszination für eine Art kriegerische Durchsetzungsfähigkeit, dann werde ich mir im Zweifelsfalle irgendso eine Gruppierung suchen, wo ich das ausleben kann. Weil sie mir Handlungsmöglichkeiten bietet, die die andere Welt mir nicht bietet. Und ich kann mit einer Ideologie meine Gewaltneigung auch noch moralisch, gewissermaßen mit Goldstaub bedecken, was ich sonst nicht könnte. Also wenn ich sonst meinem Nachbarn den Schädel nicht einschlagen darf, weil es eigentlich verboten ist, ich aber jetzt eine Ideologie habe, die mir sagt „im Grunde machst du damit was Gutes“, dann bin ich meine eigenen moralischen Zweifel ja komplett entledigt. Aber Persönlichkeitsstörungen, Menschen mit Persönlichkeitsstörungen leben im gleichen Raum der Realität. Die sind nicht in der Realität verschoben, sondern da gibt es eine Veränderung in der Art und Weise, wie sie Beziehung zu anderen Menschen und zur Welt aufnehmen in ihrem Denken und in ihrem Emotionshaushalt, aber ohne, dass sie einen Realitätsverlust erleiden. Und das ist ja noch mal was anderes.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Wenn man jetzt mal von den richtigen psychischen Störungen weggeht. Welche Funktion erfüllt Radikalisierung denn Ihrer Meinung nach für Individuen in Hinblick auf psychische Belastungen, also zum Beispiel im Umgang mit persönlichen oder gesellschaftlichen Krisensituationen?

 

Dr. Nahlah Saimeh: Na ja, zunächst mal muss man sagen, also zumindest hierzulande, ich kann natürlich nicht global sprechen, das kann ich nicht und steht mir auch nicht zu, aber hierzulande haben wir uns natürlich angewöhnt, für persönliche Krisen im Allgemeinen durchaus die Gesellschaft und die Politik insbesondere, als verantwortlich heranzuziehen. Das heißt, der Gedanke, dass ein Mensch, wenn er in die Windeln und das Kleinkindalter hinter sich gelassen hat und irgendwann volljährig ist, für sich selbst zunächst mal Verantwortung zu übernehmen hat mit, all seinen Stärken und Schwächen, rückt ja durchaus im öffentlichen Diskurs seit vielen Jahren sehr in den Hintergrund. Das heißt, wir haben uns angewöhnt, immer, wenn es irgendwelche persönlichen Misslichkeiten gibt, zunächst mal zu sagen „Was ist denn die Gesellschaft schuld, was hat die Gesellschaft in Bringschuld?“ Zunächst mal könnte man ja sagen man selber hat eigentlich eine Bringschuld an sich und seinem Leben und vielleicht an sich und der Gesellschaft und nicht umgekehrt. Aber wenn ich diesen Spieß umdrehe, dann ist es natürlich so, dass ich die Gesellschaft als eine mir gegenüber defizitäre erlebe. Ja, weil irgendwas kriege ich immer nicht. Und da andere Leute aber irgendwas haben, was ich aber nicht kriege, ist es dann vermeintlich ungerecht. Und so kann ich natürlich ein Ungerechtigkeitsnarrativ konstituieren, das dazu führt, dass ich hochgradig frustriert bin, dass ich sehr wütend bin, dass ich mich selbst als selbstunwirksam erlebe und dass ich anfange, Mächte und Organisationen zu konfabulieren, die gewissermaßen hinter meinem Unglück stecken. Also es gibt irgendwelche anderen Kreise, die dafür sorgen, dass so einer wie ich gewissermaßen nicht nach vorne kommt. Und dann gibt es Menschen, die mit dieser Wut natürlich als manipulatives Kapital arbeiten und sagen „Da haben wir was. Wir wissen erstens, wer dahintersteckt, die muss man alle ausrotten, die muss man alle vernichten. Und dann setzen wir etwas Konstruktives dagegen“. Das machen im Grunde alle extremistischen Ideologien – wie gesagt, rechts außen, links außen, das können sie alles in einen in eine Tüte tun. Und die Islamisten machen es natürlich dann auch noch mit dem theologischen Bezug. Also die hängen gewissermaßen den Nagel ihrer Begründung gleich in der Sphäre der Metaphysik an und sind damit gewissermaßen außerhalb irgendeines rationalen Diskurses, weil sie das alles ins Göttliche verlegen. Aber das ist immer das gleiche Muster, und Sie brauchen eine Wahrnehmungsverzerrung. Also Sie müssen sich irgendwann eine verzerrte Realitätsprüfung angewöhnen. Sie müssen Schwarz-Weiß-Denken betreiben. Sie müssen ein Thema haben, mit Wut und auch mit Rache. Sie müssen ein inneres Erleben haben von Benachteiligung, das aber sehr schnell schwankt mit einem Überlegenheitsgefühl, weil die Ideologie an ihr Überlegenheitsgefühl appelliert. Wenn Sie sich der Ideologie anschließen, sind Sie moralisch überlegen. Ja, also rechts außen, links außen – Sie sind moralisch überlegen, weil sie zum Beispiel deutsch sind per se. Oder Sie sind eben moralisch überlegen, weil Sie eine islamistische Auslegung des Koran betreiben. Und die anderen sind eben nicht richtig. Also dieses schwarz-weiß ist immer die innere Gruppe ist, ist gut, ist herausgehoben und die anderen sind im Grunde verderbt. Und es geht darum, das Verderbnis in der Gesellschaft auszurotten, damit eine reine, überlegene Gesellschaft entstehen kann. Das ist das Narrativ, was alle extremistischen Ideologien haben, und es bedient etwas narzisstisch Defizitäres, es bedient Unzufriedenheit, es bedient Selbsthass und das sind einfach sehr starke Emotionen, die sozusagen durch solche Narrative nach außen gewendet werden und damit ihre psychohygienische Funktion erfüllen. Weil sonst wird man sich eigentlich nicht anschließen.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Also Radikalisierung gewissermaßen als eine destruktive Bewältigungsstrategie?

 

Dr. Nahlah Saimeh: Ja, und da gibt es auch wirklich eine Menge Studien zu, dass im Grunde gerade persönliche Lebenskrisen, persönliche Lebensunzufriedenheit durchaus der Kristallisationspunkt sein können, weil extremistische Ideologien im Grunde alle mit einem Ungerechtigkeitsnarrativ arbeiten. Es gibt auch ganz schöne Zitate von den Granden der islamistischen Terrorszene, die durchaus sehr deutlich mit dem Thema Ungerechtigkeit arbeiten im globalpolitischen Sinne und sagen „Weil viele Dinge ungerecht sind, ist es jetzt Zeit abzurechnen. Und jetzt drehen wir mal den Spieß um.“ Also diese Narrative sind sehr primitiv, aber sie sind emotional sehr wirksam.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Wenn man jetzt von den psychischen Faktoren, die Sie gerade genannt haben, weggeht es gibt ja noch viele andere Faktoren, die menschliches Verhalten in diesem Kontext, also Hinwendung zu Extremismus, beeinflussen, eben zum Beispiel die Bedingungen, unter denen eine Person aufwächst, ihr soziales Umfeld oder auch gesellschaftliche Krisen – und aus Ihrer Erfahrung heraus auch in der Begutachtung von Straftätern, was würden Sie sagen, welche anderen Aspekte spielen Ihrer Erfahrung nach bei einer Radikalisierung eine besondere Rolle? Welche sind besonders herauszuheben?

 

Dr. Nahlah Saimeh: Ja, schon die Suche nach Halt und Orientierung. Und da muss man natürlich sagen, dass demokratische Gesellschaften und insbesondere auch in dieser Postmoderne hochkomplexe Gesellschaften sind und eine allgemeine Leitschnur natürlich verloren geht. Und das heißt, dass die Gefahr steigt, dass die Identifikation mit der Gesellschaft bröckelt, weil man ihre Komplexität eigentlich nicht mehr versteht. Freie Gesellschaften sind immer Gesellschaften, die hohe Anforderungen stellen an das Aushalten von Widersprüchlichkeiten, die eine hohe Anforderungen stellen an Komplexität, an Diversität, an Unterschiedlichkeit, an unterschiedliche Lebensentwürfe, die alle irgendwie gleichberechtigt sind. Und das überfordert durchaus Menschen, die sich danach sehnen zu sagen „Aber irgendwo muss doch etwas sein, was gut und richtig ist. Und das muss ich an irgendeiner Begründung festmachen.“ Das heißt, extremistische Ideologien verleihen alle Orientierung und sie befreien von Komplexität. Und das gibt Sicherheit. Und Komplexität vermittelt vielen Menschen Unsicherheit.

 

Musik
Charlotte Leikert (KN:IX): Ähnlich schätzt das auch unsere Kollegin der Fach- und Beratungsstelle Bidaya des CJD Nord aus Mecklenburg-Vorpommern ein.

 

Kollegin der Fachstelle Bidaya (CDJ Nord): Menschen, die eine gute psychische Verfassung haben, radikalisieren sich eher weniger als Menschen, die psychisch instabil sind. Da gibt es ganz unterschiedliche Einflussfaktoren, zum Beispiel die Stabilität des Umfeldes, der Familie oder des Freundeskreises. Menschen, die hier gut eingebunden sind und die Vielfalt erleben, sind zumeist resistenter gegenüber radikalen Ansprachen. Jede Person wünscht sich doch Wertschätzung und Anerkennung. Wenn Menschen aber gesellschaftliche Ablehnung erfahren oder auch der geeignete Freundeskreis fehlt oder der Freundeskreis in ähnlicher Weise mit Diskriminierung vonseiten der Gesellschaft zu kämpfen hat, fühlen sie sich möglicherweise von radikalen Ansprachen angezogen. Wir in unserem Projekt arbeiten überwiegend mit Menschen aus dem Fluchtkontext. Stabilität oder Eingebundensein in eine Familie und ein Freundeskreis ist dann etwas, was die meisten zurücklassen mussten. Dazu eine ungewisse Zukunft, vielleicht gepaart mit Enttäuschungen und Diskriminierungserfahrungen, können dann schon belastend sein und einen Türöffner für eine mögliche Radikalisierung darstellen. In dem neuen, dann möglicherweise radikalen Umfeld kann es zu einer Entfremdung zum Herkunftsumfeld kommen und zur weiteren Abgrenzung zu anderen sowie zur Verschiebung der eigenen moralischen Werte, vielleicht sogar hin zu einer eigenen Radikalisierung.

Wir fanden es schwierig, die Faktoren nebeneinander zu betrachten, da unserer Meinung nach die meisten Faktoren einen Einfluss auf die psychische Verfasstheit haben. Flucht aus der Heimat oder Trennung von einem Partner oder einer Partnerin oder der Familie können zu persönlichen Krisen führen und dies hat einen Einfluss auf die Verfasstheit. Wenn dann Menschen da sind und diesen Verlust vermeintlich auffangen, kann dies zu einer Erleichterung führen. Und weiter auch dazu, dass die radikalen Einstellungen dieser Menschen, die einem dann vermeintlich guttun, zu übernehmen. Wir wissen ja aus der Vergangenheit, dass Rekrutierer individuell auf die Personen eingehen und genau da ansetzen, wo Bedürfnisse nicht bedient werden oder wo Wünsche noch offen sind. Es gibt aber auch Situationen, glauben wir, in denen ein stabiles Umfeld vorhanden ist und anderes dann ursächlich für eine schlechte psychische Verfasstheit sein kann. Das können ganz unterschiedliche Alltagssituationen sein, die als belastend empfunden werden, wie zum Beispiel: schlechte Erfahrungen in der Schule, schlechte Noten oder der Verlust der Arbeit, Diskriminierungserfahrungen oder andere Erfahrungen von Ungerechtigkeit oder Ungleichbehandlung, zum Beispiel aufgrund von Religion oder dem Aussehen. Wenn das Umfeld hier nicht helfen kann beziehungsweise es dem Umfeld vielleicht gar nicht auffällt, kann auch dies negativen Einfluss auf die Verfasstheit haben. Und Menschen mit vermeintlich ähnlichen Erfahrungen werden dann als Stütze wahrgenommen, ganz gleich welche Einstellungen sie vertreten.

 

Musik
Ulrike Hoole (KN:IX): Wie steht es denn Ihrer Einschätzung nach um das Thema psychische Verfasstheit oder psychische Störungen in Bezug zu Radikalisierung: Würden Sie sagen, das wird genug wahrgenommen oder sollte man da mehr hinschauen? Oder sehen Sie da auch die Gefahr einer Pathologisierung von extremistischen Taten?

 

Dr. Nahlah Saimeh: Man muss die Einzelfälle bewerten. Ich glaube es ungefähr ein Drittel von Leuten, die manifest eine psychische Erkrankung haben, das würde heißen, dass 70 % sie nicht haben. Und dennoch ist es keine kleine Anzahl, das will ich damit sagen. Aber wir können ja mal einige prominente Beispiele mal durchsehen. Bei 9/11 fing das sicherlich an, das waren sicherlich alles keine psychisch kranken Leute, sondern das waren ja absolut durchideologisierte Personen, die, wenn man auf das Testament von Mohammed Atta guckt, wo es eine sehr interessante, ja psychoanalytische Exegese zu gibt gewissermaßen, schon sieht, dass dieser Mann in seiner Persönlichkeit ganz große Probleme hat und eine ganz große Zwiespältigkeit hatte. Aber das war sicherlich kein psychisch Kranker. Wenn man sich jetzt mal anguckt, das Attentat von Halle, dem Herrn Balliet, der mit der Videokamera auf dem Kopf ja sein eigenes Attentat gefilmt hat, oder den Attentatsversuch und sich selber immer kommentiert als Loser, dann muss man sagen: Verrückt ist er auch nicht, aber er hat offensichtlich ein ziemlich starkes persönliches Problem gehabt. Und da ist ganz viel Wut und ganz viel Frustration. Und diese Frustration, diese Wut wird projiziert auf eine Gruppe, die als Feindesgruppe angesehen wird, in dem Fall die jüdische Bevölkerung, und er will sozusagen da ein Zeichen setzen. Das sind alles furchtbar fatale, unfrisierte Gedanken, die aus einer sehr großen persönlichen Problematik kommen.

Professor Leygraf hat viele der jungen Attentäter vor etlichen Jahren untersucht und hat festgestellt, dass gerade junge Männer sich radikalen Kreisen anschließen, wenn sie in einer Lebenskrise sind und diese Anforderungen nicht bewältigen können. Also wenn man sozusagen im Beruf scheitert, in der Lehre scheitert, Stress mit der Familie hat – was ist die Exitstrategie? „Ich kann mich einer anderen Gruppe anschließen, die mich auffängt, wo ich gerne gesehen bin, wo jeder mitmachen kann und die mir sozusagen ein wertvolles Dasein verspricht vor dem Hintergrund der Ideologie, der ich zu dienen habe.“ Und das sind Verführungen. Das heißt, wir müssen gucken, was sind Persönlichkeitsstörungen, was sind völlig normale Leute in Lebenskrisen, die gar keine Diagnose haben, völlig normale Leute, die sich aber verrennen, und was sind Leute mit der entsprechenden wahnhaften Störung oder eben auch noch schizophrenen Psychose. Und wie schwierig die Diagnose sein kann, sehen Sie an Breivik: Da hat es ja High-End-Experten gegeben, die zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind.

 

Musik
Ulrike Hoole (KN:IX): Jetzt kommen meine Kollegin und ich ja aus einem etwas anderen Arbeitsumfeld als Sie und die Mitgliedschaft der BAG RelEx, das sind ja Personen, die in der Prävention oder Ausstiegsarbeit vor allem im Bereich islamistischer Extremismus, aber auch teilweise Rechtsextremismus arbeiten. Und die Frage danach, warum sich Menschen radikalisieren und im schlimmsten Fall eben extremistisch begründete Straftaten begehen, ist natürlich auch für die Präventionsarbeit zentral. Weil, hier geht es ja gerade darum, konstruktivere Bewältigungsstrategien zu entwickeln beziehungsweise zu fördern. Haben Sie denn aus Ihrer Erfahrung, Empfehlungen für Fachkräfte, die mit radikalisierten Personen in der Präventions- oder Distanzierungsarbeit zu tun haben?

 

Dr. Nahlah Saimeh: Ja, ich würde immer zunächst mal die Frage stellen „worum geht es eigentlich?“ Also das heißt, „welches individuelle Bedürfnis wird durch eine extremistische Ideologie in dieser Person angesprochen? Was will die Person? Worum geht es ihr? Welche Ängste hat sie? Welche Art von Ungerechtigkeitsdenken hat sie? Welche Erwartungen hat sie an das Leben und woran macht sie fest, dass da irgendwas mit unrechten Dingen zugeht? Worum geht es in der Bedürfnisstruktur?“ Menschen handeln bedürfnisorientiert. Wenn man ein eigenes Bedürfnis mit einer extremistischen Ideologie nicht verknüpfen kann, dann würde man sich dieser Ideologie nicht freiwillig unterwerfen. Sondern Menschen tun Dinge, weil sie danach streben, dass es ihnen gut geht mit irgendwas. Wenn man das Bedürfnis verstanden hat, dann kann man Alternativen bedenken, durch welche anderen Mitteln solche Bedürfnisse vielleicht viel stabiler und viel prosozialer und wie wertschätzen und viel intensiver zu erreichen wären. Also ich glaube, man muss sich an der Bedürfnisstruktur entlanghangeln und sagen, „worum geht es eigentlich?“ Bei den Islamisten, die ich begutachtet habe, ging es vor allen Dingen um Orientierung und um soziale Sicherheit – witzigerweise im Staatsgebiet des IS, wo man eigentlich sagen würde, na ja würde ich da jetzt nicht so erwarten. Aber vor dem Hintergrund, dass er sagt „Ich bin ein gläubiger Muslim, ich will den Glauben korrekt leben und ich bin ein Fan der Scharia, das leuchtet mir ein. Und ich will ein gottgefälliges Leben, also ein Allah gefälliges Leben führen, und will ganz klar wissen, was gut und was richtig ist, das gibt mir Sicherheit.“ Und da war es jemand, der Sicherheit wollte und gewissermaßen einen hypermoralischen Anspruch an sich hatte. Und es gibt andere, wo es, wo es auch sozusagen entliehene Gerechtigkeits-, Ungerechtigkeitsnarrative gibt, die gar nicht die Person selber eigentlich betreffen, sondern irgendeinen im Bekanntenkreis und wo einfache Antworten gegeben werden für irgendwelche Ursachen. Und ich glaube, da muss man zunächst hingucken.

Und dann die Mentalisierungsfähigkeit von Emotion ist wichtig, also Emotionen differenziert wahrnehmen. Wenn ich mit Gewaltstraftätern spreche, das gilt für alle, fällt auf, dass sie eigene Emotionen eigentlich kaum benennen können. Sie können eigene Emotionen kaum wahrnehmen und es bleibt im Grunde nur ganz, ganz viel Wut, ganz viel Ärger und ganz viel Gefühl von Ungerechtigkeitserleben und, dass irgendwie so die richtigen Strippen hintenrum irgendwo gezogen werden. Und dieses Gefühl von Selbstunwirksamkeit, Wut und Hass sind sehr zentrale Gefühle, aber es gibt eigentlich gar keine anderen und es gibt keine Sprache für inneres Erleben. Das heißt, man muss eigentlich die Leute erst mal sozusagen sprachfähig machen und dann sozusagen auflösen „Was sind eigentlich die Bedürfnisse, die eine Ideologie da bietet? Worauf bezieht sich dieses, dieser Überlegenheitswunsch?“ Und man kann mit einem Ideologen ja nicht über die Ideologie an sich streiten, weil er ja seine Ideologie hat und dass ja nicht hinterfragbar ist, sondern man muss über die Bedürfnissebene gehen und sich anschauen, was macht es eigentlich so attraktiv und was könnte etwas anderes sein, was genauso attraktiv ist, was man dagegensetzen könnte?

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Ja, was Sie sagen, entspricht tatsächlich auch dem, was wir immer von unseren Mitgliedern aus unserem Arbeitsbereich tatsächlich hören eben weniger auf das Symptom, sozusagen die Tat oder Äußerung schauen, sondern auf die zugrunde liegenden Bedürfnisse.

Musik
In Bezug auf die Zusammenhänge zwischen psychischen Faktoren und Radikalisierung hat Nahlah Saimeh in unserem Interview betont, dass die Unterschiede zwischen verschiedenen extremistischen Strömungen gar nicht so zentral sind. Vielmehr spielen hier Denkmuster und psychologische Mechanismen eine Rolle, die bei allen Ideologien ähnlich sind.

 

Dr. Nahlah Saimeh: Eine Methode, also da bin ich ein großer Fan von den Autoren Omer, Alon und von Schlippe, die haben eine hervorragende Publikation [2007] gemacht zum Thema dämonisierendes Denken, was ich eben spannend finde. Deswegen merken sie auch schon in meinen Antworten ich aber gar nicht so ganz auf den Islamismus ein, der ja auch nur eine Farbe ist neben vielen anderen. Das arbeitet alles mit den gleichen Denkmustern, das ist wirklich spannend – man hat bei den Islamisten noch so ihre quasi- oder pseudoreligiöse Begründung, das ist klar – aber im Kern arbeiten die alle mit den gleichen Denkmustern des dämonisierenden Denkens und das dämonisierende Denken fußt ja darauf, dass für das persönliche Unglück oder das allgemeine Unglück oder die allgemeinen Schwierigkeiten der Welt, muss immer irgendwer konkret verantwortlich sein. Also es wird negiert, dass Leid oder Krisen zum menschlichen Leben dazugehören und zu unserem Leben in der Welt dazugehören, sondern es ist immer irgendein Verursacher. Und dann werden so gewissermaßen paranoide Strukturen gelegt: Es muss immer irgendwie Zirkel geben, die okkult wirken und die gewissermaßen die Welt von innen heraus zersetzen, also wie so eine, eine teuflische Kraft, die so von innen heraus, wie ein Geschwür, was eine Gesellschaft oder die Welt in irgendeiner Weise zersetzt. Und dann geht es weiter, dass man annimmt, dass sozusagen dieses Übel mit der Wurzel ausgerottet werden muss und eine Feindgruppe oder mehrere Feindgruppen werden definiert, die gewissermaßen Träger dieses Übels sind. Und dadurch, dass die gewissermaßen das Böse an und für sich verkörpern, entsteht eine Legitimationsfolie dafür, den anderen nicht mehr als Menschen anzuerkennen, den anderen nicht mehr als gleichberechtigten, also lebens-gleichberechtigten Menschen zu erkennen, sondern zu sagen „Der andere ist eigentlich gar kein Mensch“. Dadurch entstehen Legitimationsstrategien, andere Menschen natürlich umzubringen. Indem man systematisch darauf hinarbeitet, dass nur noch die die innere Gruppe sozusagen die Menschenrechte für sich beanspruchen kann. Und es gibt ein sehr schönes Zitat auch wieder von Herrn Atta, der, bevor er dann ins World Trade Center geflogen ist, seinen Kumpels noch gesagt hat: Also was sie auf gar keinen Fall machen dürften, wäre, während sie dieses Attentat konkret vorbereiten, sich vorzustellen, wer alles in diesem World Trade Center arbeitet und was das für Menschen sind und Familienväter und Mütter und so, das darf man sich gar nicht erst klarmachen, weil dann kann man das Attentat nicht mehr begehen. Und das dämonisierende Denken ist sozusagen eine systematische Indoktrination, Menschen als Unmenschen zu etikettieren, um sie dann umbringen zu können. Und wir haben ja in Deutschland einen historischen Großversuch in dieser Weise gehabt, wo man nämlich genau das in seiner entsetzlichsten Konsequenz sehr, sehr klar dran sehen kann. Und ich halte es für wichtig, diese Mechanismen sehr, sehr präsent in die Gesellschaft hineinzubringen, weil das sind die Rattenfängermechanismen, mit denen Ideologien der großen Schaden anrichten können.

 

Musik
Ulrike Hoole (KN:IX): In der heutigen Folge haben wir mit Dr. Nahlah Saimeh über die Rolle von psychischen Störungen, aber auch Belastungen in Bezug auf Radikalisierung besprochen. Sich mit der psychischen Verfasstheit von Täter*innen auseinanderzusetzen und nach ihrer Bedeutung bei Radikalisierungsprozessen zu fragen, ist prinzipiell sinnvoll. Dabei sollte man jedoch nicht in die Falle tappen, jegliche Radikalisierung oder Tat mit einer psychischen Störung zu erklären und so gesellschaftliche Faktoren außer Acht zu lassen. Denn dadurch laufen wir Gefahr, Radikalisierung zu pathologisieren und zu entpolitisieren.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Von unseren Kolleginnen haben wir außerdem gehört, dass es für sie in der praktischen Arbeit herausfordernd ist, wenn Klient*innen eine psychische Störung vorweisen oder sie diese zumindest vermuten. Was das für das Beratungssetting bedeutet und wie Berater*innen mit diesen Herausforderungen umgehen, hören Sie in einer der nächsten Folgen von KN:IX talks. Darüber hinaus greifen wir in der Staffel auch die Frage auf, welche Rolle therapeutische Arbeit dabei spielen kann, Menschen in ihrer Resilienz gegen extremistische Ansprachen zu stärken. Wir haben uns auf jeden Fall gefreut, dass sie heute wieder zugehört haben und hoffen, dass sie die Frage genauso spannend fanden wie wir!

 

Musik
Inhaltliche Vorbereitung, Moderation und technische Umsetzung: Charlotte Leikert und Ulrike Hoole. Postproduktion: Malte Froehlich. Darüber hinaus möchten wir uns bei unseren Kolleginnen von Bidaya, Wegweiser und PROvention für die Praxiseinblicke bedanken.

Musik
Das Projekt der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein, bei dem Alexandra Georgier arbeitet, wird durch das Landesdemokratie Zentrum beim Landespräventionsrat Schleswig-Holstein finanziert. Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerungen des Ministeriums für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport des Landes Schleswig-Holstein und des Landespräventionsrates dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der oder die Autor*in beziehungsweise tragen die Autor*innen die Verantwortung.

 

Musik
Charlotte Leikert (Abspann KN:IX talks): Sie hörten eine Folge von KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention.

KN:IX talks ist eine Produktion von KN:IX, dem Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“. KN:IX ist ein Projekt von Violence Prevention Network, ufuq.de und der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx.

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KN:IX wird durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Finanzierung erhalten wir von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in Sachsen-Anhalt, der Landeskommission Berlin gegen Gewalt und im Rahmen des Landesprogramms Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus.

Die Inhalte der Podcast Folge stellen keine Meinungsäußerung der Fördermittelgebenden dar. Für die inhaltliche Ausgestaltung der Folge trägt der entsprechende Träger des Kompetenznetzwerks „Islamistischer Extremismus“ die Verantwortung.

Weiterführende Links

Website Dr. Nahlah Saimeh
https://nahlah-saimeh.de/

Wegweiser im Vest (RE/init e. V.)
http://www.wegweiser-vest.de

Fachstelle Bidaya (CJD Nord)
https://www.bidaya-mv.de/

PROvention Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus (TGS-H e. V.)
https://provention.tgsh.de/

Al-Attar, Zainab (2019): Extremism, Radicalisation & Mental Health: Handbook for Practitioners. Working Group Health & Social Care Radicalisation Awareness Network. https://home-affairs.ec.europa.eu/system/files/2019-11/ran_h-sc_handbook-for-practitioners_extremism-radicalisation-mental-health_112019_en.pdf [abgerufen: 22. August 2023].

Allroggen, Marc (2020): Psychische Störungen im Zusammenhang mit Radikalisierung. https://www.bpb.de/themen/infodienst/306897/psychische-stoerungen-im-zusammenhang-mit-radikalisierung/[abgerufen: 22. August 2023].

Koller, Sofia (2019): Themenpapier: Psychologische Faktoren und Probleme der psychischen Gesundheit; InFoEx Workshop, Berlin, 23.-24. Mai 2019. Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-67005-3 [abgerufen: 22. August 2023].

Omer, Haim; von Schlippe, Arist & Alon, Nahi (2007): Feindbilder. Psychologie der Dämonisierung. Vandenhoeck & Ruprecht.

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