Podcast KN:IX talks

Folge #27 | Weibliche Radikalisierung als Empowerment?

Motive, islamistische Propaganda und gesellschaftlicher Kontext

Wieso wenden sich Frauen einer islamistischen Szene zu? Gibt es dabei Unterschiede zur Radikalisierung von Männern? Und kann weibliche Radikalisierung vielleicht sogar als eine Form des Empowerments gesehen werden? Darüber sprechen wir mit der Politikwissenschaftlerin Fatima El Sayed. Außerdem sprechen wir mit Alma Fathi über ihre Erfahrungen aus der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit mit Mädchen/Frauen.

Wenn wir über Radikalisierung, auch von Frauen, sprechen, dürfen wir den gesellschaftlichen Kontext nicht außer Acht lassen, in dem Hinwendungsprozesse stattfinden. In Folge #27 von KN:IX talks sprechen wir daher mit Fatima El Sayed unter anderem darüber, unter welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Frauen im Allgemeinen, aber auch speziell muslimische Frauen leben und die in Bezug auf Radikalisierung eine Rolle spielen können.

Im zweiten Interview erzählt die Beraterin Alma Fathi (Grüner Vogel e.V.) von ihrer praktischen Arbeit mit radikalisierten Frauen und geht unter anderem darauf ein, wie beispielsweise der IS gezielt Frauen anspricht und weshalb sich Frauen islamistischen Gruppen anschließen.

Im Podcast zu Gast

Fatima El Sayed ist Politikwissenschaftlerin mit einem besonderen Fokus auf kritische Migrations- und Integrationsforschung. Sie studierte Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und an der Universidad de Granada. Vormals war sie als Referentin beim postmigrantischen und anti-rassistischen Netzwerk „neue deutsche organisationen“ und als wissenschaftliche Mitarbeiterin sowohl bei ufuq als auch am Berliner Institut für Migrationsforschung (BIM) tätig. Aktuell promoviert sie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Alma Fathi hat vergleichende Religionswissenschaft und Geschichte (M.A.) an der Freien Universität Berlin studiert. Zudem ist sie zertifizierte Trainerin für Interkulturelle Kompetenz, Demokratiebildung (Betzavta) und Antigewalttraining. Alma Fathi ist seit 2009 in der Eltern-, Angehörigen- und Ausstiegsberatung tätig. Ursprünglich arbeitete sie in einer Beratungsstelle zu den Themenbereichen Sekten, rechte Gruppierungen und Strömungen der rechten Esoterik und begann zu dieser Zeit, Angehörigen zu beraten, deren Kinder in das Kriegsgebiet Afghanistan ausgereist sind.

Von 2015 bis 2020 war Alma Fathi Mitglied des Berater-Teams von HAYAT-Deutschland, seit 2021 ist sie Mitglied im Vorstand des Vereins Grüner Vogel e. V. und arbeitet in der Fallberatung vor allem mit Frauen, die mit ihren Kindern aus jihadistischen Kampfgebieten zurückgekehrt sind, sowie mit deren sozialem Umfeld.

Transkript zur Folge

Fatima El Sayed: Das, was islamistische Akteur*innen oft versprechen, ist eine Wirksamkeit. Und ich glaube, dieses Empowerment ist dann in dem Sinne so ein Schritt zur Selbstwirksamkeit. Und das macht es halt so attraktiv.

(Musik Intro KN:IX talks)

 

Charlotte Leikert (KN:IX Intro): Herzlich willkommen zu KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. Bei KN:IX talks sprechen wir über das, was die Präventions- und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international beschäftigt. Für alle, die in dem Feld arbeiten oder immer schon mehr dazu erfahren wollten. Islamismus, Prävention, Demokratieförderung und politische Bildung – klingt interessant? Dann bleiben Sie jetzt dran und abonnieren Sie unseren Kanal. KN:IX talks – überall da, wo es Podcasts gibt.

(Musik Intro KN:IX talks)

Charlotte Leikert (KN:IX): Hallo und herzlich willkommen zur 27. Folge von KN:IX talks. Mein Name ist Charlotte Leikert

Ulrike Hoole (KN:IX): und mein Name ist Ulrike Hoole. Gemeinsam hosten wir den Podcast KN:IX talks bei der BAG RelEx.

In dieser neunten Staffel widmen wir uns den Themen Gender und Radikalisierung. In den vorherigen Folgen haben sich die Kolleginnen von Violence Prevention Network damit auseinandergesetzt, welche Rolle geschlechterspezifische Annahmen und Stereotype in der Präventionspraxis selbst spielen. Und ufuq hat sich in Folge 26 mit Männlichkeitsvorstellungen beschäftigt und wie Jungen durch gezielte Angebote in ihrer Entwicklung gestärkt werden können.

In unserer Folge sprechen wir über die Radikalisierung von Mädchen und Frauen. Wir schauen uns an, wieso sich Frauen einer islamistischen Szene zuwenden, ob es da überhaupt einen Unterschied zur Radikalisierung von Männern gibt und ob eine Radikalisierung vielleicht sogar als eine Form des Empowerments gesehen werden kann.

Charlotte Leikert (KN:IX): Wenn wir über Radikalisierung sprechen, dürfen wir den gesellschaftlichen Kontext nicht vernachlässigen, in dem die Hinwendungsprozesse stattfinden. Dazu spreche ich jetzt mit der Politikwissenschaftlerin Fatima El Sayed, die unter anderem zum Thema Abwehrstrategien von muslimischen Frauenorganisationen gegen antimuslimischen Rassismus und islamistische Ansprachen promoviert. Im zweiten Interview erzählt die Beraterin Alma Fatih von ihrer praktischen Arbeit mit radikalisierten Frauen und geht unter anderem darauf ein, wie beispielsweise der IS gezielt Frauen anspricht und weshalb sich die Frauen islamistischen Gruppen anschließen.

(Musik)

Fatima, schön, dass du die Zeit genommen hast und jetzt hier bist. Was sind denn aktuell die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen Frauen im Allgemeinen, aber auch speziell muslimische Frauen leben und die in Bezug auf Radikalisierung eine Rolle spielen können?

Fatima El Sayed: Also ich glaube, ein zentraler Aspekt bei diesem Phänomen ist quasi, dass wir uns einfach Ungleichheit in der Gesellschaft angucken müssen und dass wir in einer Gesellschaft leben, die quasi durch Sexismus, durch Rassismus, durch Klassismus, durch ganz viele unterschiedliche Ungleichheiten geprägt ist. Und ja, mein Eindruck ist, dass das tatsächlich eine große Rolle quasi spielt bei so Hinwendungsprozessen. Das wurde lange Zeit, glaube ich, sehr ausgeblendet aus diesem Phänomenbereich, weil es ungemütlich ist, weil es bedeutet, dass Gesellschaft sich verändern muss, dass mehr Teilhabe ermöglicht werden muss. Ich glaube, das ist ein Grund, das erstmal so außer Acht zu lassen, quasi und eben nur auf die Ideologie zu schauen. Und was jetzt aber, glaube ich, stärker ins Blickfeld rückt, ist tatsächlich, dass eben gesellschaftliche Ungleichheit und Exklusionserfahrung, Diskriminierungserfahrung durchaus eine Rolle spielen zu unterschiedlichen Graden. Also ich glaube, dass das nicht allein als Erklärungsmuster reicht, aber dass das durchaus ein wichtiger Faktor ist und dass oft auch die Wahrnehmung eine Rolle spielt, also das gar nicht unbedingt die eigene Betroffenheit immer im Zentrum stehen muss, sondern dass durchaus auch die relative Deprivation beispielsweise so eine Rolle spielt und gar nicht das Tatsächliche, also tatsächlich Benachteiligung. Für muslimische Frauen, insbesondere jene, die durch das Kopftuch sichtbar sind. Da sind mittlerweile die Datenlage ist da auch relativ klar und eindeutig, dass es einfach in jeglichen gesellschaftlichen Kontexten, dass sie starke Ausgrenzungserfahrungen machen. Wir haben quasi auch durch den Staat forcierte Exklusionsmechanismen würde ich es nennen, dass muslimische Frauen eben bestimmte Berufe lange Zeit nicht ergreifen durften, aus bestimmten gesellschaftlichen Kontexten ausgeschlossen wurden aufgrund der Stigmatisierung des Kopftuches. Ja, und wir sehen aber in anderen europäischen Ländern es funktioniert. Es gibt durchaus quasi Menschen, Repräsentantinnen des Staates, die mit einem Kopftuch auftreten. Und ich glaube, unser Verständnis von Pluralität und Pluralismus in der Gesellschaft muss sich einfach ein bisschen ändern, dass wir da einfach auch offener werden für jegliche Form von, ich sag mal, Andersheit im Sinne von Abweichung der Mehrheitsgesellschaft. Da müssen wir einfach hin, dass wir lernen, eben mit dieser Vielfältigkeit umzugehen und dass wir da mehr inkludieren, stärker inkludieren, dass wir Bereiche öffnen für diese Menschen und dass wir Teilhabe, gleiche Teilhabechancen schaffen. Und wenn wir das schaffen als Ebene, als Basis in der Gesellschaft, das sind wir damit einen erheblichen Schritt gegangen und können quasi, ja, ich sage mal so, Hinwendungsprozesse zumindest minimieren oder dagegen vorgehen oder arbeiten.

Charlotte Leikert (KN:IX): Ich fand das gerade ganz spannend, weil du ja jetzt auch allgemein auf Gesellschaft eingegangen bist und dieses Vielfalt als Wert an sich und gleichzeitig auch den Punkt mit der Brücke zu islamistischen Akteuren. Also dass es wichtig ist oder in unserem Kontext vor allen Dingen mit Islamismusprävention beides mitzudenken, dass es aber auch allgemein um diese gesellschaftliche Vielfalt geht, auch jenseits von Hinwendungsmotiven.

Wenn wir uns jetzt islamistische Akteure angucken, nutzen sie ja auch bestimmte Aspekte ganz gezielt und sprechen dann teilweise auch Frauen ganz gezielt an. Kannst du unseren Hörer*innen vielleicht ein Beispiel geben, wie so eine genderspezifische Ansprache aussehen kann oder aussieht?

Fatima El Sayed: Also ich glaube, das, was in den letzten Jahren immer wieder aufgefallen ist, ist natürlich die Instrumentalisierung von Kopftuchdebatten. Da spielen sich quasi diese Exklusionsmechanismen, die ich erwähnt habe, die staatlich oft gestützt werden oder mitgetragen werden und Politiker*innen sich auch offen hinstellen und rassistisch äußern, spielt natürlich islamistischen Akteure in die Hände. Das wissen wir alle, weil das natürlich ein willkommener Anknüpfungspunkt ist, da zu zeigen „Hey, ihr werdet explodiert, ihr werdet in der Gesellschaft nicht anerkannt, so wie ihr seid. Mit eurer religiösen Identität werdet ihr abgelehnt. Wir sind diejenigen, die euch hier quasi auffangen. Wir sind diejenigen, die sich für eure Rechte einsetzen.“ Und das, da gab es tatsächlich Bewegungen und auch Kampagnen, die versucht haben, eben gerade muslimische Frauen zu mobilisieren. Also islamistische Akteur*innen haben in dem Kontext versucht, sich eben auch als ich sag mal Advokat*in quasi oder Advokaten in dem Sinne darzustellen und eben diese Grievences, diese Unzufriedenheit quasi aufzugreifen und die zu instrumentalisieren, das passiert sehr häufig. Wir sehen das jetzt auch im Israel-Palästina-Konflikt tatsächlich, wo ich auch glaube, dass die Gesamtgesellschaft und vor allem auch die Politiker*innen eine große Verantwortung haben, da das Spektrum von Meinungen von Pluralismus abzubilden und eben nicht bestimmte Stimmen und bestimmte Perspektiven unsichtbar zu machen. Natürlich gibt es rote Linien, aber die gelten auch für alle gleich. Und das ist etwas, was wo Islamist*innen natürlich auch sehr leicht irgendwie auf den Zug springen. Und da sind dann oft so genderspezifische Aspekte. Ich sag mal, das klassische Bild von Frauen ist natürlich über die Rolle der Mutter beispielsweise oder über die Rolle der Bewahrerin. Haben wir ja auch im Rechtsextremismus die Bewahrerin der Nation, Bewahrerin der Religion. Das sind so typische Bilder und über die wird dann auch ganz oft operiert. Also dass eben jetzt beispielsweise im Israel-Palästina-Konflikt die große Zahl an Kindern, die dort gestorben ist, dass das natürlich auch mit aufgenommen wird. Und ich glaube, es fehlt ein großer Aufschrei in der Gesellschaft, was das Thema angeht. Dadurch, dass das ausbleibt, wird diese Lücke eben durch islamistische Akteur*innen gefüllt, die dann eben das für sich beanspruchen.

Charlotte Leikert (KN:IX): Du hast eben ja auch noch mal das Beispiel gemacht mit der extremen Rechten, dass es da auch teilweise ähnliche genderspezifische Narrative gibt, die ja auch tatsächlich so als Brückennarrativ anknüpfen in auch weite Teile dann der Mitte der Gesellschaft. Das erinnert mich ein Stück weit an das, was du am Anfang gesagt hast mit patriarchalen Strukturen, die ja insgesamt in der Gesellschaft herrschen und dann noch mal ganz spezifisch auch auf muslimische Frauen wirken. Würdest du dem so zustimmen?

Fatima El Sayed: Also wir haben definitiv die Situation, dass wir immer noch in gewissen patriarchalen Strukturen leben. Also gesellschaftlich glaube ich, ist das Thema noch nicht vom Tisch, auch wenn wir uns das oft wünschen oder es oft auch so suggeriert wird. Ich finde es immer noch erstaunlich zu hören, wie weit Sexismus eigentlich am Arbeitsplatz beispielsweise verbreitet ist. Und davon sind muslimische Frauen ja auch nicht unbetroffen. Also oft geht man davon aus, dass dieser religiöse Marker das, der die Weiblichkeit quasi verdeckt. Aber wir müssen uns das so vorstellen, dass es eben eine Intersektion, eine Überschneidung zwischen diesen beiden Kategorien gibt und Frauen, muslimische Frauen, insbesondere dann, wenn sie sichtbar sind, eben dann auch noch mal multiplen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Das heißt, sie erfahren eine ganz bestimmte Art der Diskriminierung, die ganz spezifisch eben auf die geschlechtliche Dimension abhebt und auf die ja muslimische oder eben ja rassistisch motivierte Dimension. Und da beobachten wir durchaus, dass das Patriarchat, das gesamtgesellschaftliche Patriarchat eine Rolle spielt. Was natürlich gerne gemacht wird, ist, dass das Patriarchat eben nur in bestimmten Segmenten der Gesellschaft verortet wird und dass das als Problem dargestellt wird. Natürlich gibt es durchaus auch ja, das, also das Patriarchat zieht sich nicht nur quasi durch die Gesamtgesellschaft, sondern auch beziehungsweise durch Untersegmente der Gesellschaft. Das müssen wir glaube ich schon anerkennen. Und das Patriarchat und natürlich unterschiedliche Ausformungen. Also die Manifestation dessen, was vielleicht vor 50 oder 100 Jahren noch quasi das Patriarchat war, ist heute natürlich nicht mehr so. Ich glaube, es gibt wenige Männer, die sich jetzt hinstellen würden und sagen würden ja „Frauen sollen an Herd“, aber wir haben dafür andere Ausformungen und Sexismus am Arbeitsplatz zum Beispiel ein Thema, was glaube ich, durchaus sehr relevant ist. Und wir haben natürlich auch das Problem, dass Frauen weiterhin großen Teil der Carearbeit erledigen, 44 % mehr als Männer. Und wir sehen es eben auch mit Blick auf Führungskräfte, dass eben auch ein großer großer Unterschied festzustellen zwischen den Geschlechtern. Genau und in Bezug auf muslimische Frauen vielleicht noch mal gemünzt. Ich mein, gerade wenn es um die Arbeitswelt geht, wissen wir, wie hoch die Hürden sind. Es gibt ja unterschiedliche Studien, die belegen, dass allein eben der Zugang zum Arbeitsmarkt schon für muslimische Frauen mit Kopftuch erschwert ist. Und da müssen wir einfach dran arbeiten, dass wir das Patriarchat an sich überwinden, aber eben auch in dieser rassistisch spezifischen Ausformung.

Charlotte Leikert (KN:IX): Da würde ich gerne noch mal mehr reingehen. Also islamistische Gruppen greifen ja eben auch häufig die persönlichen Diskriminierungserfahrungen auf, benennen antimuslimischen Rassismus auch als solchen. Und es ist ja aber nicht so, dass das die einzigen Akteure sind, die da irgendwie eine Alternative bieten. Und eine Vielzahl von Einzelpersonen, aber auch Organisationen haben Gegenstrategien oder Umgangsformen damit ja erarbeitet. Und genau, da meine Frage, weil du dich ja auch lange mit dem Thema auseinandergesetzt hast: Was sind das für Strategien und was für Ideen stehen dahinter?

Fatima El Sayed: 2009 hat sich eine Organisation gegründet, das Aktionsbündnis muslimischer Frauen (AmF), die sich explizit eben mit der Diskriminierung von Frauen, von muslimischen Frauen, von sichtbar muslimischen Frauen auseinandergesetzt hatten. Der Konfliktpunkt oder der Ausgangspunkt war eben das Kopftuchverbot an Schulen für angehende Lehrerinnen oder Lehrerinnen allgemein. Und diese Organisation beispielsweise leistet jetzt echt schon seit fast 15 Jahren Arbeit in dem Bereich, dass sie eben einerseits Beratung für diese Frauen anbieten und aber auch quasi versuchen, eben eine Stimme, eine differenzierte Stimme zu sein in diesem Diskurs. Weil das, was glaube ich, Islamist*innen und Rechtsextremist*innen und jegliche Extremist*innen eint, ist eben die Welt in Gut und Böse einzuteilen und einfache Erklärungsmuster zu finden. Und wir wissen alle, dass es in einer pluralen Gesellschaft eben auch komplexe Vorgänge gibt, dass Prozesse komplex sind und dass auch Erklärungen einfach komplex sein müssen. Und es ist natürlich immer einfacher, sich eben simplen Erklärungsmustern zu bedienen. Und das ist genau das, wie jegliche Extremist*innen agieren. Und das, was glaube ich, aber wichtig ist, ist eine Ambiguitätstoleranz zu entwickeln und zu verstehen, dass eben durchaus Akteur*innen ambivalent sein können und Systeme eben ambivalent sind und eben auch Antworten zu finden, die eben nicht unbedingt schwarz-weiß sind, sondern die versuchen eben Erklärungsmuster zu finden, das Unrecht aufzugreifen, es nicht kleinzureden. Weil das, was ganz häufig passiert ist, eben eine Relativierung dessen. Und ich glaube, gerade für Betroffene ist diese Erfahrung wirklich retraumatisierend. Und das sind eben so Organisationen, die einerseits eben Ansprechpartner*innen sind, die aber auch auf staatlicher oder bzw. auf formaler Ebene Lobbyarbeit machen, die eben im Frauenrat aktiv sind. Die versuchen quasi ihre Stimmen hörbar zu machen, die intersektionalen Erfahrungen von muslimischen Frauen vorzutragen und eben auch auf Gesetzesprozesse beziehungsweise auf politische Prozesse einzuwirken und eben die Gleichberechtigung einzufordern. Und eben dem Anspruch, den der deutsche Staat quasi formuliert, eben dem auch Rechnung zu tragen und zu versuchen, dass das eben Realität wird und dass nicht eben eine Diskrepanz zwischen der Rhetorik, die wir täglich hören „In einem demokratischen Staat sind alle irgendwie gleich und alle haben die gleichen Teilhabechancen“ und eben der faktischen Ausgrenzung, die dann erfahren wird, zu schaffen.

Charlotte Leikert (KN:IX): Also an der Stelle auch die Sichtbarkeit der Anliegen in Richtung Politik und Medien und die gesamte Gesellschaft …

Fatima El Sayed: … genau hineinzutragen, ja.

Charlotte Leikert (KN:IX): Ich kann mir aber auch gut vorstellen, dass es gerade auch um Role Models geht und dass das auch ein wichtiger Punkt ist.

Fatima El Sayed: Absolut. Genau. Also es gibt durchaus einige Organisationen, die sich in den letzten Jahren auch gegründet haben, die versuchen quasi A ein Safer Space zu kreieren für muslimische Frauen, in dem sie einfach so sein können, wie sie sind, mit ihren multiplen Identitäten, mit Widersprüchen. Dass sie da irgendwie ein Space haben, in dem sie sich frei entfalten können, in dem sie eben so sein können, wie sie sind. Und ja, auch Angebote zu schaffen, die tatsächlich an den Interessen anknüpfen. Weil ich glaube, das, was wir häufig haben von Trägern, ist, dass eben Angebote gemacht werden, die aber eigentlich total an dem Interesse und an den Wünschen und Bedürfnissen der Teilnehmenden vorbeigehen. Und das ist etwas, wo ich glaube, dass muslimische Frauenorganisationen einen großen Teil leisten kann, weil sie eben an dieser Gruppe dran sind, weil sie genau wissen, also sie kommen aus diesen Communitys und die wissen, was quasi in diesen Communitys gebraucht wird. Und nicht ein Angebot zu schaffen, was irgendwie ja sehr weit von der Lebensrealität der Betroffenen entfernt ist. Und da ist es total wichtig, eben wirklich auch Selbstreflexion anzuregen, Reflexion über die Gesellschaft, auch Kritik üben zu dürfen, ohne irgendwie sich da reglementieren lassen zu müssen oder irgendwie einer Norm nachzusprechen. Und ich glaube, das ist total wichtig, dass es diese freien Räume gibt. Gleichzeitig muss natürlich auch ein Austausch mit der Gesamtgesellschaft stattfinden. Das heißt, viele dieser Organisationen bieten beispielsweise Austauschforen, Dialogforen an, gehen, machen so Freizeitaktivitäten, gehen in den Bundestag und so weiter. Also da wird ganz ganz viel gemacht. Und die Erfahrung ist jetzt mittlerweile auch, dass eben ganz viele andere marginalisierte Gruppen sich eben auch häufig dort zu Hause fühlen und das Gefühl haben „na ja, hier kann ich auch sein, wie ich bin“. Das ist so ein bisschen, ich habe das Gefühl, so ein kleines, ein kleiner Experimentierraum, der da gerade zustande kommen. Eigentlich auch so ein Abklatsch unserer postmigrantischen Gesellschaft, die eben einfach divers ist und in der einfach auch Unterschiedlichkeit erlernt werden muss, die wir offenbar verlernt haben.

Charlotte Leikert (KN:IX): Ja, danke für den Einblick in Organisationen, die sich eben mit diesen gesellschaftlichen Herausforderungen auseinandersetzen und eben Umgangsstrategien damit finden und eben so auch zu einer hoffentlich Veränderung beitragen und eben das Ganze sichtbar machen. Was würdest du denn sagen, um noch mal quasi auf die Gesamtgesellschaft zu gucken, hast du eben auch schon angerissen, aber was brauchen wir in der gesamten Gesellschaft, um eben mit diesen Missständen umzugehen?

Fatima El Sayed: Es braucht aus meiner Sicht ein Bewusstsein, eine Sensibilisierung der Gesellschaft für diese Missstände und eben auch eine Sensibilisierung dahingehend, dass das für unsere demokratische Verfasstheit einfach auch wichtig ist. Dass wir dieses Versprechen, was wir an jegliche Bürger*innen dieses Landes oder Menschen in diesem Land, die hier leben, geben, dass das eben auch eingelöst wird. Weil das nämlich genau der Punkt ist, dass wenn Menschen eben das nicht erhalten, was sie sich von dieser Gesellschaft erhoffen oder erwünschen, was auch formuliert wird, dann wenden sie sich eben anderen Akteur*innen zu. Und ich glaube, das ist total wichtig, dass wir daran festhalten, dass wir versuchen, diese Missstände, diese Ungleichheiten zu beseitigen und eben auch lernen, dass es eben für die Gesamtgesellschaft wichtig ist und nicht nur für eine Teilgruppe.

Charlotte Leikert (KN:IX): Man muss natürlich dazu sagen, dass darüber, wo wir gerade drüber gesprochen haben, also gesellschaftliche Missstände, die Frauen und muslimische Frauen und speziell noch mehr betreffen, natürlich eine große Anzahl von Personen betreffen, aber sich nur ein ganz, ganz kleiner Teil tatsächlich dann einer islamistischen Gruppe oder einer extremistischen Gruppe, antidemokratischen Gruppe hinwendet und eben die allermeisten Menschen andere Umgangsform damit finden. Trotzdem wollen wir uns heute im Podcast auch Frauen angucken, die sich eben in einem Radikalisierungsprozess befinden. Dazu sprechen wir gleich auch mit Alma Fathi von der Beratungsstelle Leben. Und wir haben uns aber in der Vorbereitung auf die Folge die Frage gestellt, ob man Radikalisierung, also die Hinwendung zur extremistischen Gruppe angesichts der gesellschaftlichen Missstände auch als eine gewisse Form von Empowerment sehen, kann und würde mich auch deine Perspektive interessieren.

Fatima El Sayed: Die Frage ist so ein bisschen, was man unter Empowerment versteht. Ist Empowerment immer gesellschaftlich gewollt? Geht es um die Person, geht es um die Gesamtgesellschaft? Um was geht es hier eigentlich? Wenn ich den Empowerment-Begriff mir angucke, ist es eben eine Aktivierung von Ressourcen, eine Ermächtigung. Oft wird es assoziiert mit Selbstbestimmung und ich glaube, dass eben solche Prozesse auch oft selbstbestimmt sind, auch wenn wir das nicht so gerne hätten. Aber das ist eine Entscheidung zu etwas. Und ich glaube, fragen müssen wir uns als Gesellschaft „ist das etwas Wünschenswertes?“ Und ich gehe mal davon aus, dass die meisten von uns „Nein“ sagen. Und, dass wir aber schauen, wohin wir denn Leute oder Menschen, die sich von solchen Ansprachen angezogen fühlen, hin navigieren. Und ich glaube, das funktioniert eben nur, wenn wir ihnen Perspektiven eröffnen, wenn wir Chancen eröffnen und wenn sie eben als Teil der Gesellschaft anerkannt werden. Das ist, glaube ich, ein ganz, ganz wichtiger Aspekt. Gleichzeitig würde ich sagen na ja, so eine Entscheidung ist quasi eine Lossagung von der Gesellschaft, oft eine Distanzierung von der Gesellschaft. Aber es ist ein Schritt, der aus freien Stücken in der Regel getroffen wird – also die wenigsten glaube ich wenden sich unter Druck einer islamistischen Organisation, oder islamistischen Akteur*innen zu – der aber aus einer tiefen ja Verzweiflung oft oder auch Perspektivlosigkeit erfolgt. Und ich finde diese Frage sehr, sehr spannend. Tatsächlich, weil ich glaube, dass sie sehr viel Ambivalenz birgt und dass es gar nicht so eine eindeutige Antwort dazu gibt, weil ich glaube, wenn wir das nüchtern und nicht normgeleitet und ethikgeleitent betrachten, könnten wir sagen „Ja klar, es ist eine Entscheidung. Es ist quasi raus aus einer vielleicht ohnmächtigen Position, aus einer Erfahrung der Exklusion, der Diskriminierung“. Was häufig so ist oder eben auch oft, wenn sie nicht selbst betroffen sind, gibt es ja auch ein Moment von Unwirksamkeit oder nicht ernst genommen Werden in der Gesellschaft. Das muss gar nicht unbedingt immer nur das Kopftuch sein, die Diskriminierungserfahrung aufgrund des Kopftuches, sondern einfach zu sehen, „okay, es passiert viel Unrecht und ich habe da irgendwie keine Rolle. Ich bin da irgendwie unbeteiligt“. Und das, was islamistische Akteur*innen oft versprechen, ist eine Wirksamkeit. Und ich glaube, dieses Empowerment ist dann in dem Sinne so eine selbst, so ein Schritt zur Selbstwirksamkeit und das macht es halt so attraktiv.

Charlotte Leikert (KN:IX): Ich finde den Punkt gerade total spannend. Ich möchte noch mal hervorheben, wo du gesagt hast, dass eine aktive Entscheidung ist, weil gerade auch im Kontext von Radikalisierung von Frauen liest man ja auch öfter, dass es ja eher so eine passive Hinwendung ist oder aus Liebe. Und es gibt diese Fälle sicher auch, aber eben auch das, was du gesagt hast, dass es ein aktiver Schritt sein kann oder ist in den meisten Fällen.

Fatima El Sayed: Das ist ja so ein klassisches Muster, wenn wir uns jetzt quasi noch mal so ein bisschen lösen von dem Islamismus-Bezug, dass wir Frauen eben Agency absprechen, dass wir ihnen selbstbestimmtes Handeln absprechen. Das hat es schon immer gegeben und das ist eigentlich das, wofür sich der Feminismus übergreifend einsetzt, dass eben Frauen genauso anerkannt werden wie Männer als vollwertige und selbstbestimmte Akteur*innen. Und ich glaube, auch in dem Feld müssen wir uns davon lösen, dass Frauen eben nur manipuliert sind oder wie gesagt, zu etwas gezwungen werden, was ein typischer Topos ja für muslimische Frauen ist, dass sie eben keinen eigenen Entscheidungswillen haben und dass sie unter dem Eindruck von patriarchalen Strukturen nur Entscheidungen treffen. Ich glaube, da müssen wir weg, weil ich glaube, das bringt uns nicht weit.

Charlotte Leikert (KN:IX): Dann möchte ich die Worte gerne als Abschlussworte stehen lassen. Liebe Fatima, vielen Dank, dass du heute hier warst und mit uns gesprochen hast.

Fatima El Sayed: Ja, danke auch.

(Musik)

Charlotte Leikert (KN:IX): Mit Fatima El Sayed haben wir gerade über den gesellschaftlichen Kontext muslimischer Frauen gesprochen, darüber, was das mit Radikalisierung zu tun haben kann und was es für Umgangsstrategien diesbezüglich gibt. Jetzt wollen wir mit Alma Fathi konkreter über die Hinwendung von Frauen zu islamistischen Gruppen sprechen. Sie ist seit 2009 in der Beratung tätig und arbeitet aktuell bei der Beratungsstelle Leben des Vereins Grüner Vogel e. V.

Liebe Alma, schön, dass du hier bist.

Alma Fathi: Lieben Dank, Ich freue mich!

Charlotte Leikert (KN:IX): In der Beratungsstelle Leben vom Grünen Vogel arbeitet ihr ja mit Frauen zusammen, die bereits weiter in ihrem Radikalisierungsprozess fortgeschritten sind. Und ein paar Hörer*innen sind sicher nicht die erste Folge dabei, bei unserem Podcast. Aber damit Sie sich ein bisschen besser vorstellen können: Möchtest du einmal kurz erklären, mit was für Frauen ihr zusammenarbeitet und wie ihr mit ihnen arbeitet?

Alma Fathi: Also wir haben ganz unterschiedliche Frauen, ganz unterschiedliche Beratungsnehmerinnen. Wir sind eine Beratungsstelle zur Deradikalisierung und Reintegration und haben ursprünglich angefangen mit der Umfeldberatung, also Angehörige, soziales Umfeld von Personen, die sich radikalisiert haben, sind dann aber immer weiter mit der Zeit auch dazu übergegangen, mit den radikalen Personen selbst zu arbeiten, also mit den Index Personen, wie sie bei uns heißen. Und in den letzten Jahren hat sich unser Arbeitsschwerpunkt auch dahingehend entwickelt, dass wir viel mit Frauen gearbeitet haben, die halt nach Syrien oder in den Irak ausgereist sind und sich dem Islamischen Staat [kurz IS, Anmerkung der Redaktion] angeschlossen haben, teils in einem sehr jugendlichen Alter und damit sozusagen schon sehr weit fortgeschritten radikalisiert waren. Genau und das ist so unsere Zielgruppe und ich persönlich bei uns im Team hab halt viel Rückkehrerinnen, die sehr, sehr jung sind.

Charlotte Leikert (KN:IX): Bevor wir gleich noch mal spezifisch über die Hinwendung von Frauen sprechen. Oft, wenn man sich das Thema anguckt, wird weibliche Radikalisierung so ein Stück weit als die Abweichung von der Norm besprochen und die Norm ist dann meistens als Radikalisierung von Männern gemeint. Wie schätzt du das denn aus der Praxis ein, gibt es da einen Unterschied?

Alma Fathi: Tatsächlich muss man sagen, dass die Hinwendungsmomente in einem Radikalisierungsprozess oftmals ja sehr ähnlich sind. Also da kann man gar nicht so richtige geschlechtstypische Unterschiede machen. Wir gehen immer davon aus, dass die radikale Ideologie für eine Person eine Funktion erfüllt. Das heißt, jemand wendet sich einer bestimmten Ideologie zu und bestimmten Narrativen, weil er in seinem realen Leben bestimmte Bedürfnisse hat, die so nicht befriedigt werden, die er dann versucht, sozusagen einer religiösen Sphäre, in Anführungsstrichen religiös, zu befriedigen. Und wir gehen immer davon aus, dass die Einstiegsgründe, um in einer Gruppe Mitglied zu sein, auch immer mit den Ausstiegsgründen korrelieren. Das muss nicht immer der Fall sein, ist aber sehr häufig so. Also wenn jemand zum Beispiel auf der Suche nach Freundschaft ist und das in einer bestimmten Gruppe findet oder in einer bestimmten Gemeinschaft, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass wenn er in dem Bereich enttäuscht wird, dass er dann auch wieder aussteigt. Das muss natürlich auch nicht so sein. Es kann auch jemand sein, der aus dem Wunsch nach Freundschaft in eine Gruppe beitritt und dann aber ganz viel Anerkennung erfährt oder andere Dinge, die dann dazu führen, dass er die Gruppenmitgliedschaft weiter beibehält und weiter bleibt. Das ist immer ganz, ganz unterschiedlich. Aber bei den Hinwendung Motiven muss man sagen, dass man da gar nicht so geschlechtstypischen Unterschiede machen kann. Also Frauen werden auch über die gleichen lebensrelevanten Themen angesprochen wie Männer. Und das kann Freundschaft sein, das können ganz andere Motive sein, wie Anerkennung, dass man einer größeren Gruppe beigehören möchte. Natürlich können auch Faktoren wie Diskriminierung oder andere Faktoren Push Faktoren für eine solche Entwicklung sein. Aber tatsächlich ist es so, dass da immer auch die Resilienz einer Person eine Rolle spielt und wir ganz, ganz viele Menschen haben, die ja auch Diskriminierung erfahren, ohne sich zu radikalisieren. Von daher kann man schon sagen, dass es bei den Hinwendungsmotiven keine bestimmten Inhalte gibt, die sich bei Frauen unterscheiden. Die Ansprache ist ein bisschen unterschiedlich und da muss man auch noch mal nach Gruppierungen unterscheiden.

Charlotte Leikert (KN:IX):  Über den Punkt wollte ich auch mit dir sprechen. Wie unterscheiden sich die Gruppen denn in ihrer Ansprache?

Alma Fathi: Bei Al-Qaida nahen Gruppierungen, da werden Frauen gar nicht so stark angeworben, in Anführungsstrichen. Beim IS muss man sagen, dass das eine sehr spezifische, sehr direkte und konkrete Ansprache von Frauen gab. Und zusätzlich zu der Ansprache hat der IS den Frauen auch eine Funktion tatsächlich versprochen und eine bestimmte Rolle außerhalb des normalen Narrativs Ehefrau und Mutter zu sein.Was sicherlich für einige Frauen sehr attraktiv war und auch dazu geführt hat, dass die meisten Ausreisen, die eigenständig stattgefunden haben, ohne einen Ehemann eben eher in IS-Gruppen stattgefunden hat und eben bei Al-Qaida nahen Gruppierungen die Frauen tatsächlich eher von den Männern mitgenommen wurden. Und da dieses Ausstiegsnarrativ mit „Ich wurde gelockt, ich wurde mitgenommen“ vielleicht noch eher zutreffend ist. Wobei ich das auch sehr schwierig finde, als bei anderen Frauen und anderen Gruppierungen.

Charlotte Leikert (KN:IX): Das gerade gesagt, dass ein Narrativ, nämlich dieses über einen Partner mitgenommen zu werden, dass du das schwierig findest. Willst du da vielleicht nochmal kurz erklären, wieso?

Alma Fathi: Total gerne. Ich habe lange an Sektenausstiegsberatungen gearbeitet und wenn wir uns im Ausstieg anschauen von Menschen, die mal Gruppenmitglieder waren, dann stellen wir immer fest, dass es ein dominantes Ausstiegsnarrativ gibt. Und gerade im Sektenbereich kann man sich auch anschauen, dass es zum Beispiel bei Scientology oder anderen Gruppierungen häufig ähnliche Ausstiegsmotive sind, die genannt werden. Im Islamismusbereich haben wir das ähnlich, dass die Frauen immer wieder bestimmte Narrative wiederholen und das ist das der Gelockten. Das findet sich ja auch teilweise in den Medien wieder: Die gelockte, die dumme Ehefrau, die nicht wusste, die sich als nicht selbstständiges Subjekt beschreibt ohne eigenständige Entscheidungsmacht. Und das finde ich sehr, sehr schwierig, weil bei allen Frauen, die speziell mit denen wir auch arbeiten, ist es tatsächlich so, dass sie sich ja egal was für Gründe sie hatten, ob persönliche Motive oder andere, sie sich ja trotzdem dafür entschieden haben zu gehen und sie persönlich eine Entscheidung getroffen haben, sich einer Gruppierung anzuschließen, die eben eine terroristische Vereinigung ist. Und da zu sagen „ich war so dumm, ich habe es nicht gewusst, ich wurde gelockt“, entspricht einem Narrativ, wo man sehr wenig Eigenverantwortung übernimmt und wo man auch sehr wenig Angriffsfläche bietet, um tatsächlich in der Auseinandersetzung mit der Ideologie, beispielsweise in unserem Arbeitskontext zu gehen. Weil sich durch dieses Narrativ die Leute entziehen. Und tatsächlich ist es ein Narrativ, was sich auch über die Gerichtsverfahren verfestigt hat bei vielen Frauen, weil natürlich die Frauen vor Gericht auch in einigen Fällen zumindest sicherlich zugesehen haben, dass sie mit der geringsten Strafe davonkommen. Und dieses Narrativ, was teils von der Presse und so auch immer wieder wiederholt wurde, ist halten Gendernarrativ, was wir im Rechtsextremismus auch beobachten. Auch die Verfahren zu Beate Zschäpe, da waren ja immer alle total erstaunt, wie eine Frau diese ganzen Dinge gemacht haben kann oder soll. Sie scheint ja auch Drahtzieherin gewesen zu sein. All diese Narrative sind natürlich auch eng verknüpft mit dem gesellschaftlichen Bild einer Frau, die halt eben nicht als aktives Subjekt gedeutet wird, sondern als passives, was halt nicht aktiv agiert und keine eigenständigen Entscheidungen trifft. Aber tatsächlich ist diese Gruppierung der Frauen und gerade, wenn wir uns den IS angucken, unglaublich wichtig.

Charlotte Leikert (KN:IX): Wenn du sagst, Frauen sind für den IS so wichtig, wie hat der IS denn gezielt Frauen angesprochen?

Alma Fathi: Der IS hat den Frauen eine bestimmte Funktion und Rolle außerhalb der Mutter und Ehefrau und der Erzieherin der Kinder gegeben. Sie haben ihnen auch die Möglichkeit gegeben, aktiv innerhalb der Organisation, mit Übersetzungstätigkeiten, mit Netzwerktätigkeiten, Anwerbung von anderen Frauen, Aufbau von Hilfsnetzwerken, Finanzierungsnetzwerken und sonst was zu agieren. Das ist etwas, was die Al-Qaida in dieser Form nicht gemacht hat. Und es ist auch kein Angebot, was sich an die Welt der arabischen Frauen richtet. Das ist ein spezifisches Angebot, was sich an die westlichen Frauen richtet, die tatsächlich sehr emanzipiert großgeworden sind und mit einem anderen Frauenbild. Und mit diesen Frauenbild werden die Frauen gelockt und wurden in der Anfangszeit des IS tatsächlich auch gelockt, in dem gesagt wurde „Du kannst die Krankenschwester werden, du kannst ganz aktiv hier mitmachen, du kriegst eine Schwesternausbildung, du kannst hier als Ärztin arbeiten, als Gynäkologin“ oder was auch immer. Dass das dann am Ende den wenigsten westlichen Frauen tatsächlich gelungen ist innerhalb der IS Struktur und das ein Versprechen war, was nicht gehalten wurde, sei mal dahingestellt. Aber der IS hat seine Propaganda dahingehend richtig spezifiziert. Und mit dem Ende des IS, mit dem Verlust des Kalifats in Anführungsstrichen und den letzten Kämpfen in Bāghūz hat sich immer mehr herauskristallisiert, dass gerade auch in Deutschland und in den westlichen Ländern die Frauen die einzigen sind, die die Szene aktiv am Leben halten, die Propaganda am Leben halten und auch weiterhin für die Anwerbung von Mitgliedern sorgen, weil die eben nicht wie die Männer in die Gefängnisse gekommen sind. Und das sieht man auch gerade an einem ganz aktuellen Verfahren in Düsseldorf beispielsweise, wo ein Schwesternnetzwerk angeklagt ist. Und da sieht man aber, dass die Frauen tatsächlich in so eine Propaganda-Lücke reingegangen sind, die die Männer hinterlassen haben und, dass die Frauen eine ganz spezifische und ganz, ganz wichtige propagandistische Funktion für den IS haben. Neben ihrer wichtigsten Funktion, Frauen anzuwerben. Also Frauen können ja nur Frauen anwerben, laut der Ideologie. Und diese emanzipatorischen Aspekte, die da tatsächlich in der Ansprache der Frauen liegt es was ganz Spezifisches vom IS, was ganz Spezifisches, Addressiertes an die Frauen im Westen. Und dann gibt es noch andere Aktionsformen. Wenn wir jetzt über Hizb ut-Tahrir nahe Gruppen wie Generation Islam, Realität Islam und wie sie nicht alle heißen, sprechen, dann sind das noch mal andere Gruppierungen – oder auch andere, die jetzt nicht in Richtung Hizb ut-Tahrir gehen, sondern salafistisch orientiert sind – die halt durch ihre Ansprache mit frauenspezifischen Themen, mit extra Kanälen mit aufgemachter Propaganda in Anführungsstrichen, die so in Puderfarben und rosa daherkommen, eine ganz klare Ansprache von jungen Menschen machen und diese auch aufgrund ihrer politischen Aktionsformen super erreichen.

Charlotte Leikert (KN:IX): Du hast gerade ein paar Beispiele für spezifisch weibliche Themen genannt. Inwiefern würdest du denn sagen, dass die großen gesellschaftlichen Themen bei den Frauen, mit denen ihr arbeitet, irgendwie eine Rolle spielen oder die sie auch in Bezug auf ihre Hinwendungsprozess reflektieren?

Alma Fathi: Ich glaube schon, dass einfach jugendtypische Themen eine Rolle spielen. Und ich glaube nicht, dass es bestimmte Frauenthemen sind. Also ich meine, junge Leute, die in die Pubertät kommen, die ersten Freund Freundin haben, die setzen sich alle mit diesen Themen auseinander. Ich glaube halt, dass junge Menschen allgemein unter einem sehr großen Druck stehen. Also ob das jetzt der Leistungsdruck in der Schule ist oder wie sich das auch in der Zeit für viele Schülerinnen entwickelt hat oder andere Themen. Ich glaube halt, was diese Gruppierungen gut schaffen, was vielleicht politische Bildungseinrichtungen nicht so gut schaffen, ist, die Jugendlichen halt mit ihren Themen da abzuholen, wo sie sich befinden und tatsächlich irgendwie auch ins Gespräch zu gehen mit den jungen Leuten, wenn sie etwas als ungerecht empfinden, wenn wir uns das jetzt beim Gaza Konflikt angucken. Und ich glaube, dass sich viele junge Leute einfach überhaupt nicht gehört fühlen und uns einige und das sehen wir gesamtgesellschaftlich, also wir haben eine Polarisierung in der Gesellschaft, wir haben ganz starke Entwicklungen an den rechten Polen, wir haben starke Entwicklungen, komplett gesellschaftlich. Das ist ja ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Und natürlich sind junge Leute noch mal anders auf der Suche oder beschäftigen sich anders mit Themen, mit denen wir als Erwachsene vielleicht schon abgeschlossen haben. Also so dieses „Was ist der Sinn des Lebens? Will ich irgendwie acht Stunden am Tag arbeiten gehen und so?“ Das sind noch voll die Themen für die. Und ich glaube, dass es halt bestimmte Gruppierungen gibt, die da das einfach total gut schaffen, die abzuholen. Und ich glaube bei den jungen Frauen, die brauchen halt genauso wie die Männer, die sich irgendwie in der salafistischen Szene bewegen, halt eine Eindeutigkeit. Herr Mansour sagt ja immer, das sind die besseren Sozialarbeiter. Tatsächlich ist es leider in manchen Fällen so, dass in diesen ganzen Foren auf TikTok, Instagram und so, die finden da zumindest Gehör. Sie können Kommentare hinterlassen, sie können sich aktiv einschalten in Diskussionen, sie können mitmachen. Das ist etwas, was Sie, glaube ich, im realen Leben nicht so empfinden.

Charlotte Leikert (KN:IX): Und das sind wahrscheinlich auch Themen, mit denen ihr euch im Distanzierungsprozess ersetzt, oder?

Alma Fathi: Klar, wir gucken uns halt mit den Frauen an, was sind eure Hinwendungsmotive gewesen? Was hat zu einem Ausstieg geführt? Was sind möglicherweise noch problematische Themen und versuchen daran zu arbeiten und auch an der Haltung der Frauen. Und hoffen halt auch, dass wir sie aus diesem Narrativ rausholen mit „Ich habe es ja nicht besser gewusst und es war ein großer Fehler. Und jetzt mache ich einfach einen Haken dran und dann ist wieder alles gut“. Weil unabhängig, was wir jetzt in diesen Fällen der Rückkehrerinnen haben, unabhängig von einer juristischen Aufarbeitung, ob es zu einer Anklage kommt oder nicht, geht es in diesen Fällen ja auch um eine moralische Schuld in Anführungsstrichen, um ein Eingestehen „Was habe ich meiner Familie angetan, als ich die ganzen Jahre weg war? Was habe ich meinen Kindern möglicherweise angetan, weil ich sie im Ausland geboren habe? Was für eine Chancen habe ich meinen Kindern möglicherweise verwehrt? Was habe ich nicht dadurch erreicht? Schulabschluss? Ne, vielleicht möglicherweise doch noch mal eine glückliche Beziehung zu führen, auf eigenen Beinen zu stehen“ und nicht erst in einem Alter damit anzufangen, wo andere das eigentlich schon abgeschlossen haben.

Charlotte Leikert (KN:IX): In unserer Folge beschäftigt uns auch die Frage, inwiefern die Radikalisierung von Mädchen oder jungen Frauen als eine Art Empowerment verstanden werden kann. Nachdem wir vorhin schon die Einschätzung von Fatima El Sayed gehört haben, jetzt die Frage an dich: Was hast du dazu?

Alma Fathi: Also den Begriff Empowerment will ich überhaupt nicht nutzen, weil sie radikalisieren sich in ein sehr geschlossenes Weltbild, was ihre Welt sehr beschränkt hinein und wo ihnen sehr viele Dogmen auferlegt werden. Also von emanzipatorischer würde ich da jetzt nichts sehen. Die Mädchen selber haben oft das Gefühl, dass sie sich selbst ermächtigen. Das hat aber auch mit den Mechanismen der Auf- und der Abwertung zu tun. Also sich einer moralisch überlegenen Gruppe zugehörig zu fühlen, ist für viele Mädchen attraktiv, die vielleicht im Leben sonst die ganz jugendtypischen Probleme haben. Gerade im Jugendbereich und gerade bei jungen Frauen können bei Radikalisierung und das ist bei jungen Leuten allgemein die verrücktesten in Anführungsstriche Gründe eine Rolle spielen. Es gibt junge Frauen, die möglicherweise und das habe ich in der Beratung jetzt wirklich schon mehrmals erlebt, die mit ihrem Körperbild ein großes Problem haben. Die durch die körperliche Verhüllung einen Schutz aufbauen, indem sie eben mich sexuell aktiv sein müssen, sich nicht damit auseinandersetzen müssen, ob sie jetzt schon dreimal mit einem Jungen geknutscht haben oder noch Jungfrau sind oder nicht. Wo es völlig legitim ist, Jungfrau zu sein, wo es völlig in Ordnung ist, kein Freund zu haben und wo man sich dem auch ein bisschen entziehen kann. Oder aber den Körper verhüllen kann, weil man sich auch schämt. Also auch all diese Fälle hatten wir schon. Ich will das nicht banalisieren. Aber gerade bei jungen Leuten können bei der Hinwendung die verschiedensten Dinge tatsächlich eine Rolle spielen. Was man natürlich sagen muss was aus unserer Sicht sehr, sehr bedenklich ist, ist, dass wir seit dem Gaza Konflikt noch mal mehr auf TikTok und in anderen sozialen Medien einfach ein enormen Anstieg haben von hoch emotionalisierten Ansprachen an junge Menschen, die an das Gerechtigkeitsempfinden appellieren. Wenn wir uns den Gaza Konflikt angucken und da junge Menschen politisch angesprochen werden und in so eine politische Radikalisierungsschiene kommen. Es gibt ja auch noch mal so verschiedene Ebenen, auf denen das stattfinden kann. Dann haben wir tatsächlich eine hoch emotionalisierte Ansprache, die wenig über Faktenvermittlung oder Wissensvermittlung oder sonst was läuft, sondern einfach über das Erregen von Emotionen und das Mitgehen und das Ansprechen von Gerechtigkeitsgefühl. Und das spricht Männer und Frauen gleichermaßen an.

Charlotte Leikert (KN:IX): Ja, vielen Dank für die Einblicke auch in eure praktische Arbeit. Schön, dass du da warst.

Alma Fathi: Danke schön.

(Musik)

Ulrike Hoole (KN:IX): In dieser Folge haben wir unter anderem über gesellschaftliche Missstände gesprochen, die in der Radikalisierung von Frauen eine Rolle spielen können. Denn islamistische Gruppen greifen diese gezielt auf und bieten eine scheinbar einfache Alternative. Wie wir von Fatima El Sayed gehört haben, gibt es jedoch viele andere Akteure, die diesen Missständen konstruktivere Gegenstrategien entgegensetzen.

Wir haben auch gehört, dass es auf die Frage, ob Radikalisierung als Empowerment verstanden werden kann, sehr unterschiedliche Perspektiven gibt. Einerseits haben die Personen oft selbst das Gefühl, dass sie sich durch den Anschluss an eine Gruppe selbst ermächtigen. Auf der anderen Seite schließen sie sich aber Gruppen an, die zutiefst anti-emanzipatorisch sind. Außerdem sollten wir bei dem Thema aufpassen Frauen nicht abzusprechen, selbstbestimmt zu handeln. Und dazu gehört eben auch, sich selbst aktiv dazu zu entscheiden, sich einer islamistischen Gruppe anzuschließen.

Charlotte Leikert (KN:IX): Motive für die tatsächliche Hinwendung sind sowohl bei Frauen als auch bei Männern immer sehr individuell. Aber wie zum Anfang betont, dürfen wir die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht außer Acht lassen. Und unsere Gesellschaft stellt nun mal unterschiedliche Anforderungen an Männer und an Frauen, die auch Auswirkungen auf Radikalisierungsprozesse haben. Wir hoffen, Ihnen hat die Folge gefallen und freuen uns, wenn Sie den Podcast weiterempfehlen.

Tschüss und bis zum nächsten Mal.

(Musik Outro KN:IX talks)

Inhaltliche Vorbereitung, Moderation und technische Umsetzung: Charlotte Leikert und Ulrike Hoole. Postproduktion: Malte Fröhlich

Charlotte Leikert (KN:IX Outro): Sie hörten eine Folge von KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismus-Prävention. KN:IX talks ist eine Produktion von KN:IX, dem Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus. KN:IX ist ein Projekt von Violence Prevention Networkufuq.deund der Bundesarbeitsgemeainschaft Religiös begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx.

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KN:IX wird durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Finanzierung erhalten wir von dem Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in Sachsen-Anhalt, der Landeskommission Berlin gegen Gewalt und im Rahmen des Landesprogramms Hessen. Aktiv für Demokratie und gegen Extremismus. 

 

Die Inhalte der Podcast-Folgen stellen keine Meinungsäußerungen der Fördermittelgeber dar. Für die inhaltliche Ausgestaltung der Folge trägt der entsprechende Träger des Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus, die Verantwortung.

Weiterführende Links

Fatima El Sayed
https://www.bim.hu-berlin.de/de/pers/assoz/el-sayed-fatima/fatima
Grüner Vogel e. V.
https://gruenervogel.de/
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.) (2024): Geschlechterkonstruktionen zwischen Macht und Stereotypen. Eine neue Perspektive für die Deradikalisierungsarbeit im Salafismus. https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Beitragsreihe/beitrag-band-14-geschlechterkonstruktionen.pdf?__blob=publicationFile&v=8 [abgerufen: 06.08.2024].

Institute for Strategic Dialogue (Hg.) (2019). Women, Girls and Islamist Extremism. A toolkit for intervention practitioners. https://www.isdglobal.org/wp-content/uploads/2019/10/ISD-Toolkit-English-Final-25-10-19.pdf [abgerufen: 06.08.2024].

Scheuble, Sophie / Oezmen, Fehime (2022). Junge Frauen als Zielgruppe von ExtremistInnen in den sozialen Medien und Erkenntnisse für die P/CVE-Arbeit.https://home-affairs.ec.europa.eu/document/download/27d8968e-5cab-4b9a-a5e4-ba18ecda18c5_de?filename=ad_hoc_young_women_social_media_Lessons-p-cve_022022_de.pdf [abgerufen: 06.08.2024].

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