Podcast KN:IX talks

Folge #26 | Jungen* empowern

Männlichkeitsvorstellungen und sozialer Druck in der Jungen*arbeit mit muslimisch gelesenen Jugendlichen

Wir alle leben weiterhin in patriarchal geprägten Strukturen und Mustern. Warum ist da Empowerment für Jungen* wichtig? Was braucht es, damit Jungen* – insbesondere muslimisch bzw. migrantisch gelesene Jungen* – in ihrer Entwicklung gestärkt werden? Und welche Rolle spielen dabei bestimmte Männlichkeiten, sozialer Druck und Emotionen? In Folge #26 von KN:IX talks sprechen wir über Jungen*arbeit mit mehrheitlich muslimischen Jugendlichen. Zu Gast sind Anand Subramanian und Max Schneider, Bildungsreferenten im Empowerment-Projekt „Die Freiheit, die ich meine“ des Vereins Gesicht Zeigen!.

Im Podcast zu Gast

Anand Subramanian ist Bildungsreferent im Empowerment-Projekt „Die Freiheit, die ich meine“ für Jungen* des Vereins Gesicht Zeigen!. Zuvor arbeitete er als zertifizierter Deutschlehrer für Deutsch als Fremdsprache und ist zudem ausgebildeter Social Justice and Radical Diversity Trainer.

Max Schneider ist ebenfalls Bildungsreferent im Empowerment-Projekt „Die Freiheit, die ich meine“ für Jungen* des Vereins Gesicht Zeigen!. Davor war er als freier Bildungsreferent im Bereich der politischen Bildungs- und Demokratiepädagogik tätig und hat deutschlandweit Seminare und Workshops zu den Themen Identität, Diversität und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit umgesetzt.

Transkript zur Folge

(Musik im Hintergrund)

 

Max Schneider: Das engste Umfeld ist die Familie und da habe ich bestimmte Rollenvorbilder, als junger Mann* meistens zum Beispiel den Vater, den Bruder, den Opa. Und dann gehe ich in die Schule und dort sehe ich meine Lehrkräfte. Und dann sehe ich meine Mitschüler und frage mich halt, wie ich mich verhalten soll als junger Mann*. Dann kommen noch soziale Medien dazu und da werden aber bestimmte Männlichkeiten, die eben sehr maskulin sind, gezeigt.

 

Anand Subramanian: Warum steht immer die Migrationsgeschichte oder der Migrationshintergrund im Mittelpunkt? Ich kann nachvollziehen, dass Jugendliche, die einen Migrationshintergrund bzw. eine Migrationsgeschichte haben, sehr oft als Repräsentanten einer ganzen Community gesehen werden. Das sehe ich als eine riesige Last. Denn da wirst du, ob es gewollt ist oder nicht, in eine Ecke gedrängt, wo du dich positionieren musst, wo du für eine ganze Community einen Standpunkt einnehmen musst.

 

(Musik Intro KN:IX talks)

 

Charlotte Leikert (Intro KN:IX Talks): Herzlich willkommen zu KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. Bei KN:IX talks sprechen wir über das, was die Präventions- und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international beschäftigt. Für alle, die in dem Feld arbeiten oder immer schon mehr dazu erfahren wollten: Islamismus, Prävention, Demokratieförderung und politische Bildung. Klingt interessant? Dann bleiben Sie jetzt dran und abonnieren Sie unseren Kanal. KN:IX talks: Überall da, wo es Podcasts gibt.

 

(Musik Intro KN:IX talks)

 

Judith De Santis (KN:IX): Hallo, herzlich willkommen zur 26. Folge von KN:IX talks. Mein Name ist Judith De Santis und ich verantworte die Folgen für ufuq.de. Schön, dass Sie zuhören. Diese neunte Staffel von KN:IX talks dreht sich um Genderaspekte in Radikalisierung und Prävention. Die Kolleginnen von Violence Prevention Network haben mit Folge 25 den Aufschlag gemacht und sich zunächst angeschaut, wie eine gendersensible Praxis in der Präventions- und Distanzierungsarbeit gelingen kann. Die Folge der BAG RelEx diskutiert dann die Frage, inwiefern Radikalisierungsprozesse von Frauen eigentlich als Empowerment gesehen werden können. Und über Empowerment reden wir heute auch, aber im Kontext von Jungen*arbeit.

 

(Musik)

 

Diese wird oft als Jungen-Sternchen-Arbeit bezeichnet, um binäre Kategorisierungen zu vermeiden. Die Nennung des Sternchens am Ende von Geschlechtsbezeichnungen drückt das Unwissen der sprechenden Person aus, ob die Geschlechtsbezeichnung immer auch der Selbstaussage der Menschen entspricht. Um den Redefluss im Podcast zu vereinfachen, habe ich mich als Moderatorin dennoch gegen die Nennung des Sternchens beim Reden entschieden. Dies spiegelt jedoch nicht meine persönliche Haltung wider, die eine Verwendung des Sternchens am Ende von Geschlechtsbezeichnungen aus zuvor genannten Gründen befürwortet.

 

(Musik)

 

Empowerment für Jungen*? Braucht es das in einer patriarchal geprägten Gesellschaft, in der Jungen* und Männer* Privilegien erleben. Ja, braucht es und unbedingt. Denn Jungen* haben im Patriarchat Probleme und sie bekommen Probleme gemacht. Und die gilt es pädagogisch aufzufangen. Und in dieser Folge geht es dabei mehrheitlich um muslimische Jungen* bzw Jungen*, die als muslimisch gelesen werden. Zu diesem Thema habe ich heute zwei Gäste da: Max Schneider und Anand Subramanian arbeiten als Bildungsreferenten im Empowerment-Projekt „Die Freiheit, die ich meine“ des Vereins Gesicht Zeigen! im Bereich der Jungenarbeit. Sie bieten Workshops für mehrheitlich muslimische Jungen* an Berliner Schulen an. Darüber hinaus führen sie auch Lehrkräfte-Fortbildungen durch und bieten Workshopreihen für Eltern an.

 

Hallo Anand, hallo Max. Schön, dass ihr heute hier seid.

 

Anand Subramanian: Hallo Judith.

 

Max Schneider: Hallo Judith, wir freuen uns, hier zu sein.

 

Judith De Santis (KN:IX): Was bedeutet denn Jungen*arbeit? Warum ist die wichtig?

 

Max Schneider: Ich glaube, Jungen*arbeit bedeutet, dass man – letztlich auch wie bei Mädchen*arbeit – einen Raum aufmacht für junge Menschen, die sich männlich identifizieren, die männlich sozialisiert sind. Und das ist wichtig, um ihnen in einer Phase der Entwicklung einen Raum zu geben, um kontrovers, kritisch, emotional über Themen zu sprechen. Das bedeutet für mich persönlich erstmal Jungen*arbeit. Und das ist wichtig – ich glaube, das war schon immer wichtig, aber heutzutage ist es sehr wichtig – da junge Menschen und gerade auch junge Männer*, genauso wie ich jetzt auch sagen könnte, gerade junge Frauen* oder als weiblich gelesene Personen, unter einem enormen Druck stehen. Ich bin jetzt 31 und die jungen Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, sind jetzt 13, 14, 15. Und wenn man mitkriegt, mit welchen Informationen die konfrontiert werden – digital, aber auch in ihrer Lebenswelt – dann ist das eine Menge. Und dem einen Ort zu geben, wo sie es aussprechen können, wo sie denken können, reflektieren können, andere Perspektiven bekommen können, ohne den Zwang zu haben, ganz bestimmte Meinung zu übernehmen. Das bedeutet Jungen*arbeit für mich.

 

Anand Subramanian: Für mich hat Jungen*arbeit auch einen persönlichen Bezug. Als ich angefangen habe, die Arbeit zu machen und vor allem komplexe Themen in einem sicheren Raum besprechbar zu machen, wurde mir klar, hey, als ich Jugendlicher war, hätte ich auch gerne so eine Konstellation gehabt. Einfach ohne Druck über Themen zu sprechen. Und so definiere ich auch Jungen*arbeit für mich: über komplexe Themen mit Spaß und ohne Druck reden zu können.

 

Judith De Santis (KN:IX): Worin besteht denn dieser Druck? Ihr habt es gerade schon gesagt, diese Informationen, die einprasseln, der Druck, der erzeugt wird. Stichwort Männlichkeitsvorstellungen. Könnt ihr dazu etwas sagen?

 

Anand Subramanian: Ich sehe um mich herum Jungs* in der Peergruppe oder auch erwachsene Männer* – also erwachsene Männer*, die ich auch in meinem Leben um mich herum habe. Denn das fängt ja mit der Familie an, sehr unbewusst. Sagen wir mal, mein Vater, mein Opa, mein älterer Bruder. Und danach kommt meine Peergruppe. Und in der Schule habe ich die männlichen Lehrkräfte. Und da sehe ich, dass es vielleicht ein Muster ergibt, wie ich mich als Junge* zu verhalten zu habe. Zum Beispiel sehe ich sehr oft, dass mein Vater derjenige ist, der mit seinen Emotionen nicht wirklich offen ist. Und dann denke ich, okay, ich muss mich genauso verhalten. Obwohl ich in manchen Momenten den Bedarf habe, meine Emotionen rauszulassen. Aber ich habe gesehen, dass es nicht getan wird. Und darauf folgte ein Muster. Und das ist dann der Druck, wo ich mein Ich versuche zu unterdrücken und versuche, einfach so zu sein, wie die Anderen um mich herum.

 

Max Schneider: Anand hat das ja gerade ganz schön beschrieben, aus einer familiären Perspektive heraus. Also das engste Umfeld ist die Familie. Und da habe ich bestimmte Rollenvorbilder, als junger Mann* meistens zum Beispiel den Vater, den Bruder, den Opa. Und dann gehe ich in die Schule und dort sehe ich meine Lehrkräfte. Und dann sehe ich meine Mitschüler und frage mich, wie ich mich verhalten soll als junger Mann*. Dann kommen heutzutage – und ich glaube, das ist ein nicht zu unterschätzender Faktor – soziale Medien dazu, wo wahnsinnig stark Videos gespielt werden, in denen es um Männlichkeit und Maskulinität geht. Und wo bestimmte Männlichkeiten – wir sagen das bewusst im Plural, weil es uns nicht darum geht, zu sagen, es gibt die eine Männlichkeit und die ist richtig und andere sind irgendwie falsch. Aber es gibt halt unterschiedliche. Und da werden aber bestimmte Männlichkeiten, die sehr maskulin sind, gezeigt.

 

Judith De Santis (KN:IX): Zum Beispiel? Was werden da für Männlichkeiten gezeigt?

 

Max Schneider: Wir haben uns letztens solche Videos angeguckt und in denen geht es zum Beispiel darum, dass Männer* gemeinsam an einem See sind, oberkörperfrei, und dann sportliche Aktivitäten machen, Eisbaden oder Holzhacken; also so ein klischeehaft männliches Verhalten. Und da wird schon viel thematisiert, wie du als junger Mann* stark sein sollst, wie du dich aber auch in Bezug auf Frauen* verhalten sollst. Und da ist glaube ich in jedem Fall eine gewisse Anziehung da, zu solchen Videos, zu solchen Themen. Und dann bist du in der Schule, und das hat Anand ja schon beschrieben, auf einmal in so einem Kollektiv und da herrscht dann auch ein Gruppendruck vor. Und was wir halt immer sehen in der in der Arbeit mit Jugendlichen: Gruppensituationen, Peer Pressure, soziale Erwünschtheit, sind unfassbar wirkmächtig.

Und wenn du dann ein bestimmtes Verhalten hast, sehen wir halt, dass die Abgrenzung bei Jugendlichen ganz, ganz stark ist. Also es ist eine Abgrenzung hin – zum Beispiel bei uns ganz stark das Thema, dass man zum Beispiel nicht homosexuell sein will, dass man auf eine bestimmte Art und Weise männlich sein will. Dass das halt ganz wichtig ist für die Identitätsbildung als Mann*. Und da ist jetzt die Frage, wie können wir andere Perspektiven aufzeigen? Und auch hier wieder mit dem Gedanken, es geht nicht darum zu sagen, du bist irgendwie falsch, wenn du so denkst. Aber aufzuzeigen, okay, wo ist sozusagen – wenn wir zum Beispiel über Homosexualität reden, und das ist übrigens ein Thema, das alle Jugendlichen betrifft – wie können wir das für uns fassbar machen? Es ist völlig okay, wenn du sagst, du willst selber nicht homosexuell sein. Aber wo ist die Abwertung, die du triffst? Wo findet die sozusagen nur statt, um sich selbst aufzuwerten und man glaubt, dass man das machen muss, um ein Mann* zu sein. Da ist die spannende Frage, inwiefern kann man da andere Perspektiven anbieten, die da das Gefühl von, ein Mann zu sein, funktioniert immer nur darüber, wenn ich dieses klischeehaft Männliche verkörpere – was dann nicht weiblich ist, nicht homosexuell ist, was immer arbeiten geht, was immer dieses und jenes macht – ohne dabei die Werte, die die jungen Menschen haben, die dahinter stehen, zu verletzen oder in Frage zu stellen. Und ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir müssen unterscheiden zwischen sozialem Druck, nennen wir es mal so, sozialen Zugehörigkeitswünschen, Werten, die junge Menschen haben, und der Sozialisierung, die sie erleben. Und da müssen wir sehr gut differenzieren. Und da wird es auch interessant, wenn wir zum Beispiel über die Abwertung von Gruppen reden. Weil da funktioniert es auf einmal nicht mehr, dass man sagt, ja, die ganzen migrantisch gelesenen Jugendlichen, die sind jetzt das Problem. Das ist einfach Quatsch. Weil da merkt man, dass es eben alle jungen Menschen betrifft. Bei den einen – da kommt wieder das Wort Druck mit rein – herrscht ein anderer Diskurs vor und deswegen ist da der Druck größer. Also migrantisch gelesene Jugendliche sind einfach in unseren Diskursen, in der Öffentlichkeit, sehr stark unter Druck und werden immer sehr schnell ins Visier genommen als sozusagen Problemmacher. Was ich auf jeden Fall für sehr fragwürdig halte. So würde ich es ausdrücken. Ich will gar nicht sagen, dass es nicht Probleme oder Herausforderungen gibt. Aber die gibt es wie gesagt grundsätzlich bei Jugendlichen und die kann man nicht auf eine Gruppe reduzieren. Das halte ich für sehr, sehr unpräzise.

 

Judith De Santis (KN:IX): Wie würdet ihr also die Ziele von Jungen*arbeit für euch zusammenfassen?

 

Anand Subramanian: Die Themen, über die wir mit den Jugendlichen reden, auch wenn wir das aus einer Erwachsenenperspektive sehen, sind wirklich komplex. Ich kann einfach einen Begriff wie Männlichkeit raushauen, aber das ist, wenn ich einen erwachsenen Mann* fragen würde und das haben wir auch bei einigen Veranstaltungen getan, da fällt es ihnen auf einmal schwer, im Sinne von, ah, okay, ich muss mal überlegen, was Männlichkeit eigentlich bedeutet und was ich damit assoziiere. Und deshalb ist für mich das Ziel, komplexe Themen auf Augenhöhe besprechbar machen und dadurch einen Raum für Perspektivenvielfalt zu öffnen, die auch nachhaltig bleibt. Mein Ziel ist nicht, am Ende eines Workshops, ein messbares Ziel mitzunehmen. Das halte ich für unrealistisch. Nach 90 Minuten kann ich nicht erwarten, dass ich die Denkweise eines jungen Menschen von einem Extrem zu einem anderen Extrem verändert habe. Das ist nicht möglich. Aber was wir versuchen ist, zu sehen, was die Positionierung angeht: ist man von einem Schritt zu dem nächsten Schritt für sich selbst gekommen? Hat man seine eigenen Denkweisen hinterfragt, reflektiert und ist man daraufhin zu einem anderen Standpunkt gekommen? Nicht, weil wir das gesagt haben. Aber weil Perspektivenvielfalt im Raum entstanden ist. Und das sehe ich als ein wichtiges Ziel, was die Jungen*arbeit betrifft.

 

(Musik)

 

Judith De Santis (KN:IX): Ihr arbeitet mehrheitlich mit muslimischen Jungen* oder Jungen*, die als muslimisch gelesen werden. Welchen Schwierigkeiten sind muslimische Jungen* ausgesetzt?

 

Max Schneider: Das ist erstmal ein sehr wichtiger Punkt. Ich glaube, dass muslimische Jugendliche, mit denen wir bis jetzt zusammengearbeitet haben, sehr, sehr ähnliche Probleme und Herausforderungen haben wie nicht-muslimische Jugendliche. Die machen sich auch Gedanken über Beziehungen. Die machen sich Gedanken über, wie kann ich Geld verdienen? Die machen sich Gedanken über, vielleicht, wie sehe ich aus? Die machen sich Gedanken über Familie. Die machen sich Gedanken über ihre Hobbys, aber auch über Gott und die Welt. Also muslimisch gelesen oder muslimisch sozialisiert, heißt nicht immer unbedingt, dass sie mega religiös sein müssen. Das ist auch nochmal wichtig zu erwähnen. Weil das dann oft so, okay, muslimisch gleich extrem religiös. Wir sind ja eine mehrheitlich christliche Gesellschaft und viele von uns sind auch christlich sozialisiert, aber werden nicht direkt als so sehr religiös wahrgenommen. Ich glaube schon – und da spreche ich nicht aus eigener Erfahrung, aber das ist meine Vermutung, ich habe keine Migrationsgeschichte in der Familie – dass, wenn du aufwächst in einer Familie, wo deine Eltern oder vielleicht deine Großeltern irgendwann mal aus einem anderen Land hergekommen sind. Und ich glaube, das kann man jetzt auch grundsätzlich sagen, nicht nur auf Menschen mit Migrationsgeschichte aus muslimisch geprägten Ländern bezogen. Dann hast du natürlich in der Familie einen Bedarf, bestimmte Dinge zu erhalten, die wichtig sind für die Familie, die einen Wert haben. Da sind wir wieder bei den Werten, was ein ganz wichtiger Punkt ist für unsere Arbeit. Wir arbeiten sehr viel über Werte bei den Jugendlichen. Und die wollen erhalten werden und die sind dann aber teilweise auch ein bisschen anders als das, was dann viele Menschen in der Mehrheitsgesellschaft schon an Werten haben. Also für unsere Jugendlichen, zum Beispiel, wir haben letztens wieder darüber geredet, da ging es darum, wie sieht denn für dich eine ideale Partnerin aus? Und dann sagte einer, der kam aus einer muslimisch geprägten Familie, naja, meine Frau trägt jetzt idealerweise nicht so super enge Klamotten. Für mich ist das wichtig, dass das ein bisschen lockerer ist und einfach anders ist – weil er es so kennt. Und das ist ein schönes kleines Beispiel, an dem man sieht, es sind einfach unterschiedliche Prägungen, unterschiedliche Wertevorstellungen. Das heißt aber nicht direkt – um das negative Stigma nochmal kurz zu dekonstruieren – dass dieser junge Mann* dann der Meinung ist, dass alle Frauen* so sein müssen. Das ist er nämlich gar nicht gewesen. Er war da extrem tolerant. Aber er hat einfach nur gesagt, das ist meine Vorstellung.

Das heißt also, es gibt bestimmte Prägungen, die sie haben, die kommen aus der Familie. Und dann gehen sie aber auf einmal in die Schule. Und die Schule ist sehr mehrheitsgesellschaftlich geprägt. Die ist sehr geprägt durch Normen, durch Gesetze, durch Vorschriften. Und auf einmal erleben sie, dass es da Widersprüchlichkeiten gibt zwischen dem, was sie vielleicht Zuhause mitkriegen und erleben, und dem, was dann in der Schule passiert. Und in beiden Räumen, sowohl Zuhause als auch in der Schule, haben sie einen Anpassungsprozess, den sie die ganze Zeit durchlaufen. Also sie wollen in der Familie dazugehören, denn das ist das Wichtigste. Sie wollen aber auch in der Schule dazugehören. Und ich glaube, dann kommt noch als Drittes hinzu – also wir haben einmal die Familie, wir haben die Schule als Sozialisierungsräume, wo sie sich anpassen wollen, anpassen müssen, auch ein Stück weit – und dann kommt noch hinzu, ich nenne das jetzt mal die Gesellschaft, also der gesellschaftliche Blick, wo dann auch Politik ganz stark mit reinkommt. Das wirkt natürlich auch extrem in Schule rein. Und da kommt es ganz darauf an. Da ist natürlich schon ein problematischer Blick da. Gerade wenn es um migrantisch gelesene Jugendliche geht. Gerade wenn es um muslimisch gelesene Jugendliche geht. Das müssen wir auch ganz klar benennen. Diese Diskurse sind ja häufig sehr negativ geprägt. Und dann ist halt wieder die Box da, in die sie dann ein Stück weit reinpassen sollen. Aber es ist vielschichtiger und es ist komplexer als das. Wir helfen den Jugendlichen nicht, wenn wir sie in diese Box reintun. Und das ist so ein bisschen das, was ich mit dem gesellschaftlichen Druck meine. Also da sind bestimmte Diskurse da, wir sprechen auch mit unseren Jugendlichen darüber, dass sie manchmal auf eine bestimmte Art und Weise gesehen werden. Und das wissen sie auch selber. Die merken schon auch, wie über „den Islam“ geredet wird. Sie merken, wie über geflüchtete Menschen geredet wird. Sie kriegen diese Diskurse mit. Und umso stärker wird ja auch nochmal der Anpassungsdruck für sie in der Schule.

 

Anand Subramanian: Wenn ich da ergänzen darf. Ich finde es vom Kontext her relevant zu erwähnen, dass ich selber ein Migrant bin. Ich wohne erst seit knapp über vier Jahren in Deutschland und ich habe mir immer die Frage gestellt: Warum steht immer die Migrationsgeschichte oder der Migrationshintergrund im Mittelpunkt? Und daraufhin, was Max auch schon erwähnt hat, ist die Erfahrung, die ich gemacht habe, was ich einigermaßen nachvollziehen kann. Also damit meine ich nicht rechtfertigen. Aber ich kann nachvollziehen, dass sehr oft Jugendliche, die einen Migrationshintergrund bzw. eine Migrationsgeschichte haben, als Repräsentanten einer ganzen Community gesehen werden. Also das sehe ich als eine riesige Last. Und da wirst du, ob es gewollt ist oder nicht, in eine Ecke gedrängt, wo du dich positionieren musst, wo du für eine ganze Community einen Standpunkt einnehmen musst. Du hast ja auch schon den Punkt erwähnt, dass wir überwiegend mit Jugendlichen arbeiten, die sich der Glaubensrichtung Islam zugehörig fühlen. Ja, das sind sie, das stimmt schon. Aber trotzdem ist jeder junge Mensch divers. Sie mögen in den Workshops zwar eine homogene Gruppe sein, aber trotzdem herrscht da eine Heterogenität, was auch die eigene Beziehung zu der Religion angeht.

 

(Musik)

 

Judith De Santis (KN:IX): Wie vermeidet ihr es, die Jungen*, mit denen ihr arbeitet – wenn ihr sagt, es sind mehrheitlich muslimische Jungen* oder Jungen* mit Migrationsgeschichte – nicht der Stigmatisierungsgefahr auszusetzen, dass sie sich als Problemgruppe fühlen oder sehen? Wenn ihr sagt, wir machen jetzt ein Angebot für euch, denn wir müssen euch in irgendeiner Art und Weise unterstützen. Dadurch könnte ja der Eindruck entstehen, dass irgendetwas korrigiert werden muss. Wie geht ihr damit um?

 

Anand Subramanian: Das ist eine ganz wichtige Frage. Unser Ansatz in den Workshop ist immer empowernd zu denken. Wir denken Richtung Empowerment. Deshalb finde ich auch es wichtig zu erwähnen, dass junge Menschen mit oder ohne Migrationsgeschichten Empowerment brauchen. Und wir sehen Jugendliche in erster Linie für ihr Alter und dann für ihre Lebensrealität. Ich kann das von meiner Seite bestätigen. Mit 14, 15 Jahren, kann ich mich in vielen der Jugendlichen sehen. Ich bin in Indien geboren und aufgewachsen. In dem Alter gibt es viele Überschneidungen und das ist eher altersbezogen und nicht die Kultur oder die Religion betreffend. Und wir achten auch auf deren Lebensrealität. In unseren Workshops reden wir in einem Modul über Religion, Vielfalt der Religionen, also Vielfalt innerhalb des Islams. Aber das nur ein Schwerpunkt. Wir haben darüber hinaus zum Beispiel Demokratie und Partizipation. Das ist auch ein sehr wichtiges Modul, also die eigenen Diskriminierungserfahrungen. Und wie man sich sozusagen als Betroffener dagegen einsetzen kann. Auch Klassismus ist zum Beispiel ein Modul, worüber wir reden. Und da sehen wir bei vielen Jugendlichen mit und auch ohne Migrationshintergrund, mit denen wir arbeiten, dass viele davon betroffen sind. Das ist deren Lebensrealität. Und in einem Raum, wo eine heterogene Gruppe entsteht, da stellen wir Fragen. Und diejenigen, die zu Wort kommen wollen, erzählen von ihrer Lebensrealität. Stichwort Klassismus. Und da sehen sie, hey, ist doch egal, ob du einen türkischen Hintergrund hast oder ich einen deutschen Hintergrund, was es sein mag. Aber was dieses Thema angeht, haben wir dieselben Probleme. Und dadurch entsteht ja auch ein Zusammendenken. Also das in erster Linie, sagen wir mal, wenn du in einer kapitalistischen Gesellschaft lebst, egal was für einen Hintergrund du hast, kannst du auch von denselben Probleme betroffen sein. Und wir machen das besprechbar und dadurch entstehen Diskussionen und hoffentlich auch sehr, sehr kleinschrittige mögliche Lösungen, die für sie, in deren Umfeld, umsetzbar sind. Und dadurch hoffen wir, diese Stigmatisierung wegzunehmen.

 

Judith De Santis (KN:IX): Wie labelt ihr denn eure Workshops? Also welchen Titel gibt ihr so einem Workshop?

 

Max Schneider: Wir sagen, wir sind das Projekt „Die Freiheit, die ich meine“ und wir wollen die nächste Zeit mit euch ins Gespräch kommen, wir wollen mit euch einen Raum eröffnen, um über Gedanken, Gefühle, Zweifel, die man hat, aber auch Teamgeist, zu sprechen. Also es ist nicht immer nur so: Heute reden wir über Diskriminierung, schweres Thema. Das hat natürlich einen ganz lockeren Ansatz. Wie gesagt, wir gehen nicht bei Ihnen rein und signalisieren ihnen sozusagen, dass wir jetzt hier sind, weil sie muslimisch sozialisiert oder geprägt oder gelesen sind. Sondern wir gehen rein und formulieren das anders.

 

Judith De Santis (KN:IX): Dann beschreibt doch mal eure Arbeitsweise in der Jungen*arbeit an Schulen. Wie läuft so ein Workshop ab?

 

Max Schneider: Wir bringen immer eine Frage mit, wo wir sagen, die hat schon einen Hinweis auf das Thema, das heute besprochen wird. Also zum Beispiel, als wir über Religionen gesprochen haben, haben wir zum Beispiel die Frage gestellt: Braucht der Mensch Religion? Oder braucht Religion den Menschen? Auch eine relativ philosophische Frage. Ist auch nicht so einfach zu beantworten, aber es ist eine spannende Frage. Zumal Religion ja auch etwas mit Glaube zu tun hat.  Glaube kann man auch wieder allgemeiner fassen. Also Überzeugungen. Wir müssen jetzt nicht nur über die Bibel oder den Koran reden.  Sondern da geht es ja wirklich auch um Glaubens- und Gewissensvorstellungen.

Genau, Frage des Tages. Und dann meistens Einstieg in den hauptinhaltlichen Block. Dann kommt es immer darauf an, welche Methode wir nehmen wollen. Wir sind schon ein Projekt, in dem wir gerne diskutieren, ins Gespräch gehen. Wir bringen dann Reflektionsfragen mit und gehen dann ins Gespräch darüber. Also über Religionen kann man sehr schön diskutieren. Da haben wir dann unterschiedliche Fragen, die wir stellen können. Man kann das aber auch über Methoden machen, die wir haben. Wir haben zum Beispiel ein Spiel, das nennt sich das Ja-Nein-Spiel. Jeder Teilnehmer oder jede Teilnehmerin bekommt eine Ja- und eine Nein-Karte in die Hand. Und dann wird eine Moderationsfrage gestellt. Zum Beispiel: Findest du, dass Deutschland ein christlich geprägtes Land ist? Das kann auch ein Moment sein, um einen Einstieg zu finden.

Und dann würden wir danach sehr gerne in die Diskussion gehen. Dann gucken wir immer, wie ist denn so die Gruppendynamik. Wir haben jetzt zum Beispiel in der einen Gruppe 13 Schüler*innen gehabt. Da kann es dann manchmal Sinn machen, die Gruppe aufzuteilen. Wir sind ja glücklicherweise zu zweit. Wir benutzen auch sehr gerne ein digitales Tool. Wir benutzen viel Mentimeter zum Beispiel, wo sie dann auch ihre Handys nutzen können und darüber anonyme Umfragen machen können, um so ein bisschen den sozialen Druck zu nehmen. Wo sie sich dann aber auch positionieren können. Wir machen dann so Aussagen, zum Beispiel bei der Frage, braucht der Mensch Religion, als Aussage oder als Frage, bieten wir Ihnen unterschiedliche Antwortmöglichkeiten an. Dann können sie darüber abstimmen.

 

Anand Subramanian: Vor allem in der inhaltlichen Phase, wenn wir in die Diskussionsphasen gehen, haben wir für uns entschieden, dass es gewinnbringend sein könnte, nicht immer wieder die jungen Menschen zu challengen. Wir wollen sie zwar herausfordern, aber das kann man auch tun, indem man immer wieder Nachfragen zu ihren Meinungen stellt. Und dann haben wir gesehen, dass immer wieder, wenn man weitere Nachfragen stellt, sie manchmal den Punkt erreichen, wo sie sagen, weißt du was, ich kenne mich damit nicht so gut aus. Und währenddessen passiert genau dieser Perspektivenwechsel. Aber parallel haben die Jungen* auch das Gefühl, hier wird mir zugehört, hier wird meine Meinung gehört. Nicht sofort ja oder nein, richtig oder falsch. Das ist wichtig, denn nur dadurch entsteht ein Raum, wo auch viele Meinungen ausgetauscht werden können.

Es kommt sehr darauf an, wie man eine Diskussion führt. Wenn man eine Diskussion auf Augenhöhe führt und nicht sofort jemandem ins Wort fällt und sagt, das darfst du nicht sagen, das darfst du nicht sagen. Sondern zu sagen, ja, ich höre dir zu. Aber weißt du was, aus meiner Perspektive ist es so und so. Und daraufhin ist es vielleicht wünschenswert, dass du vielleicht auch aus der Perspektive denkst. Und du versuchst mal, genau das, was du sagen möchtest, ein bisschen anders zu formulieren. Also ihnen Alternativen zur Verfügung zu stellen.

Und dann ist die Diskussionsphase und ganz am Ende, um das abzuschließen, führen wir nochmal diese Mentimeter-Abfragen durch. Denn, wie Max schon erwähnt hat, wir wollen einerseits diesen Positionierungsdruck – also, wir merken, das ist auch ein anderer Druck.  In der modernen Gesellschaft muss ich mich positionieren. Und was wir tun, ist, okay, einerseits anonym. Und auch was die Positionierung angeht, wir tun das nicht, ja oder nein. Zum Beispiel, als wir das Thema Geschlechtergerechtigkeit und über Männer*- und Frauen*rollen diskutiert haben. Zum Beispiel stellen wir dann die Frage: „Als Mann ist es auch wichtig, über Emotionen zu reden. Das macht mich nicht schwach.“ Dann haben wir vier Antwortmöglichkeiten. Max macht das immer gut, auch die Sprache der Jugendlichen zu nutzen. Zum Beispiel ist eine Antwortmöglichkeit: „Ja, voll Bock, Bruder. Genau das meine ich.“ Und die zweite ist: „Hm, schwierig. Darüber muss ich nachdenken“. Und die dritte: „Ja, das stimmt. Aber es ist schwierig in der Gesellschaft.“ Und eine weitere Antwortmöglichkeit ist: „Nein, darüber darf man nicht reden.“ Und dann haben Sie nochmal die Wahl, sich in vier unterschiedlichen Stufen zu positionieren. Denn unsere Jugendlichen sind auch der Meinung, es gibt nicht immer ja oder nein. Sie sagen, man kann nicht alles schwarz oder weiß sehen. Es gibt auch diese Grauzone.

Aber das ist einerseits für uns ein Feedback. Oh, hat da eine Reflexion stattgefunden? Zu sehen, wie sie sich positionieren.  Wie gesagt, ich erwarte nicht, dass auf einmal eine 180 Grad-Wende passiert, im Sinne von, ja, ab morgen rede ich über meine Emotionen. Das wäre unrealistisch. Aber zum Beispiel auch, wenn sie sich positionieren. Ja, darüber muss ich nachdenken. Das heißt für uns, dass da eine Reflexion stattgefunden hat.

 

Judith De Santis (KN:IX): Danke. Eine andere Frage. Wie geht ihr damit um, wenn die Jugendlichen so einen sexistischen Spruch raushauen, den sie lustig finden, also lustig meinen? So ein unbeabsichtigtes, nicht böswilliges, sexistisches Verhalten. Ist das dann falsch? Oder wie setzt ihr da die Grenzen?

 

Anand Subramanian: Also wenn wir das Thema Männer*bild und Frauen*bild und natürlich auch Sexismus besprechen, kommen manchmal natürlich auch krasse Aussagen. Und ich als Referent und als ein erwachsener Mann, habe für mich entschieden, dass unsere Arbeit auch sehr stark auf Beziehung basiert. Und wir haben ja auch über Druck geredet und wir haben über Vorbilder, also erwachsene Männer* als Vorbilder, geredet. Und in dem Moment treffe ich für mich die Entscheidung, ich muss zugeben, dass ich mit 14, 15 Jahren auch solche sexistischen Meinungen und Gedanken hatte. Und ich habe auch solche Sprüche rausgehauen. Und das sage ich denen auch. Hey, in dem Alter ist es mir auch passiert und ich versuche ihnen kurz über meine Biografie zu erzählen. Nicht um zu rechtfertigen, sondern einfach zu erzählen, was meine Meinung mit 14, 15 Jahren rund ums Thema Frauen*bild war. Und dann sage ich ihnen, dass ich das auch cool fand. Aber warum sich das im Laufe der Zeit auch geändert hat. Und die Wirkung ist, dass sie auf einmal zuhören und denken, krass, der war auch nicht perfekt. Und das ist die Wahrheit. Ich denke mir keine Geschichten aus. Dass sie einfach wissen, ich bin auch nicht reflektiert geboren. Ich habe auch im Laufe der Zeit Unterstützung gehabt von unterschiedlichen Menschen, die mir geholfen haben, meine Perspektiven und Meinungen zu ändern. Das ist das erste.

Und das zweite: Natürlich, wenn solche menschenverachtenden Aussagen im Raum sind, ist es für uns ganz wichtig, dass wir das nicht einfach so im Raum liegen lassen. Das wäre das Allerschlimmste, was wir tun können. Wir überlegen uns in dem Moment, okay, sind wir fast am Ende des Workshops, würde es Sinn machen, das Thema komplett zu öffnen? Oder nehmen wir das Thema und bauen daraus für die nächste Sitzung eine komplette Stunde? Weil wir finden, dass es unbedingt behandelt werden muss. Und so etwas Ähnliches haben wir auch rund um das Thema Sexismus und frauenverachtende Aussagen gemacht. Da haben wir versucht, was die Methodik angeht, mit Biografien zu arbeiten. Wir haben uns überlegt, hey, würde es Sinn machen, da eine Frauenperspektive reinzubringen, mit einer Frauenstimme? Dann haben wir uns einen Audiowalk überlegt, in dem wir drei unterschiedliche Geschichten als einen Podcast erstellt haben, mit Musik und alles ganz exklusiv für die Schule gemacht, wo wir die Schule und die Jugendlichen angesprochen haben. Und die Idee war auch, dass jede*r mit einem Kopfhörer für sich selbst in sich hinein geht. Denn über solche Themen, wenn man in einer offenen Gruppe diskutiert, da hat man sehr oft die Wortführenden. Und die geben immer den Ton ab. Und auch wenn es einige gibt, die das anders denken, trauen sie sich nicht, zu Wort zu kommen.

Wir hatten zum Beispiel eine Geschichte rund um das Thema Liebe. Also einmal Liebe als eine nicht sexualisierte Emotion und einmal Liebe aus einer queeren Perspektive, die wieder nichts mit Sex zu tun hat. Und einmal über eine Frau als Mensch, was wieder nichts mit Sex zu tun hat. Warum haben wir das gemacht? In der Gruppe war der Bedarf, denn wir haben festgestellt: Liebe wurde nur mit Sex verbunden. Und das wollten wir ein bisschen dekonstruieren. Eine Kollegin von uns hat die Audioaufnahme für uns gemacht. Also wo eine Frau die eigene Erfahrung mit solchen Sprüchen erzählt. Danach sind wir in eine Diskussion gegangen. Also, wie hast du die Geschichte empfunden, wenn eine Frau das auf einmal aus ihrer Perspektive erzählt? Und, natürlich, einerseits kam: ja, stimmt schon, dass es vielleicht keinen Sinn macht, Frauen zum Beispiel nur aufgrund ihrer Kleidung moralisch abzuwerten. Doch andererseits hat auch nicht die erwünschte Reflexion stattgefunden. Das muss ich auch zugeben. Aber das ist vielleicht die Art und Weise, wie wir damit umgehen. Dass wir das nicht liegen lassen, aber versuchen, aus den Inhalten, die die Jugendlichen uns gegeben haben, mit einer anderen Methodik reinzugehen und nochmal eine andere Perspektive anzubieten. Denn wir merken, das ist ein langwieriger Prozess.

Aber ich denke auf jeden Fall, dass wir in der einen Gruppe diese Denkanstöße gegeben haben, die sie bis zu unseren Workshops auf gar keinen Fall hatten. Ich bin mir relativ sicher. Und ich bin mir sicher, dass sie das im Laufe der Zeit mitnehmen und darüber nachdenken werden. Vielleicht in zwei, drei Jahren denken sie, ja, ich hatte einen Workshop und da haben wir darüber geredet. Jetzt kann ich damit etwas anfangen.

 

Judith De Santis (KN:IX): Das heißt, in der Jungen*arbeit oder in euren Workshops, könnte ich jetzt so sagen, geht es nicht darum, Männlichkeit neu zu definieren oder so und so müsste ein Junge* sein. Sondern ihr eröffnet Räume, um eine Reflexionsfähigkeit oder Aushandlungs- bzw. Abwägungsfähigkeit zu fördern?

 

Anand Subramanian: Genau. Natürlich ist da nochmals die Frage: Denn wir reden ja über ein sehr, sehr gesellschaftsrelevantes Thema, und zwar, was toxische Männlichkeit angeht. Und da ist vielleicht in erster Linie auch eine Aufklärungsarbeit wichtig. Also, warum ist diese Form von Männlichkeit toxisch? Wann wird es toxisch? Wir versuchen, dass die Jugendlichen ein bisschen darüber reflektieren, dass es in erster Linie toxisch ist, wenn es mir persönlich schadet. Und zweitens, es schadet direkt den Frauen* oder Mädchen*. Und, the big picture, der ganzen Gesellschaft wird auch geschadet. Es ist ein Teufelskreis. Wir versuchen also zuerst diese Aufklärungsarbeit. Und auch zu sagen, es kann auch andere Männlichkeiten geben. Diese Männlichkeit ist nicht rein negativ. Also, du darfst sehr gerne ins Fitnessstudio gehen, du darfst gerne fit bleiben. Das ist ja auch schön. Aber andererseits, du darfst auch gerne über deine Emotionen reden.

 

(Musik)

 

Judith De Santis (KN:IX): Welche Chancen und Herausforderungen birgt eigentlich geschlechtergetrenntes, also binäres Arbeiten, das ihr durchführt?

 

Max Schneider: Ich glaube, die Chance ist, dass man ein Stück weit die Jugendlichen, sowohl in den Mädchen*- als auch in den Jungen*gruppen abholt in ihrer Lebensrealität. Wir machen die Erfahrung, dass in der Regel die meisten jungen Menschen sich mit ihrem Cis-Geschlecht – also das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht – identifizieren und sich heterosexuell orientieren. Und die Chance ist hier, dass man über dieses binäre Vorgehen Räume aufmachen kann, um dann darüber zu sprechen. Geschlecht, Gender, sexuelle Orientierung. Die meisten Jugendlichen wissen häufig gar nicht – kommt auch darauf an, manche wissen es schon, manche haben sich da viel informiert – aber viele wissen auch gar nicht, was ist jetzt der Unterschied? Manche denken, Transmenschen sind Transvestiten zum Beispiel. Da gibt es einfach viel Unwissen, wo wir dann auch ein Stück weit aufklären können. Ich glaube, da bietet es eine Chance.

Die Herausforderung ist natürlich, wie machen wir jetzt einen Raum für Menschen auf, die sich zum Beispiel non-binär identifizieren. Da haben wir noch nicht die perfekte Lösung gefunden. Unser Wunsch ist es schon, langfristig auch wieder ein Stück weit aus dem Binären raus zu gehen und die Räume vielleicht auch wieder ein bisschen zusammenzuführen. Da ist dann die Frage, wie. Vielleicht nicht über ein ganzes Halbjahr, aber dass man auch Jungen-Sternchen und Mädchen-Sternchen, also jetzt bewusst auch mit dem Sternchen genannt, im Sinne von, dass sie vielleicht auch selber das noch nicht wissen. Manchmal gibt es auch Schüler*innen, die wissen das schon, die sagen, ich bin non-binär. Das hatten wir zum Beispiel in unseren Jungen*gruppen noch nicht. Wir wissen aber zum Beispiel an einer Schule, wo wir sind, dass es da auch mehrere Menschen gibt in der Schüler*innenschaft, die das so formulieren. Das heißt, auch da ist der Bedarf natürlich da. Und da sind wir gerade am Arbeiten, am Reflektieren. Wir machen jetzt auch nochmal dezidiert deswegen eine Fortbildung in geschlechterreflektierter Pädagogik und Arbeit, um uns weiterzubilden und uns zu überlegen, wie können wir das auch vom Format her, von den methodischen Angeboten, die wir haben, wie können auch wir da sensibler werden, um diese Arbeit dann präzise und bedarfsorientiert durchzuführen?

 

Judith De Santis (KN:IX): Anand, du hast ja Aufklärungsarbeit erwähnt. Würdet ihr diese auch in Verbindung mit Präventionsarbeit sehen? Also ist eure Arbeit Präventionsarbeit? Denn in diesem Podcast sprechen wir ja über unterschiedliche Themen und Bereiche der Islamismusprävention. Und inwiefern ist dieser Begriff oder allgemein der Präventionsbegriff eigentlich relevant für eure Arbeit?

 

Max Schneider: Der ist auf jeden Fall relevant. Wir gehen jetzt nicht in die Workshops mit dem Gedanken, wir machen heute Prävention. Das ist auf jeden Fall nicht das Hauptziel. Aber ich würde sagen, dass unser definitiv auch ein Präventionsprojekt ist oder einen präventiven Charakter hat. Wenn wir mit den Jugendlichen diese Räume aufmachen, wenn wir mit ihnen in diese Gespräche gehen, wenn wir in die Auseinandersetzung gehen, dann hat das im Sinne einer demokratietrainierenden Funktion, sage ich mal, ganz klar auch einen präventiven Charakter. Also ich würde sagen, unser Projekt ist natürlich präventiv gegen Islamismus, genauso wie es aber präventiv ist gegen Sexismus oder wie es präventiv ist gegen Rechtsextremismus oder wie es präventiv ist gegen alle anderen möglichen Ismen, die einem jetzt einfallen. Auf einer allgemeinen Ebene ist es daher definitiv ein präventives Projekt.

 

Judith De Santis (KN:IX): Was braucht es denn, damit Jungen*arbeit gelingen kann? Was wünscht ihr euch für die Jungen*arbeit?

 

Max Schneider: Das, was wir in unserem Projekt haben, ist unfassbar wertvoll. Da sind wir wirklich sehr, sehr dankbar für, unser gesamtes Team, dass wir an drei Schulen in Berlin sind, wo wir Zeit bekommen, wo wir Räume bekommen, wo wir Unterstützung bekommen. Das ist das, was es grundsätzlich braucht. Ich glaube, was es auch braucht, ist generell in unserem Bildungssystem, dass wir in den Blick nehmen, dass es uns manchmal helfen kann, wenn wir die Dinge ein Stück weit reduzieren. Dass wir gucken, was ist das, was gerade relevant ist? Und das kann bedeuten, dass man versucht, solche Räume auch noch mehr zu schaffen. Räume, wo es möglich ist, in den Austausch zu kommen, auf Augenhöhe, mit unterschiedlichen Ansätzen, aber auch sozusagen nicht nur, wie wir jetzt, okay, wer kann gut reden, der sagt dann ganz viel. Sondern auch, sich pädagogisch, didaktisch so damit auseinanderzusetzen, dass man versucht, möglichst viele Menschen abzuholen. Das ist enorm wichtig. Generell gesellschaftlich, aber speziell in der Schule. Das heißt, um ein Gelingen von so einer Jungen*arbeit möglich zu machen, muss oder kann, sollte, das, was wir gerade haben, was wir vorfinden an unseren Schulen, noch mehr möglich gemacht werden, denke ich. Sowohl für Jungen*, als auch für Mädchen*, als auch für Menschen, die sich non-binär identifizieren. Das betrifft alle jungen Menschen, so wie es alle Menschen in der Gesellschaft betrifft. Ich glaube, das ist ganz, ganz wichtig.

Und vielleicht noch mal auf einer generell gesellschaftlichen, auch gesellschaftspolitischen Ebene. Ich glaube, wir müssen verstehen, dass Vorstellungen von Gender, von der Konstruktion von Geschlecht, von patriarchalen Rollenvorstellungen, von, ich weiß nicht, matriarchalen Rollenvorstellungen, dass die extrem wirkmächtig sind die ganze Zeit. Und ich glaube, wir dürfen nicht the easy way out nehmen. Wir dürfen nicht sagen, naja, es gibt halt das eine und das ist jetzt irgendwie patriarchal und das betrifft diese Gruppe, sondern wir müssen das wirklich sehr gut differenzieren. Was auch schon gemacht wird, wenn man sich anguckt, wie viele Menschen in unserem Bereich auch arbeiten, wieviele tolle wissenschaftliche Publikationen es zu diesen Themen gibt. Das könnte noch mehr Gehör finden, finde ich. Also dass wir da noch breiter drüber sprechen. Dass wir es nicht immer nur am Ende reduzieren auf, ja, da geht es um Religion. Sondern es geht immer um die Verschränkung dieser Dinge miteinander. Und das ist immer ganz stark miteinander verbunden. So betrachten wir auch unsere Arbeit. Wir sehen das immer sehr intersektional. Dass wir immer sagen, es ist nicht nur das eine, was ein Faktor spielt, was eine Rolle spielt. Und ich glaube, wenn wir uns da zutrauen, dass wir das leisten können als Gesellschaft, auf der gesellschaftlichen Ebenen und dann konkret in die Schule hinein. Dass wir es leisten können, dieses Hochkomplexe, diese hochkomplexen Themen, hochkomplexe Situationen, runterzubrechen, zu vereinfachen, um dann wieder in das Komplexe hineinzugehen. Dann haben wir einen großen Schritt gemacht. Das wäre mein Wunsch. Und das braucht es, damit diese Arbeit erfolgreich ist.

 

Anand Subramanian: Für mich ist es klar, Jungen*arbeit braucht mehr Liebe. Da versuchen wir auch nicht binär zu arbeiten, also wenn man ein Mädchen*projekt macht, da kann man mehr über Emotionen reden, also diese klischeehafte Denkweise. Aber wenn man mit Jungen* arbeitet, redet man über gewisse andere Sachen, mit einer gewissen Distanzierung von Emotionen. Ich habe festgestellt, dass es schwierig ist, in der heutigen Gesellschaft, über die eigenen Emotionen oder Gefühle zu reden. Aber ich habe auch festgestellt, dass man, egal über welches Thema wir reden, über welches Modul, kann man immer wieder die Emotionen reinbringen und auch, entweder wortwörtlich oder durch andere Wege, sagen, hey, du bist auch geliebt. Du bist geliebt, wie du bist. Mach dir da keinen Stress. Denn ich glaube, unsere Jungen* wollen geliebt werden. Jeder Mensch sehnt sich nach Liebe. Und ich sage, Jungen*arbeit braucht Liebe und damit meine ich auch, dass wir als Männer* unter uns auch bereit sind, über Liebe zu reden. Also Liebe nicht nur in der Perspektive von einem Mädchen* oder einer Frau*, wenn ich nur binär rede. Aber das auch wir als Menschen untereinander bereit sind, in unseren Worten, das ausdrücklich zu äußern. Und ich glaube, das wird bei jedem Menschen allgemein gut ankommen.

 

Judith De Santis (KN:IX): Vielen Dank, Anand und Max, für die spannenden Einblicke in eure Arbeit. Ich habe heute sehr viel von unserem Gespräch mitgenommen und ich wünsche euch alles Gute für eure Arbeit.

 

Anand Subramanian: Mir persönlich hat es auch sehr Spaß gemacht. Dankeschön, Judith.

 

Max Schneider: Von mir auch, vielen, vielen Dank. Auch vielen Dank an alle, die jetzt vielleicht zugehört haben. Und wir hoffen, dass wir uns vielleicht irgendwann mal wiedersprechen.

 

(Musik)

 

Judith De Santis (KN:IX): Und auch an Sie, vielen Dank fürs Zuhören. Und wer jetzt oder bei Gelegenheit noch zur Mädchen*arbeit des Vereins Gesicht Zeigen! hören möchte, quasi als Ergänzung, dann empfehle ich in die allererste Folge von KN:IX talks reinzuhören. In dieser war Katrin Benzenberg zu Gast und hat zur Mädchen*arbeit des Projekts „Die Freiheit, die ich meine“ gesprochen. Also dann, tschüss und bis zum nächsten Mal.

 

(Musik)

 

Inhaltliche Vorbereitung und Moderation: Judith De Santis | Technische Umsetzung und Postproduktion: Malte Fröhlich.

 

(Musik Outro KN:IX talks)

 

Charlotte Leikert (KN:IX Outro): Sie hörten eine Folge von KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismus-Prävention. KN:IX talks ist eine Produktion von KN:IX, dem Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus. KN:IX ist ein Projekt von Violence Prevention Network, ufuq.de und der Bundesarbeitsgemeinschaft Religiös-begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx. Ihnen hat der Podcast gefallen? Dann abonnieren Sie uns und bewerten KN:IX talks auf der Plattform Ihres Vertrauens. Wenn Sie mehr zu KN:IX erfahren wollen, schauen Sie doch auf unserer Webseite www.kn-ix.de vorbei. Und wenn Sie sich direkt bei uns melden wollen, dann können Sie das natürlich auch machen. Mit einer Email an info [at] kn-ix.de. Wir freuen uns über Ihre Anmerkungen und Gedanken. KN:IX wird durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Finanzierung erhalten wir von dem Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in Sachsen-Anhalt, der Landeskommission Berlin gegen Gewalt und im Rahmen des Landesprogramms Hessen. Aktiv für Demokratie und gegen Extremismus. Die Inhalte der Podcast-Folgen stellen keine Meinungsäußerungen der Fördermittelgeber dar. Für die inhaltliche Ausgestaltung der Folge trägt der entsprechende Träger des Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus, die Verantwortung.

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