Podcast KN:IX talks
Folge #25 | Die Genderbrille - wie genderreflektierende Praxis gelingen kann
In dieser Folge sprechen wir mit Eike Bösing von der Universität Vechta sowie mit Yvonne Brabender und Tamo Stern vom Institut für genderreflektierte Gewaltprävention (ifgg) über den Faktor Geschlecht in der Beratungsarbeit – wie die Wahrnehmung von Geschlecht als Identitätsmerkmal die Fallarbeit unterstützen aber manchmal auch behindern kann, und was es dafür braucht.
Im Podcast zu Gast
Eike Bösing ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Distanz an der Universität Vechta. Zuvor war er als Sozialarbeiter vor allem in der aufsuchenden Sucht- und Wohnungslosenhilfe tätig. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Radikalisierung und Deradikalisierung, Radikalisierungsprävention und Professionalisierung Sozialer Arbeit.
Yvonne Brabender hat Soziale Arbeit studiert und arbeitet seit 2012 in der Kinder- und Jugendhilfe. Seit 2019 arbeitet sie beim Institut für genderreflektierte Gewaltprävention (ifgg) als Koordinatorin der Projekte TESYA® und inside.out, sowie als (zertifizierte) Antigewalttrainerin und Elterncoach in der praktischen Durchführung.
Tamo Stern ist Diplom-Sozialpädagoge, Social Justice- und Diversity-Trainer und systemisch-integrativer Therapeut mit langjähriger Erfahrung in der Schulsozialarbeit. Er ist seit 2020 beim Institut für genderreflektierte Gewaltprävention (ifgg) für die Projekte inside.out und TESYA® als (zertifizierter) Antigewalttrainer und Elterncoach tätig.
Transkript zur Folge
(Musik im Hintergrund)
Tamo Stern: Für mich war irgendwann total entspannend zu entdecken, dass es gar nicht darum geht, fehlerfrei zu sein. In diesen ganzen Debatten rund um Diskriminierung, Sensibilität zu Themen entsteht ganz schnell so eine Verkrampftheit im Raum. Und die macht uns handlungsunfähig und die macht uns auch unentspannt miteinander. Und Sprechbarkeiten zu suchen, ist manchmal wirklich einfacher, wenn wir davon ausgehen, wenn meine Grundposition ist: Ich werde Fehler machen und ich mach die auch schon lange. Und meine Aufgabe ist, nicht fehlerfrei zu sein, sondern bereit zu sein, mir meine Fehler anzuschauen und die zu entdecken.
(Musik Intro KN:IX talks)
Charlotte Leikert (Intro KN:IX Talks): Herzlich willkommen zu KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. Bei KN:IX talks sprechen wir über das, was die Präventions- und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international beschäftigt. Für alle, die in dem Feld arbeiten oder immer schon mehr dazu erfahren wollten: Islamismus, Prävention, Demokratieförderung und politische Bildung. Klingt interessant? Dann bleiben Sie jetzt dran und abonnieren Sie unseren Kanal. KN:IX talks: Überall da, wo es Podcasts gibt.
(Musik Intro KN:IX talks)
Alexandra Korn (KN:IX): Willkommen zur 25. Folge KN:IX talks. Mein Name ist Alexandra Korn und gemeinsam mit Johanna West verantworte ich die Folgen von KN:IX talks, die von Violence Prevention Network produziert werden. In den kommenden drei Folgen beschäftigen wir uns mit dem Thema Geschlecht in der Präventionsarbeit und dazu sprechen wir heute mit den folgenden drei Gästen. Eike Bösing ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Distanz an der Universität Vechta. Zuvor war er als Sozialarbeiter vor allem in der aufsuchenden Sucht- und Wohnungslosenhilfe tätig. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Radikalisierung und Deradikalisierung, Radikalisierungsprävention und Professionalisierung sozialer Arbeit. Yvonne Brabender hat Soziale Arbeit studiert und arbeitet seit 2012 in der Kinder- und Jugendhilfe. Seit 2019 arbeitet sie beim Institut für Gender reflektierte Gewaltprävention, dem ifgg, als Koordinatorin der Projekte TESYA® und inside.out sowie als zertifizierte Antigewalttrainerin und Elterncoach in der praktischen Durchführung. Tamo Stern ist Diplom Sozialpädagoge, Social Justice und Diversity Trainer und systemisch integrativer Therapeut mit langjähriger Erfahrung in der Schulsozialarbeit. Er ist seit 2020 beim ifgg und dort für die Projekte inside.out und TESYA® ebenfalls als zertifizierter Antigewalttrainer und Eltern Coach tätig.
(Musik)
Zu Beginn würden wir von euch allen gern hören, welche Rolle die Auseinandersetzung mit Geschlecht als Faktor in eurer jeweiligen Arbeit spielt und vielleicht auch, wie ihr Geschlecht für eure Arbeit definiert. Als erstes würde ich Eike das Wort übergeben.
Eike Bösing: Ja. Danke erstmal auf jeden Fall für die Einladung für den Podcast. Ich freue mich sehr darüber. Bei uns in der Forschung spielt Geschlecht vielleicht in zwei Dimensionen oder Gender in zwei Dimensionen eine ganz wichtige Rolle. Einerseits ist es natürlich eine wichtige Dimension der Identität, die zu berücksichtigen ist und andererseits eine wesentliche Dimension, eine soziale Kategorie sozialer Ungleichheit. Und in Bezug zu Genderordnung und gesellschaftlicher Geschlechterordnung natürlich ganz relevant. Und deswegen, glaube ich, ist die Analyse für soziale Prozesse auf Geschlecht bezogen oder Gender bezogen ganz, ganz relevant bei uns in der Forschung – bei mir jetzt ganz konkret in der aktuellen Forschung, an dem Forschungsprojekt Distanz, wo wir uns mit Deradikalisierung, Distanzierung auseinandersetzen und insbesondere auch mit dem Handlungsfeld der sekundären und tertiären Prävention. In der Deradikalisierungsarbeit spielt es natürlich auch dementsprechend eine ganz, ganz wichtige Rolle – zu schauen, wie sich eben Gender oder Genderordnungen da zeigen, wie geschlechtsspezifische Arbeit zum Beispiel umgesetzt wird. Und letztlich ist für mich Gender oder Geschlecht immer eine Frage der eigenen Positioniertheit. Da geht es natürlich um auch ganz verschiedene andere Dimensionen, wie solche der Strukturiertheit. Von welcher Perspektive schaue ich eigentlich selber auf das Phänomen? Von welcher Perspektive schaue ich eigentlich selber auf mein Forschungsfeld? Genau. Bei uns im Projekt Distanz hat sich diese Geschlechterdimension insbesondere gezeigt in den Interviews mit Fachkräften der Prävention von Deradikalisierungsarbeit. Genau – wie die Arbeit ausgestaltet wird und ob sich da, inwiefern sich da Konstruktionen, Geschlechterordnungen eben zeigen.
(Musik)
Alexandra Korn (KN:IX): Danke Eike. Dann die gleiche Frage noch an Yvonne und Tamo und vielleicht könntet ihr dabei das ifgg einmal kurz vorstellen.
(Musik)
Yvonne Brabender: Das ifgg, das Institut für genderreflektierte Gewaltprävention, bietet auf der einen Seite Jugendlichen, auch jüngeren – also Kindern und Heranwachsenden – Anti-Gewalt-Trainings an und parallel dazu auch für die Eltern Elterncoachings. Weil unsere Annahme ist, dass die Eltern für die oder enge Bezugspersonen – das müssen ja auch nicht unbedingt Eltern sein – enge Bezugspersonen für die Kinder und Jugendlichen am relevantesten, am wichtigsten sind und da ganz viel zu beitragen können, sie auf ihrem Weg zu unterstützen. Außerdem bieten wir mit dem Projekt Präfix R auch Eltern Coachings für inhaftierte Eltern an und mit dem darauffolgenden Projekt inside.out, was jetzt leider am Ende des Jahres ausläuft, weil es ein Modellprojekt war, bieten wir Coachings an für inhaftierte Eltern, die kurz vor der Entlassung stehen, wo es um die Transitionsphase geht, zurück zur Familie zu kommen. Aber auch Coachings für Eltern, deren Kinder inhaftiert sind. Also alles in allem betreuen oder begleiten wir hier ganz verschiedene Zielgruppen.
(Musik)
Also der Faktor Gender/ Geschlecht ist für mich wie so eine Brille, die ich immer auf habe im Rahmen meiner Arbeit, durch die ich gucke, durch die ich auf mich selber immer wieder gucke. Eike, das sagtest du auch gerade: wie ich mich selber reflektiere, was – weiß ich nicht da kommen wir später nochmal drauf – was reproduziere ich vielleicht selber? Was habe ich jetzt nicht mitgedacht? Was – genau – was bringt mein Gegenüber mit? Also ich gucke mit dieser Brille auch auf die Person, die mir gegenübersitzt, auf ihr Handeln und versuche Ideen, die ich habe, auch zur Verfügung zu stellen, um auch eine Auseinandersetzung mit dem Thema bei meinem Gegenüber zu initiieren. Manchmal versuche ich auch zu irritieren, manchmal zu sensibilisieren. All das sind, glaube ich, in der Kürze die Punkte an – genau – die, mit denen ich irgendwie das Thema Gender mit in meine Arbeit bringe oder darauf schaue.
Alexandra Korn (KN:IX): Super. Tamo, möchtest du das noch ergänzen?
Tamo Stern: Kann ich versuchen. Es sind ja zwei wirklich große Fragen. Welche Rolle spielt Geschlecht in der Arbeit und wie definieren wir das. Also abseits davon, dass das auch ja ein gesellschaftliches Streitthema ist und wahnsinnig viele Ebenen und Kategorien und Befindlichkeiten dazugehören, heißt das, glaube ich, würde ich wahrnehmen, in unserer Arbeit hier spielt das auf allen Ebenen schon von der ersten Begegnung mit Menschen in einem Vorgespräch, wo wir jeweils wahrgenommen werden als irgendwas, entlang der Geschlechterlinien. Und dass das unsere Kommunikation miteinander bestimmt. Oft bewusst, manchmal nicht. Und da machen wir glaube ich zur Aufgabe ein Blick oder eben diese Brille auch aufzubehalten oder immer wieder unseren Blick dafür zu schärfen: Hey, wo wollen wir das auf dem Schirm behalten? Wo könnte das einen Einfluss haben? Was macht das in der Fallzuteilung untereinander oder wie reflektieren wir eine Arbeit in einem konkreten Fall? Und Geschlechtsdefinition: Puh. Ich glaube, das ist in diesem Rahmen … da gibt es ja mehr als einen Aufsatz in dieser Welt. Vielleicht als das Wichtigste anschließend an das, was Eike auch schon gesagt hat: es ist halt eine sehr wichtige Definitionskategorie, die sehr viel mehr im Raum bestimmt als wir uns manchmal bewusst sind. Und das mit auf dem Schirm zu haben, ohne es immer zu definieren und vielleicht nicht immer Schubladen rauszuholen oder das, was Menschen allgemein darunter verstehen auch mal in Frage zu stellen. Vielleicht eben genau mal nicht zu definieren. Das ist vielleicht, ja ein Teil von dem, was wir versuchen.
Alexandra Korn (KN:IX): Ja, vielen Dank. Eike, Du hattest ja gerade schon die Studie, die auf Englisch „Gender Constructions in the Prevention of and Deradicalization from Islamism in Germany“ erwähnt, also zu deutsch „Geschlechterkonstruktionen in der Prävention und Deradikalisierung von Islamismus in Deutschland“. Was habt ihr durch die Forschung, aus der diese Studie hervorging, über den Status quo geschlechtsspezifischer Distanzierungsarbeit gelernt? Und welche Forschungsergebnisse haben dich besonders überrascht?
Eike Bösing: Ja, genau also das ist eine Teilauswertung im Rahmen des Projekts Distanz gewesen, wo wir uns eben diese Genderdimensionen, mit den Genderdimensionen angeschaut haben, die in den Interviews, ich sage mal ein Stück weit queer liegen, also in Erzählungen von Fachkräften zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Radikalisierung oder auch in der geschlechtsspezifisch unterschiedlich – oder auch nicht unterschiedlich -gestalteten Präventions- und Ausstiegsarbeit. Also wir schauen uns die Sekundär/Tertiärprävention und Deradikalisierung als gemeinsames Feld an. Und da fand ich das, was Tamo und Yvonne gerade schon gesagt haben, fand ich ganz, ganz zentral also die Brille. Mit welcher Brille wird drauf geschaut, was wird reproduziert, also mit dieser Reflexion reinzugehen. Und das ist eben auch eigentlich genau das Thema dieser Studie gewesen oder dieser Analysen gewesen. Wir haben nicht geguckt, was sind geschlechtsspezifische Radikalisierungsfaktoren oder können das sein. Da haben sich andere schon ganz umfassend mit auseinandergesetzt, sondern wir haben eigentlich die Perspektiven und die Annahmen von den Fachkräften selbst zum Untersuchungsgegenstand geschaut. Also wie werden die Erzählungen zu geschlechtsspezifischen Unterschieden oder Wahrnehmungen eigentlich von denen gerahmt und inwiefern lassen sich da eben genderspezifische Unterschiede oder Genderkonstruktionen drin ja rekonstruieren? Das ist aber ein bisschen schwierig, wenn wir so auf das Feld schauen. Es geht natürlich nicht darum, jetzt irgendwie mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen Ihr seid so und so oder ihr macht das so und so, sondern hier zu schauen, was steckt da drin, was wird vielleicht auch unbewusst reproduziert. Und im Ergebnis können wir sagen, dass es ist ein ganz, ganz vielfältiges Feld ist. Also es gibt natürlich ganz, ganz unterschiedliche Perspektiven, ganz unterschiedliche Arten, wie so was eingebracht wird oder reflektiert wird. Und im Großen und Ganzen will ich sagen, ist das Feld, so wie wir das betrachtet haben, da sehr, sehr weit entwickelt, sehr ausdifferenziert und sehr differenzierte Perspektiven, aber auch ganz unterschiedliche Perspektiven, wo wir eben Geschlechterkonstruktionen oder Geschlechterordnungen reproduziert sehen.
Im Ergebnis konkret haben wir da drei Typen abgeleitet, also drei Typen dieser Annahmen von Fachkräften über Genderdimensionen, die immer in Verbindung stehen mit Annahmen – ich sage mal in Anführungsstrichen – mit „weiblicher Radikalisierung“. Also der Begriff „weibliche Radikalisierung“ ist natürlich jetzt selber auch schon ein konstruierter Begriff, aber wir folgen da in der Analyse ein stückweit der Logik der Interviews. Wenn also Radikalisierungsprozesse von Männern, Radikalisierungsprozessen von Frauen gegenübergestellt werden.
(Musik)
Alexandra Korn (KN:IX): Und könntest du noch einmal näher auf die drei Stereotype eingehen, die ihr in der Forschung entdeckt habt?
Eike Bösing: Also wir haben so einen stereotypisierten Typ, wo also stereotype Rollenannahmen relativ stark reproduziert, oder Rollenzuweisungen reproduziert werden und in diesem Zusammenhang Radikalisierung von Frauen ganz stark als einen Assimilationsprozess – also ein Anpassungsprozess -verstanden wird. Die Stereotypisierungen sind da teilweise sehr prägnant. Also Männer werden als führende Personen aufgefasst, als lenkende Personen aufgefasst und so gerahmt. Und Frauen eben passen sich dem mehr an und wir haben auch so – Emotionalität zum Beispiel oder Beeinflussbarkeit – ein ganz, ganz wichtiges Thema – wird als eine stereotypisierte weibliche Eigenschaft eigentlich ganz stark herausgestellt. Das heißt, dass die Frauen sich eigentlich durch Anpassung an einen Mann oder an Männer erst radikalisieren und mögliche Kontextbedingungen werden da von den Befragten eigentlich ausgeklammert. Soziale Faktoren oder Radikalisierungsfaktoren, die sonst bekannt sind, werden da gar nicht thematisiert, sondern es geht eben um diesen Anpassungsprozess und eigentlich eine Aufgabe der Identität der Frauen zugunsten dieser vorgegeben Normen. Was wir da ganz stark beobachten – was wir insgesamt in unseren Analysen beobachten – ist eine tendenzielle Entpolitisierung von Radikalisierungsprozessen.
(Musik)
Das ist also so der erste Typ. Der zweite ist dazu ganz, ganz kontrastierend, also ein ganz starkes Gegenteil dazu. Und da wird eigentlich ja Anerkennung und Selbstbestimmung von Frauen akzentuiert. Geschlechterordnungen, gesellschaftliche Geschlechterordnung werden ganz stark kritisiert und eigentlich auch im Zusammenhang mit den Radikalisierungsprozessen von Frauen ganz stark zusammengedacht. Radikalisierung von Frauen wird dann von den Befragten eben gar nicht als eine Assimilation, sondern eigentlich als eine funktionale Strategie gesehen, und zwar eine funktionale Strategie, um sich eben unterdrückenden oder bevormundenden Verhältnissen ein Stück weit zu entziehen. Die Befragten akzentuieren da ganz stark die Entscheidungsfähigkeit, Entscheidungskompetenzen und Freiheiten von Frauen, die eben hervorgehoben werden, also eine ganz, ganz andere Erzählung über Geschlecht, die wir da sehen.
(Musik)
Dann haben wir noch einen dritten Typ, der ja mit dem zweiten vergleichbar ist, aber in der Nuance finde ich eine ganz interessante, andere Wendung noch hat. Da wird Radikalisierung nicht als eine Möglichkeit, sich Verhältnissen zu entziehen, sondern vielmehr als eine Ermächtigungsstrategie von Frauen gerahmt. Auch da ist also die Grundlage ebenfalls ein Fokus auf Selbstbestimmung, auf Handlungsfreiheit auf Handlungskompetenzen. Auch hier werden wie im zweiten Typ eben Geschlechterordnungen, gesellschaftliche Dimensionen ganz stark kritisiert. Die Radikalisierung wird dann eben nicht im Sinne von einem Entziehen aus den Verhältnissen, sondern als eine politische Subjektivität, als eine politische Selbstermächtigung gesehen. Und da wird also ganz viel über Wirksamkeit, Gestaltungsfähigkeit gesprochen und ideologische Aspekte – oder ich würde vielleicht sagen, auch idealistische Aspekte – werden viel, viel stärker hervorgehoben. Also wir haben eine ganz, ganz andere Erzählung wie Radikalisierung von Frauen stattfindet, welche Wirksamkeit damit verbunden wird oder welcher, welche Funktion eben damit verbunden wird. Und gerade diesen letzten Typ finde ich da eigentlich einen ganz, ganz interessanten Punkt, weil ich ja eingangs gerade gesagt habe, dass wir so eine Entpolitisierung ganz viel von Radikalisierung sehen, aber in diesem letzten Typ eben so eine politische Subjektivität von Frauen als eine Ermächtigungsstrategie ganz stark hervorgehoben wird und das finde ich, ist ein ganz guter Anknüpfungspunkt für weitere Forschung oder auch die Präventionsarbeit.
(Musik)
Du hattest noch gefragt: was hat mich überrascht? Dann würde ich vielleicht noch mal kurz was zu sagen. Also, entsprechend unserer Vorannahmen hat es uns nicht überrascht, dass eben auch stereotypisierte Geschlechterordnungen im Handlungsfeld reproduziert werden. Also das ist nicht überraschend in einer Gesellschaft, die eben von solchen sozialen Strukturen geprägt ist. Was mich aber schon ein bisschen überrascht hat, ist teilweise die Eindeutigkeit der Zuordnung. Dieser erste stereotypisierende Typ setzt sich nur aus Erzählungen von männlichen Beratern zusammen. Das sind eben nur Männer, die diesem Typ zugeordnet werden. Und beim dritten Typ, wo es um die politische Subjektivität geht, der setzt sich eben nur aus Erzählungen von Frauen zusammen. Diese politische Subjektivität wird nur von weiblichen oder von mir als weiblich gelesenen Beraterinnen so vertreten. Das ist natürlich, wenn man drüber nachdenkt, vielleicht nachvollziehbar, aber in dieser Eindeutigkeit hat es mich auch überrascht. Wobei wir sagen müssen, es geht hier um eine rekonstruktive Forschung und konzeptionelle Arbeit und nicht um Repräsentation. Das heißt, es sind jetzt Tendenzen, die ich interessant finde, aber das da kann natürlich jetzt nicht irgendwie was Repräsentatives oder ähnliches daraus abgeleitet werden. Ja.
Alexandra Korn (KN:IX): Ja, vielen Dank Eike für diese vielen Einblicke und auch Punkte, an die wir jetzt glaube ich noch gut anknüpfen werden. Und zwar erst mal mit der Frage an Yvonne und Tamo: Spiegelt das eure Erfahrung wider? Was für geschlechtsspezifische Annahmen existieren eurer Erfahrung nach in der Beratungsarbeit, vielleicht auch mit männlichen Klienten? Jetzt haben wir viel über weibliche Klientinnen gehört. Vielleicht könntet ihr das um die Perspektive männlicher Klienten ergänzen. Bzw. einfach die Frage: Welche Rolle spielt die Kategorie Geschlecht in der Arbeit mit männlichen Klienten?
Tamo Stern: Ich kann ja mal versuchen anzufangen. Auch das ist komplex. Das, was du Eike eben gerade beschrieben hast, ist ja, der Inhalt hat ja auch schon wieder mehrere Facetten. Wer spricht aus welcher Perspektive über wen und leitet davon die eigenen Arbeitsansätze ab? Ich denke, dass es geschlechtsspezifische Annahmen grundsätzlich gibt im Raum, wie ich auch vorhin schon gesagt habe – auch von uns in der beratenden Rolle gegenüber den Klienten und Klientinnen.
Wir hier versuchen, das aktiv aufzubrechen. Aber es spielt eine Rolle und wir stellen das selbst in unserem reflexionsbereiten Team fest, dass wir das immer wieder uns anschauen müssen, weil natürlich, gerade wenn, wir arbeiten viel zu Themen, Gewalt und Gewaltbereitschaft, Gründen davon, Wie kommen Menschen überhaupt dazu, gewaltvoll zu handeln? Und da sind Klischees sehr schnell im Raum. Also einmal einfach auch, weil wir gelernt haben, so zu blicken, zu denken: Oh, männlich positionierte Menschen sind gewaltbereiter oder stärker verbunden mit ihrer Wut als mit ihrer Trauer oder so und dann sind solche Annahmen schneller im Raum. Nicht nur bei uns, sondern auch mit Kolleg*innen, mit denen wir arbeiten also wir sind, ja wir arbeiten sehr vernetzt, wir müssen viel mit Jugendämtern arbeiten, Personen, die dort herkommen oder mit der Jugendgerichtshilfe, mit Schulen oder eben jetzt, wie ich ja auch gefragt im Haftkontext. Und da würde ich mal vorsichtig versuchen zu formulieren, dass nicht alle Kolleg*innen, denen wir dort begegnen, schon die Chance hatten, groß Reflexion zu üben und zu denken und das oft in diesen Institutionen auch jetzt nicht deren Priorität ist. Und das macht natürlich was aus. Und genau, insofern: Ja, Klischees begegnen uns und ich denke aber, es wäre auch falsch zu sagen, wir haben die nicht. Also das ist Teil unserer Arbeit in Intervision oder in Räumen, in denen wir uns eben auf die Fahnen geschrieben haben: Hey, wir müssen uns das anschauen, auch wir tragen das mit den Raum. Was denke ich jetzt bei Jugendlichen XY, warum er so und so handelt? Ist das ein… sitze ich da erstmal einem Klischee auf? Oh, schwierige Familienverhältnisse deswegen… das ist gar nicht so einfach und das braucht immer wieder Reflexion. Da reicht auch nicht eine Genderfortbildung oder sowas. Genau, und das ist vielleicht das, was mir zuerst dazu einfällt. Aber vielleicht magst du das auch ergänzen.
Yvonne Brabender: Ja. Also total alles was du sagst und ja, vielleicht auch in ganz simplen Sachen. Also als ich eben so darüber nachgedacht habe fällt es mir total schwer jetzt darüber zu reden, wo wird, wo werden Gender-Stereotype reproduziert? Ich komm dann immer gleich dahin, wie es nicht gemacht wird irgendwie oder was, worauf geachtet werden soll. Also nämlich, dass auch das, das wir auch beobachten, gerade im Haftkontext auch, dass es da wenig Raum für Bedürfnisse und Gefühle gibt. Und da irgendwie gar nicht drüber nachgedacht wird, dass das natürlich auch Männer irgendwie in den Haftanstalten dafür einen Raum brauchen. Und gerade da das ein ganz vulnerabler Moment ist irgendwie, wo sowas integriert werden soll. Also so Kleinigkeiten fallen mir da ein, wo ich denke, was wir hier im Kleinen schon mitdenken und damit schon erste Stereotype aufbrechen und genau eine andere Perspektive ermöglichen vielleicht einfach.
(Musik)
Tamo Stern: Ich häng grad noch an diesem Punkt. Wenn du gefragt hast, welche Rolle spielt auch die Kategorie in der Arbeit mit männlichen Klienten? Das eine ist ja, wie wir darauf blicken und das andere ist natürlich schon, dass die Kategorie Geschlecht und auch sich darin bewegen und darin das eigene Handeln auch zu verorten, sehr präsent ist mit den Menschen, die zu uns kommen. Also und gerade im Haftkontext ist es, sind es – ja weiß ich nicht – diese Institutionen fördern leider sehr ein sehr männlichkeitsorientiertes, klischeebehaftetes männlichkeitsorientiertes Handeln. Und Männer*, die sich darin bewegen und dem nicht entsprechen, haben es im Kontext schwerer. Also da gibt es Hierarchien und verschiedene andere Themen, die da sind und Jugendliche, die zu uns kommen oder auch Eltern im Haft-Kontexten beschäftigen sich sehr damit. Wo ist meine Position? Wie kann ich auch einfach für meine eigene körperliche Sicherheit sorgen. Also da sind ja auch ganz existenzielle Themen im Raum und da begegnen uns Geschlecht schon auch als in den Raum getragene Kategorie: Ich muss stark sein, ich darf jetzt hier keine Schwäche zeigen, denn sonst kriege ich Schwierigkeiten oder so was. Und das macht die Arbeit an manchen Stellen schon auch noch herausfordernder. Und genau, das fiel mir jetzt grad noch so ein, als eine Ebene, die auftaucht von außen.
Alexandra Korn (KN:IX): Ja, super. Ich sehe gerade Eike möchte das ganz gerne ergänzen.
Eike Bösing: Ja, ich finde es ganz spannend, was ihr da sagt. Ich habe auch den Eindruck, dass ein Stück weit da blinde Flecken herrschen, was auch so sozial emotionale Ebenen im Bereich der Männlichkeit oder in der Arbeit mit Männern angeht, was wir bei uns in der Forschung festgestellt haben und was aber auch andere, ein vergleichbares Projekt zum Beispiel in Großbritannien festgestellt hat, dass in der Beziehung zu Frauen oder zur Radikalisierung von Frauen jetzt vielleicht bei uns im Thema, die immer in einen Zusammenhang, in Relation zu Dritten gedacht werden, also in Relation zu Männern, zu Vätern, zu Brüdern, zu Predigern und also immer die soziale Komponente dabei ist, was ich eigentlich eine total spannende Perspektive finde, was total wichtig ist auch für Radikalisierungsprozesse, diese kollektiven Dimensionen sich anzuschauen. Bei Männern passiert das aber gar nicht. Also wir haben diesen Fokus ganz sicher stark bei Frauen, aber bei Männern, da geht es ja, das ist schon gesagt, um Männlichkeit, die reproduziert wird, oder Männlichkeitsbilder, die reproduziert werden. In der Radikalisierung geht es dann um Aggressivität, um Abenteuerlust, und das sind so individuelle Perspektiven. Und ich halte es so anekdotisch – wir haben auch Interviews geführt mit eben Aussteigern aus der islamistischen Szene und ich kann mich da an zwei Personen erinnern, für die war eine ganz, ganz enge Freundschaft ein ganz, ganz wesentlicher Faktor der Radikalisierung, der Ausreise zum sogenannten Islamischen Staat und eben auch der Desillusionierung. Also da war eine ganz, ganz enge emotionale Bindung zu einer zweiten Person dabei. Und solche Dinge, die finden in der Reflexion und das ist auch ein blinder Fleck, glaube ich, in der Forschung noch viel zu wenig Aufmerksamkeit.
(Musik)
Alexandra Korn (KN:IX): Vielen Dank für diese Ergänzung. Die nächste Frage würde ich auch noch mal an dich stellen, Eike und dann auch an Yvonne und Tamo. Wie stehen denn diese Annahmen und Stereotype über die wir jetzt gerade schon ein bisschen gesprochen haben, die wir sowohl für – jetzt in diesen binären Kategorien, in denen wir jetzt gerade sprechen – für Weiblichkeit und Männlichkeit gerade thematisiert haben, denn auch zu gesamtgesellschaftlichen Diskursen über Geschlecht. Und wie stehen sie auch in Wechselwirkung mit anderen Identitäts- und Diskriminierungsfaktoren wie zum Beispiel auch rassistischen Zuschreibungen?
Eike Bösing: Ja auch eine große Frage. Tamo und Yvonne haben da gerade eigentlich schon ganz, ganz zentralen Punkt angesprochen. Und zwar: wir haben eben gelernt mit einer bestimmten Brille zu schauen und das ist eben ein Teil unserer Sozialisation. Also diese Geschlechterordnungen sind eben gesamtgesellschaftstrukturierende Dimensionen, und die prägen unsere Sozialisation und davon können wir uns nicht frei machen. Die hängen mit Herrschaftsverhältnissen zusammen, mit Diskriminierungsverhältnissen zusammen. Wenn wir uns jetzt repräsentative diese großen Studien anschauen, gesamtgesellschaftliche Studien anschauen, dann sehen wir, dass eben Sexismus oder Antifeminismus einfach extrem weitverbreitet ist in der Gesellschaft und auch geschlechterübergreifend einfach internalisiert ist. Und hier würde ich auch diese Rollenzuschreibung, diese Stereotypisierungen eben mit rein oder mit zuweisen, weil eben solche Geschlechterkonstruktionen so was eben reproduziert wird. Und also da kann ich mich auch nicht selber von freimachen, denn wir sind alle so sozialisiert und das gilt auch für andere Dimensionen, für rassistische Dimensionen, für klassistische Dimensionen, die uns eben prägen und unsere Aufgabe in der Forschung – und auch in der Praxis mit Sicherheit – ist es eben das, sich bewusst zu machen, das auf den Tisch zu holen, zu reflektieren, zu schauen, wo sind eigentlich meine eigenen Vorannahmen. Das zum ersten Punkt vielleicht und zum zweiten Punkt. Also mit anderen Kategorisierungen bei uns nach Forschung, in diesen ganz konkreten Analysen haben wir eben festgestellt, dass es teils eine Vermengung von Genderdimensionen mit vermeintlich herkunfts- oder kulturbezogenen Narrativen gibt. Traditionelle Rollenbilder, konservative oder traditionelle Lebensmodelle werden ganz oft typübergreifend – also jetzt nicht nur bei den Stereotypisierten, sondern bei allen Typen – irgendwie in die islamische Welt, in die fundamentalistische islamische Welt verortet. Ja also da sehen wir auch wieder eine Tendenz des Otherings, dieser traditionelle Lebensstil ist ja vor allem ein muslimisches Thema, was, wenn wir uns jetzt Jugendforschung angucken, gar nicht stimmt. Also die Jugendstudie, Shell Jugendstudie, zeigt zum Beispiel auch auf, dass wieder so ein traditionelles Rollenbild bei Jugendlichen ganz, ganz verbreitet wird und auch so traditionellen Rollenzuweisungen von vielen jungen Menschen auch gewünscht wird. Also es ist mitnichten ein islamisches Problem, aber es wird immer diffuser oder es wird oftmals – nicht immer – oftmals ein diffuser Gegensatz zu einer deutschen Mehrheitsgesellschaft dann schon daher gestellt. Also ein Stück weit eine Fremdmachung oder auch eine Kulturalisierung von Geschlechterstereotypen, die wir da eben sehen. Wobei ich sagen muss, da kann ich jetzt in dem Bereich nur erstmal Tendenzen aufzeigen. Da müsste man sich jetzt aus der Forschungsperspektive noch mal genauer dem Ganzen widmen.
Alexandra Korn (KN:IX): Danke, Eike. Dann die gleiche Frage auch noch mal an Yvonne und Tamo.
Yvonne Brabender: Ja total gut, was du sagst, Eike. Also ich finde auch davon auszugehen, zum Beispiel, dass ich selber jetzt als total professionelle Sozialarbeiterin total befreit von allem bin, was da und aus der Gesellschaft auf mich einprasselt. Das wäre ja total naiv. Also es sind dann eher die Fragen in der Praxis, die ich mir stelle von was macht das mit mir, was hat das mit mir zu tun, wo ja wo wir vorhin auch waren, wo reproduziere ich wo, wo habe ich selber irgendwie meine – genau wie du sagst – blinden Flecken? Wo ist meine Brille schmutzig? Um in dem Bild zu bleiben. Genau, und eher auch den Blick darauf zu schärfen, nach den guten Gründen dafür zu suchen. Also, wie du sagst, warum ist es den Jugendlichen gerade besonders wichtig konservativ zu denken oder sich in konservativen Kreisen zu bewegen oder in die Richtung. Wozu ist das gut, was, was brauchen die Jugendlichen in dem Fall? Und das sehe ich als großen Schwerpunkt in meiner Arbeit und auch mit dem Blick auf – also ganz systemisch auch – auf die Gesellschaft und das System außenrum.
(Musik)
Tamo Stern: Der überwiegende Teil zum Beispiel von Klient*innen, die zu uns kommen, macht auch Rassismuserfahrungen. Und ich würde sagen, dann gibt es noch die große Kategorie Klassismuserfahrungen, also das tatsächlich einfach auch manchmal real das Thema ist durch die Erfahrungen, die die Menschen gemacht haben und durch die Position, die ihnen auch zugewiesen wird in dieser Gesellschaft mit irgendwie wenig Zugang zu – weiß ich nicht – erstem Arbeitsmarkt oder anderen Themen. Zum Beispiel Menschen, die Flucht-Erfahrung haben und dann lange irgendwie in ihren Prozessen, die irgendwie warten müssen auf ein selbstbestimmtes Leben. Wenn ich mir dann die Frage stelle, was machen Diskriminierungserfahrungen mit Menschen, was macht das mit Körper, was macht das mit meiner Identität? In welche Gegenbewegungen gehe ich vielleicht, um mich selbst zu ermächtigen? Gehe ich in einen Rückzug, gehe ich in eine Anpassung, gehe ich in einen Schritt nach vorne in was Offensives, um mich irgendwie irgendeines Raumes zu bemächtigen, dann spielt das natürlich eine Rolle im Diskurs darüber, aber auch in unserer Arbeit. Da sind wir dann bei den Gründen, die du eben hattest: warum handelt ein Mensch zum Beispiel auch gewaltvoll oder warum wendet er sich Gruppen zu, die ihm Gemeinschaft anbieten?
Yvonne Brabender: Also diese sich selbsterfüllenden Prophezeiungen, also auch aufzubrechen hier in den Rahmen, die wir zur Verfügung haben. Genau das ist unsere Aufgabe da.
(Musik)
Alexandra Korn (KN:IX): Was sind denn so die Basics, die Praktiker*innen aus eurer Sicht benötigen, damit eine gendersensible – eine geschlechtsensible – Praxis gelingen kann?
Yvonne Brabender: Ja, die Basics, also wir haben es heute schon ganz oft erwähnt. Ich finde, ganz oben sollte Selbstreflexion stehen und dafür ein Raum zu bekommen in unserer Arbeit ist leider gar nicht selbstverständlich. Also Supervision, Intervision, Fortbildungen und andere Räume sollten selbstverständlich sein, weil das genau der Moment ist, an dem ich auch mit anderen über mich selber und über die Arbeit meiner Kolleg*innen nachdenken kann. Aber auch meine eigene Haltung noch mal zu reflektieren. Also nicht davon auszugehen, dass ich die Professionelle bin, die alles weiß und mein Wissen an die Klient*innen übergeben möchte, sondern eher auch die Haltung zu haben: Ich gebe Raum. Und ich bin neugierig.
Tamo Stern: Wir haben den Luxus, mit den Menschen eben einen längeren Prozess zu haben und dann dort zu sitzen und zu sagen: Beim letzten Mal ist mir das und das noch nachgegangen. Könnte das, könnte das eine Rolle für Sie spielen? Und öfter sind die Menschen irritiert, weil sie es auch nicht gewohnt sind, dass das so genau hingeschaut wird und nicht genau hingeschaut wird, um die nächsten Fehler zu finden. Also ich glaube, das ist…es ist ja gesamtgesellschaftlich – finde ich – in unserer geübten Kultur hier leider sehr defizitorientiert und sehr fehlerorientiert und das ist die Gewohnheit, die die Menschen dann auch mitbringen. Und wenn wir dann fragen, ist auch oft erst mal eine gesunde Skepsis da, die wir versuchen anzunehmen als sehr verständlich. Und wir versuchen, Wertschätzung in den Raum zu bringen, auch Wertschätzung für krasse Erfahrungen, die die Menschen gemacht haben. Dass sie heute hier sitzen, überhaupt offen sind für ein Training oder für einen Blick in ihre Biografie und aber auch Wertschätzung, für die Widerstande die da drin sind. Ich glaube, wir machen mit ganz kleinen Dingen – wie du es sagst Yvonne – schon was anders. Das würden die Menschen, glaube ich, oft gar nicht wahrnehmen als geschlechtersensibles Arbeiten. Also einfach schon zu fragen: Wie geht es dir heute und wo spürst du das? – zum Beispiel – ist keine Frage, die Menschen gewohnt sind und den Körper mit einzubeziehen oder den Raum einfach auch aufzumachen für Verletzlichkeit, für Gefühle, die da sein dürfen. Wenn dann hier jemand sitzt und doch weint und dann – was weiß ich – zweimal sagt: Oh Gott, ich sollte nicht weinen oder so – zu sagen, es ist völlig in Ordnung Und vielleicht – also ich biete auch häufig was von mir selber an und sagt dann: Also ich finde weinen was Wichtiges. Ich habe irgendwann für mich entdeckt, dass ich das brauche, auch um mal ein bisschen in Kontakt mit mir selbst zu kommen. Oder dass es auch anderen ermöglicht zu sehen: Hey, ich brauch was. Sowas immer wieder in die Arbeit mit aufzunehmen und ja, ich glaube, das macht schon ein Unterschied, Beziehung überhaupt anbieten.
Yvonne Brabender: Genau. Also es geht gar nicht um dieses ganz Offensichtliche: ich muss jetzt irgendwie Genderrollen zwangsläufig in jedem Kontext einbringen. Also ich glaube, das erwarten auch die Eltern und die Jugendlichen auch manchmal, wenn sie den Namen unseres Instituts hören. Was heißt, denn das jetzt irgendwie und gehen dann gleich in Opposition dazu. Es geht aber eigentlich eher darum, sensibel zu sein, wenn’s irgendwie in den Raum kommt, dass auch auf eine sehr sensible, einfühlsame Art mit aufzugreifen und zu befragen. Nicht hinterfragen, sondern nachfragen. Das würde ich sagen, darum geht es.
(Musik)
Tamo Stern: Für mich war irgendwann total entspannend zu entdecken, dass es gar nicht darum geht, fehlerfrei zu sein. In diesen ganzen Debatten rund um Diskriminierung, Sensibilität zu Themen entsteht ganz schnell so eine Verkrampftheit im Raum. Und die macht uns handlungsunfähig und die macht uns auch unentspannt miteinander und Sprechbarkeiten zu suchen, ist manchmal wirklich einfacher, wenn wir davon ausgehen, wenn meine Grundposition ist: Ich werde Fehler machen. Ich werde Fehler machen und ich mach die auch schon lange. Und meine Aufgabe ist nicht, fehlerfrei zu sein, sondern bereit zu sein, mir meine Fehler anzuschauen und die zu entdecken. Und das kann sogar Spaß machen oder sich wie ein Lernen anfühlen. Und darin spürt ich vielleicht eine Entwicklung bei mir selbst und darin entsteht auch Begegnung mit anderen. Weil dieses, gerade da wir uns um Männlichkeit und Geschlecht und Fehlbarkeit und sowas bewegen, weil ja so was immer alles nicht da sein darf. Man darf keine Fehler machen oder so, dann ist so was wie ich lebe Fehlbarkeit vor und das ist: Oh. Guck mal, Mensch, wir haben es wiederentdeckt. Ja. Scheiße, da ist was passiert, das nicht so toll ist. Aber wie wollen was das das nächste Mal machen? Das kann wirklich Entspannung ins Miteinander bringen. Das wäre nur so eine Anregung, die mir irgendwann mal sehr geholfen hat.
(Musik)
Alexandra Korn (KN:IX): Wenn es jetzt Praktiker*innen gibt, die zuhören und die da vielleicht auch auf der Suche nach Informationen sind, gibt es da vielleicht auch direkt bei euch am ifgg etwas, das ihr zur Verfügung stellen könnt?
Yvonne Brabender: Zum einen bieten wir jährliche Fortbildungen an zur TESYA® Antigewalttrainer*in. Der Schwerpunkt ist da auch das genderreflektierte, intersektionale systemische Arbeiten. Und zum anderen auf unserer Website https://www.ifgg-berlin.de/ finden Praktiker*innen auch Methodenhandbücher. Ganz frisch entstanden aus dem Modellprojekt inside.out. Ich finde, da kriegt man auch eine ganz gute Idee davon, wie wir arbeiten und kann sich da aber auch selber vielleicht was mit abgucken.
Tamo Stern: Genau, die Methodenhandbücher sind was ganz Praktisches. Da sind auch tatsächlich einfach so Beratungsübungen und Gruppenübungen und Sachen dabei, die aber dann schon spezieller für so einen Beratungskontext sind.
Und was wir aber übers ifgg grundsätzlich sein können, ist, dass wir sehr interessiert sind an Vernetzung mit Menschen, die im Feld Gewaltprävention oder auch eben intersektionale Perspektiven in Beratungsarbeit Austausch und Vernetzung suchen. Und ja, das ist uns einfach auch wichtig, weil auch wir ja uns zur Aufgabe machen, dass es immer mehr Felder und Räume gibt, in denen Dinge sprechbar werden und miteinander bewegt werden können, weil auf Dauer ja auch nur so Veränderung sich fortträgt.
Yvonne Brabender: Vereinzelt bieten wir auch Fortbildungen oder kurze Workshops an, da kann auch immer angefragt werden.
(Musik)
Alexandra Korn (KN:IX): Eike, zum Abschluss – möchtest du noch ergänzen, was Yvonne und Tamo grad aus der Praxis-Perspektive reingegeben haben? Und gibt es vielleicht auch aus der Forschung noch irgendwas, was du den Hörer*innen mitgeben möchtest, was bei euch vielleicht demnächst ansteht?
Eike Bösing: Für die Reflexion von Praktiker*innen glaube ich oder auch von Forschenden, das gilt auch für uns – das ist ganz wichtig – den Mut zu haben, sich mit sich selbst und mit seinen eigenen Vorannahmen auseinanderzusetzen. Den Mut im Team zu haben, diese Dinge eben auch anzusprechen. Und dabei ist es ganz wichtig, glaube ich, einerseits nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen: Du bist so und so und du machst das so und so oder das ist doch jetzt hier total sexistisch, sondern das zum Thema zu machen, dass sich eben diese Genderordnungen und – konstruktionen eben auch bei uns Professionellen zeigen. Und auf der anderen Seite auf keinen Fall in Abwehrreaktion zu gehen und zu sagen: Nee, bei mir ist das nicht, das hattet ihr gerade auch schon angesprochen. Also es geht nicht darum zu sagen, wir sind ja jetzt hier so reflektiert, bei uns kann so was nicht vorkommen, sondern eben den Mut zu haben, das auch anzunehmen und sich auch ernsthaft damit auseinanderzusetzen, wie mein Blick möglicherweise auch ja von diesen Dingen beeinflusst wird.
(Musik)
Und abschließend: Wer noch an unseren Forschungsergebnissen vom Projekt insgesamt interessiert ist, der kann gerne auch auf unsere Webseite gehen www.forschungsverbund-deradikalisierung.de . Da werden immer die aktuellen Publikationen gelistet und da sind auch noch mal Kontaktadressen, falls irgendwie noch weitere Nachfragen dazu gibt.
(Musik Outro KN:IX talks)
Charlotte Leikert (KN:IX Outro): Sie hörten eine Folge von KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismus-Prävention. KN:IX talks ist eine Produktion von KN:IX, dem Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus. KN:IX ist ein Projekt von Violence Prevention Network, ufuq.de und der Bundesarbeitsgemeinschaft Religiös-begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx. Ihnen hat der Podcast gefallen? Dann abonnieren Sie uns und bewerten KN:IX talks auf der Plattform Ihres Vertrauens. Wenn Sie mehr zu KN:IX erfahren wollen, schauen Sie doch auf unserer Webseite www.kn-ix.de vorbei. Und wenn Sie sich direkt bei uns melden wollen, dann können Sie das natürlich auch machen. Mit einer Email an info [at] kn-ix.de. Wir freuen uns über Ihre Anmerkungen und Gedanken. KN:IX wird durch das Bundesprogramm “Demokratie leben!” des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Finanzierung erhalten wir von dem Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in Sachsen-Anhalt, der Landeskommission “Berlin gegen Gewalt” und im Rahmen des Landesprogramms “Hessen. Aktiv für Demokratie und gegen Extremismus.” Die Inhalte der Podcast-Folgen stellen keine Meinungsäußerungen der Fördermittelgeber dar. Für die inhaltliche Ausgestaltung der Folge trägt der entsprechende Träger des Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus, die Verantwortung.
Weiterführende Links
Albert M., Quenzel G., Hurrelmann K., Kantar P. (2019): Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort. 18. Shell Jugendstudie. Shell Jugendstudie. Vol 18. Weinheim: Beltz. Zusammenfassung: https://www.shell.de/about-us/initiatives/shell-youth-study/_jcr_content/root/main/containersection-0/simple/simple/call_to_action/links/item0.stream/1642665739154/4a002dff58a7a9540cb9e83ee0a37a0ed8a0fd55/shell-youth-study-summary-2019-de.pdf
Bösing, Eike/von Lautz, Yannick/Kart, Mehmet/Stein, Margit (2023): Gender Constructions in the Prevention of and Deradicalization from Islamism in Germany. Project: Distanz. In: Journal for Deradicalization, 37, 140-172: https://journals.sfu.ca/jd/index.php/jd/article/view/819/449 .
Institut für genderreflektierte Gewaltprävention (ifgg) https://www.ifgg-berlin.de/
Projekt Distanz Forschungsverbund | Deradikalisierung (forschungsverbund-deradikalisierung.de)