Flexibel denken – Impulse aus der Kognitionswissenschaft für die Präventions- und Distanzierungsarbeit

Flexibel denken

Impulse aus der Kognitionswissenschaft für die Präventions- und Distanzierungsarbeit 

Der Artikel von Hannah Strauß (VPN) erschien erstmals im Rahmen des KN:IX Report 2023.

Der Einfluss von kognitiven Prozessen wird in der Praxis selektiver und indizierter Prävention weitgehend außer Acht gelassen. Tatsächlich scheinen kognitive Faktoren zunächst wenig Ansätze für die alltägliche praktische Arbeit zu liefern. Außerdem sollten extremistische Einstellungen nicht auf Kognition reduziert oder gar pathologisiert werden. Unter Berücksichtigung dieser Bedenken soll anhand neuerer Untersuchungen im Folgenden gefragt wer- den, ob Erkenntnisse über kognitive Prozesse nicht doch innovative Impulse und kreative Ansätze für die Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit liefern können.

Laut Studien der Technischen Universität Graz verarbeitet der Mensch insgesamt 11 Mio. Sinneseindrücke pro Sekunde. Dabei können rund 40 Reize bewusst verarbeitet werden (Bannert 2021). Das Gehirn nimmt also in einer unglaublichen Geschwindigkeit die Sinneseindrücke auf, führt sie zusammen, filtert sie nach Relevanz und stellt dem menschlichen Bewusstsein eine Auswahl zur Verfügung. Auf Basis dieser Informationen formen wir unser Bewusstsein und können unter anderem intentionale Entscheidungen treffen oder Handlungen ausführen. Gleichzeitig bleibt in vielen Situationen keine Zeit für Reflexion und wir reagieren „einfach“ und „unbewusst“. Viele Menschen sprechen in diesem Kontext von „Reflexen“ oder „impulsivem Handeln“. Insgesamt unterliegen diese Arbeitsprozesse des Gehirns komplexen Strukturen, die von zahlreichen Faktoren abhängen, die sich von Mensch zu Mensch minimal unterscheiden und dem Bewusstsein nicht zugänglich sind. Dieser „individuelle Charakter“ des Gehirns ist einer der Gründe dafür, dass jeder Mensch In- formationen anders aufnimmt, verarbeitet und entsprechend unterschiedlich reagiert (Zmigrod et al. 2021b: 219). In der Kognitionswissenschaft (siehe Kasten, S. 78) hat sich auch vor dem Hintergrund des politischen Interesses an Extremismus und Terrorismus in den vergangenen Jahren ein Forschungszweig etabliert, der den Einfluss sogenannter kognitiver Stile (aus dem Englischen: Cognitive Style) als möglichem Faktor für die Entstehung von Extremismus untersucht [1].

„Ziel dieser Forschung“, so die Kognitionswissenschaftlerin Leor Zmigrod, „ist es nicht, falsche Äquivalenzen zwischen verschiedenen und manchmal gegensätzlichen Ideologien zu ziehen. Wir möchten die gemeinsamen psychologischen Faktoren hervorheben, die die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen zu extremen Ansichten und Identitäten gelangen.“ Ziel sei es, die verschiedenen bestehenden Erklärungsansätze für die Wirkung und Attraktivität von Ideologien auf den Menschen um ein Modell der Neurokognition zu erweitern (Zmigrod 2021: 2). Aus diesem Modell ließen sich möglicherweise neue Ansätze für die Präventionsarbeit ableiten [2].

Die Kognitionswissenschaft entwickelte sich seit den 1970er Jahren aus konvergierenden Forschungsansätzen in den Fächern Philosophie, Psychologie, Neurowissenschaft und Hirnforschung, Linguistik und Künstliche Intelligenz (als Teil der Informatik) sowie in der Soziologie. Als interdisziplinäre Wissenschaft befasst sie sich mit der Verarbeitung von Information im Rahmen von Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungsprozessen. In ihren Bereich fallen auch Themen wie Gedächtnis, Lernen, Sprache, Emotion oder Motivation. Die Kognitionswissenschaft abstrahiert dabei teilweise davon, ob Kognition in organischen oder in künstlichen Systemen wie Computern oder Robotern untersucht wird, indem sie kognitive Prozesse als Informationsverarbeitung betrachtet. Die Erforschung der Mechanismen, die den kognitiven Fähigkeiten von Organismen (wie etwa Wahrnehmung, Motorik, Lernen, Gedächtnis, Problemlösen, Denken und Sprache) zugrunde liegen, verfolgt das Ziel, die kognitiven Leistungen des Menschen und anderer Organismen zu verstehen und in technischen Systemen nachzubilden. Verbunden werden alle kognitionswissenschaftlichen Arbeiten durch die Grundannahme, dass kognitive Prozesse als Berechnungsvorgänge betrachtet werden können, die durch die Nervenzellen des Gehirns oder die Hardware eines Computers ausgeführt werden. Die Basis der Forschung stellen psychologische und psycholinguistische Experimente dar. (Quellen: Websites der Gesellschaft für Kognitionswissenschaft sowie der Universitäten Potsdam und Osnabrück)

Erste wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema konstatieren insbesondere einen Zusammenhang zwischen kognitiver Rigidität bzw. Inflexibilität [3] von Menschen und ihrer Zustimmung zu extremistischen Einstellungen, die hier als Radikalisierung mit zunehmender Legitimierung von Gewalt zur Verteidigung der eigenen Gruppe definiert werden[4]. So konnte in Untersuchungen bewiesen werden, dass die Bereitschaft, für seine „In-group“ zu kämpfen oder zu sterben, in Zusammenhang mit kognitiver Rigidität bzw. Inflexibilität steht (Zmigrod et al. 2019).

Jenseits des Bezugs auf Extremismus und Gewaltbereitschaft befasste sich die Forschungsgruppe im Rahmen ihrer Studie „The Cognitive and Perceptual Correlates of Ideological Attitudes: A Data-driven Approach“[5] auch mit verschiedenen als „ideologische Orientierungen“ bezeichneten Einstellungen, wie zum Beispiel politischem Konservativismus, Dogmatismus oder auch Religiosität (Zmigrod et al. 2020: 6f.). In der Studie wird untersucht, ob und wie solche Orientierungen mit kognitiven und persönlichkeitsbezogenen Merkmalen bzw. „kognitiven Charakteren“ korrelieren. Charakteristisch für zustimmende Einstellungen von Menschen zu politischem Konservativismus wären demnach u. a. kognitive Merkmale wie reduzierte strategische Informationsverarbeitung, erhöhte Vorsicht bzw. geringere Risikobereitschaft und erhöhte Wahrnehmungsverarbeitungszeit (Zmigrod et al. 2020: 7, Abbildung 4, 9) [6].

Laut Rollwage et al. könnte auch die Fähigkeit, über eigene Kognitionsprozesse zu reflektieren (Metakognition), im Zusammenhang mit der Affinität zu bestimmten ideologischen Einstellungen bis hin zu Extremismus stehen: So sind Menschen, die dazu weniger in der Lage sind, in Tests und Untersuchungen regelmäßig überzeugter von der Richtigkeit ihrer Antworten – auch wenn diese objektiv falsch sind – als kognitiv flexible Menschen (Rollwage et al. 2018).

In einem Interview mit dem ORF (Czepel 2021) fasst Zmigrod die Befunde so zusammen: „Wir haben herausgefunden, dass Menschen, die bereit sind, ihre Gruppe und ihre Ansichten mit Gewalt zu verteidigen, ein paar kognitive Merkmale gemeinsam haben. Sie sind geistig eher unbeweglich, sie neigen zu einfachen Kategorisierungen und verarbeiten Informationen aus der Umwelt relativ langsam. Das zeigen klassische psychologische Tests, bei denen unsere Probanden zum Beispiel Regeln erlernen oder die Form von Objekten erkennen mussten. Menschen, die zu extremen Ideologien neigen, schneiden bei solchen Aufgaben relativ schlecht ab. Sie haben auch ein schwach ausgeprägtes Arbeitsgedächtnis und eine herabgesetzte Impulskontrolle: Wenn man Schwierigkeiten hat, komplexe Inhalte zu verarbeiten, dann sucht man nach Ideologien, die eindeutige und schlüssige Erklärungen der Welt bieten. Ich möchte (…) betonen, dass wir diese Tendenz mit Hilfe ganz normaler psychologischer Tests herausgefunden haben und nicht etwa durch Tests mit politischen Inhalten. Es ist erstaunlich, dass wir diese Parallelen sehen zwischen der Art und Weise, wie das Gehirn von Extremisten arbeitet, und den Erklärungen der Welt, denen sie zuneigen.“

Erkenntnisse für die Präventionspraxis

Unabhängig davon, ob es nun gesellschaftliche Verhältnisse und biografische Erfahrungen oder biologische Vorgaben sind, die den „kognitiven Charakter“ von Menschen formieren (oder deformieren), stellt sich die Frage, was auf den unterschiedlichen Ebenen von Präventionsarbeit daraus zu lernen ist. So könnte beispielsweise mit erfahrenen Fachkräften der selektiven und indizierten Extremismusprävention diskutiert werden, ob speziell zugeschnittene Trainings zur Förderung kognitiver Flexibilität entwickelt werden könnten (Zmigrod et al. 2019: 11). In der pädagogischen Arbeit, der politischen Bildung und universellen Prävention könnten Konzepte zur Förderung von Ambiguitätskompetenz hilfreich sein.

Zugleich stellt sich die grundlegende Frage nach einem kritischen Umgang mit Ergebnissen der Kognitionswissenschaft. So ist etwa zu konstatieren, dass kognitive Inflexibilität auch positive Aspekte in sich trägt. Beispielsweise kann Inflexibilität als Beständigkeit und Beharrlichkeit gelesen werden und bedeuten, dass eine Person an Überzeugungen festhält oder für ihre „Ingroup“ einsteht. Auf der anderen Seite können positiv bewertete Eigenschaften kognitiver Flexibilität auch negativ gesehen werden – etwa als Unbeständigkeit oder Oberflächlichkeit. Formen und Stile der Kognition können folglich positiv wie negativ bewertete Aspekte enthalten – je nach Kontext, Ausprägung und Ausmaß, in dem sie auftreten und interpretiert werden [7].

Die hier ausgewählten Studien liefern Erkenntnisse über kognitive Stile von Menschen, die unter Umständen zur Herausbildung extremistischer Weltanschauungen beitragen können. Die zentrale Fragestellung in diesem Zusammenhang bleibt indes ein Henne-Ei-Problem: Übernimmt jemand sukzessive extremistische Positionen und adaptiert in diesem Zuge seine*ihre kognitive Struktur? Oder lagen die kognitiven Strukturen bereits vor und haben die Empfänglichkeit des Individuums für extremistische Einstellungen befördert (u. a. Zmigrod et al. 2021a: 2)? Die Kognitionswissenschaft allein kann sicher keine Erklärungen für Radikalisierungsverläufe liefern. Weil die Kognition aber ein Puzzleteil unseres Wesens darstellt, kann ihre Erforschung auch im Kontext der Weiterentwicklung von Präventions- und Distanzierungsarbeit eine wertvolle Rolle spielen und es können einige der hier skizzierten Erkenntnisse entsprechend nutzbar gemacht werden [8].

Auf die Frage, wie Radikalisierung vermieden werden könne, antwortet Leor Zmigrod: „Man kann auf verschiedenen Ebenen ansetzen, zum einen bei der Bildung: Wir müssen unseren Kindern beibringen, Informationen ausgewogen zu verarbeiten. ‚Intellektuelle Bescheidenheit‘ könnte man es auch nennen. Darüber hinaus wäre es auch wichtig, bei den Medien anzusetzen. Wie verbreiten Online-Plattformen extreme Narrative? Dieser Frage müssen wir uns stellen, es braucht mehr Kontrolle und mehr Fakten-Checks. Wenn Menschen flexibel in ihrem Denken sind, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich extremen Ideologien zuwenden“ (Zmigrod et al. 2021a: 2).

Verweise

[1] Die in diesem Text zitierten Kognitionswissenschaftler*innen nutzen unterschiedliche Begriffe und Konzeptionen und sprechen von Extremismus oder ideologischen Orientierungen und Einstellungen. Der vorliegende Text hat diesbezüglich keine Vereinheitlichung vorgenommen – bemüht sich aber um Differenzierung. Extremismus wird im Folgenden vor allem in Verbindung mit Legitimierung von Gewalt betrachtet.

[2] Zmigrod und andere beziehen sich in ihren Untersuchungen zum Extremismus auch auf Thesen zum „autoritären Charakter“, die unter anderem im Kontext von Studien zu Faschismus und Nationalsozialismus seit den 1930er Jahren entstanden sind. Verbunden sind diese älteren Forschungen zum „autoritären Charakter“ und zur „autoritären Persönlichkeit“ vor allem mit den Namen von Erich Fromm und Theodor W. Adorno. Beide betonten in ihrer sozialpsychologischen Arbeit allerdings die Rolle familiärer und letztlich gesellschaftlicher sozioökonomischer Prägungen bei der Ausbildung eines „autoritären Charakters“. Dies scheint in der neueren Kognitionswissenschaft weniger eine Rolle zu spielen.

[3] Die Termini „kognitive Rigidität“ bzw. „kognitive Inflexibilität“ werden in den Forschungen zum Thema Extremismus regelmäßig synonym verwendet. Insgesamt sind die Begriffe nicht eindeutig. Eine gängige Definition verweist auf Schwierigkeiten von Individuen, sich an veränderte Lebensrealitäten anzupassen. Man kann dies negativ deuten (Starrheit) oder positiv (Beharrlichkeit) (Cohen 2017: 1; Spektrum 2000).

[4] Im Rahmen dieser Studie (Zmigrod et al. 2019) wird der ideologische Extremismus nach Clark McCauley und Sophia Moskalenko definiert.

[5] Zu Deutsch: „Die kognitiven und wahrnehmungsbezogenen Zusammenhänge ideologischer Einstellungen: eine datengesteuerte Annäherung“ (Übersetzung der Autorin).

[6] Zur Relativität solcher Bewertungen und ihrer jeweiligen Interpretationsgebundenheit s.u. im Text.

[7] Als Einschränkung muss angemerkt werden, dass die Studienlage weiterhin lückenhaft ist; Ergebnisse sind stark abhängig vom Studiendesign und es fehlen zudem allgemeingültige Definitionen.

[8] Das gilt zum Beispiel auch für den Zusammenhang von Kognition und Emotion. Eine Annäherung dazu bietet die Studie von Leor Zmigrod und Amit Goldenberg „Cognition and Emotion in Extreme Political Action: Individual Differences and Dynamic Interactions“ (2021).

Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor W. (1995): Studien zum autoritären Charakter, in: Institut für Sozialforschung der J. W. Goethe-Universität Frankfurt (Hrsg.), Frankfurt am Main.

Bannert, Andrea (2021): Die Matrix: Sinneswahrnehmung im Gehirn, https://focus-arztsuche.de magazin/gesundheitstipps/sinnesverarbeitung-im-gehirn, abgerufen am 28.07.2023.

Cohen, S. J. (2017). Cognitive Rigidity, Overgeneralization and Fanaticism, in: Zeigler-Hill, V.; Shackelford, T. (Hrsg.): Encyclopedia of Personality and Individual Differences, Basel.

Czepel, Robert (2021): Wie Extremisten ticken, in: ORF, 22.02.2021, https://science.orf.at/stories/3204900/, abgerufen am 06.09.2023.

Rollwage, Max; Dolan, Raymond J.; Fleming, Stephen M. 2018: Metacognitive Failure as a Feature of Those Holding Radical Beliefs, in: Curr Biol. 2018 Dec 17; 28 (24), S. 4.014–4.021.

Spektrum (2000): Lexikon der Psychologie: Rigidität, https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/rigiditaet/13054, abgerufen am 28.07.2023.

Zmigrod, Leor; Ebert, Tobias; Götz, Friedrich M.; Rentfrow, Peter J. (2021a): The Psychological and Socio-Political Consequences of Infectious Diseases: Authoritarianism, Governance, and Nonzoonotic (Human-to-Human) Infections Transmission, in: Journal of Social and Political Psychology 9 (2), S. 456–474, https://jspp.psychopen.eu/index.php/jspp/article/view/7297, abgerufen am 06.09.2023.

Zmigrod, Leor; Goldenberg, Amit (2021b): Cognition and Emotion in Extreme Political Action: Individual Differences and Dynamic Interactions, in: Current Directions in Psychological Science 30 (3), S. 218–227.

Zmigrod, Leor (2021): A Neurocognitive Model of Ideological Thinking, in: Politics and the Life Sciences 40 (2), S. 224–238, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34825811, abgerufen am 06.09.2023.

Zmigrod, L.; Eisenberg, I. W.; Bissett, P. G.; Robbins, T. W.; Poldrack, A. (2020): The Cognitive and Perceptual Correlates of Ideological Attitudes: A Data-driven Approach, in: Philosophical Transactions R. Soc. B, 376: 20200424, https://doi.org/10.1098/rstb.2020.0424, abgerufen am 06.09.2023.

Zmigrod, Leor; Rentfrow, Peter J.; Robbins, Trevor (2019): Cognitive Inflexibility Predicts Extremist Attitudes, in: Frontiers in Psychology 10: 989, https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2019.00989/full, abgerufen am 06.09.2023.

Die Autorin

Hannah Strauß ist Systemische Therapeutin und Politikwissenschaftlerin. Sie ist Leiterin des Fachbereiches Psychotherapie bei Violence Prevention Network.

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