Podcast KN:IX talks
Folge #02 | Globalgeschichtliches Lernen – „Das ist nicht etwas, was nur Geschichts- und Politiklehrer*innen betrifft“
Geschichtsdidaktik in der Postmigrantischen Gesellschaft
Die vorherrschende Geschichtsdidaktik hat Nachbesserungsbedarf. Nicht immer gelingen inklusive Momente in den Unterrichtskonzepten. Dabei ist inkludierender Geschichtsunterricht in einer postmigrantischen Gesellschaft unabdingbar. Was sollte dabei beachtet werden? Wie kann das Interesse für Geschichtsunterricht bei Schüler*innen mit und ohne Migrationsbiografie geweckt werden? Und was hat globalgeschichtliche Bildung überhaupt mit Radikalisierungsprävention zu tun? In der zweiten Folge des neuen KN:IX talks-Podcasts steht Dr. Christina Brüning diesen Fragen Rede und Antwort.
Die entsprechende Broschüre „Globalgeschichtliche Bildung in der postmigrantischen Gesellschaft“ aus der KN:IX-Publikationsreihe Analysen finden Sie hier. Dort können Sie die pdf-Versionen herunterladen. Für Bestellungen einzelner oder mehrerer Broschüren (zzgl. Versandkostenpauschale) wenden Sie sich an bestellung@ufuq.de.
Im Podcast zu Gast
Christina Isabel Brüning war nach dem Studium und Referendariat in Berlin zunächst Studienrätin für Geschichte, Politik und Englisch, bevor es sie zum Promovieren wieder an die Universität zog. An der Freien Universität Berlin war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Friedrich-Meinecke-Institut, am Institut für Englische Philologie sowie Lehrbeauftragte am Otto-Suhr-Institut.
Von 2013 bis 2017 lehrte sie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg am Institut für Geschichts- und Politikwissenschaft vor allem im Bereich der Zeitgeschichte und der Didaktik der historisch-politischen Bildung. Mit einer Teilfreistellung in Freiburg stellte sie am Selma-Stern-Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg ihr Buch „Holocaust Education in der heterogenen Gesellschaft“ fertig. Ihre Dissertation wurde mit dem ersten Preis der Tübinger School of Education als beste Qualifikationsschrift ausgezeichnet.
Von 2017 bis 2019 war sie akademische Post-Doc Mitarbeiterin am Institut für Geschichtsdidaktik und Public History der Universität Tübingen. Seit Oktober 2019 arbeitet Christina Brüning am Lehrstuhl für politische Bildung der Universität Postdam, wo sie sich mit Themen des Nahostkonflikts, des Antisemitismus und natürlich der Lehrer*innenbildung beschäftigt.
Transkript zur Folge
(O-Ton, Musik im Hintergrund)
Christina Brüning: Also Michele Barricelli hat mal gesagt, man brauche halt so eine gemeinsame Erzählung, auch als wärmende Decke, unter der sich irgendwie alle wiederfinden können. Ich stell mir diese Decke immer sehr stark als Patchwork-Decke vor, weil ich das Gefühl habe, dass mich das sehr stark bereichern würde, zu sagen: „Es mag irgendeine gemeinsame Vorstellung von ‚wie wollen wir hier zusammenleben und wie soll diese Gesellschaft funktionieren?‘ gibt.“
(O-Ton, Musik im Hintergrund)
(Musik im Hintergrund)
Charlotte Leikert (Intro KN:IX talks): Herzlich Willkommen zu KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention! Bei KN:IX talks sprechen wir über das, was die Prävention und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international beschäftigt. Für alle, die in dem Feld arbeiten oder immer schon mehr dazu erfahren wollten: Islamismus, Prävention, Demokratieförderung und Politische Bildung. Klingt interessant? Dann bleiben Sie jetzt dran und abonnieren Sie unseren Kanal KN:IX talks. Überall da, wo es Podcasts gibt.
(Musik im Hintergrund)
Thy Le (KN:IX): Wir leben in einer Migrationsgesellschaft, das ist für mich gesetzte Realität und in den Klassenräumen haben so laut Mikrozensus 2020 über ein Drittel der Schüler*innen an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen in Deutschland eine Migrationsbiografie, oder zumindest eines ihrer Eltern oder Großelternteile.
Aber im klassischen Geschichtsunterricht spiegelt sich diese gesellschaftliche Pluralität häufig gar nicht wider. Menschen mit Migrationsgeschichte werden darin nicht repräsentiert und wenn, werden sie als Fremde oder Exot*innen dargestellt. Diese fehlende Repräsentation im Unterricht ist ein Problem, weil sie Menschen mit Migrationsgeschichte aus der gemeinsamen Erzählung über die Vergangenheit und damit auch über die Gegenwart und Zukunft ausschließt. Das Wissen, mit der eigenen Geschichte sichtbar zu sein und wahrgenommen zu werden, ist aber wichtig, um sich der Gesellschaft zugehörig zu fühlen und anerkannt zu wissen. Genau hierüber sprechen wir heute.
Was braucht Geschichtsunterricht in einer Migrationsgesellschaft? Wie blicken wir auf Geschichte und was kann ein inklusiver Geschichtsunterricht? Also ein Geschichtsunterricht, in dem sich alle Schüler*innen mit ihren Geschichten abgebildet wissen, für die Universalprävention leisten? Ich bin Thy Le und arbeite bei einem der drei Trägern von KN:IX, nämlich ufuq.de.
Zu der heutigen Frage habe ich eine interessante Wissenschaftlerin eingeladen, die mir Rede und Antwort steht: Dr. Christina Brüning ist seit Oktober 2021 Professorin für Didaktik der Geschichte an der Universität Marburg, wo sie sich mit Themen des Nahostkonflikts, des Antisemitismus und der Lehrer*innen Bildung beschäftigt. Eine Expertise von Christina Brüning zu „Globalgeschichtlicher Bildung in der Migrationsgesellschaft“ ist gerade in der Reihe „Analysen“ des Kompetenznetzwerkes Islamistischer Extremismus erschienen. Darin finden Sie Theoriegrundlagen zu rassismuskritischem Geschichtslernen, außerdem auch ausgewählte online-herunterladbare Materialvorschläge. Die Expertise finden Sie verlinkt in den Shownotes. Liebe Christina, ich heiße dich herzlich willkommen zu unserer ersten KN:IX-Talks Folge von ufuq.de!
Christina Brüning: Ja, vielen Dank, dass ich da sein darf. Ich freue mich sehr!
Thy Le (KN:IX): Wieso findest du, wird denn die vorherrschende Geschichtsdidaktik nicht einer pluralistischen Gesellschaft gerecht?
Christina Brüning: Ohne zu sehr meine eigene Disziplin schlecht machen zu wollen, wir geben uns da wahnsinnig viel Mühe, dass das immer besser wird – es gibt da auch ganz viele großartige Vorschläge… Aber wie Rosa Fava auch schon in Ihrer Dissertation 2015 herausgearbeitet hat, werden Menschen mit einer Migrationsgeschichte immer noch als Störfälle, so hatte sie das damals formuliert, der Normalsituation einer als sehr homogen imaginierten Gesellschaft konzipiert.
Das heißt: Es ist immer noch so ein bisschen die Herangehensweise, ich sehe das auch bei meinen Studierenden, wenn ich Unterrichtspraktika betreue: „Ich habe eine recht schwierige Klasse.“ Und dann ist der zweite Halbsatz: „Da sind soundso viele Schüler*innen mit einem Migrationshintergrund drin.“ Dann frage ich halt immer: „Was ist denn hier der Konnex? Also wollt was wollt ihr mir wirklich sagen?“ Es ist immer noch so, dass viele Lehrer*innen das Gefühl haben, dass Jugendliche oder Kinder mit einer sogenannten Migrationsgeschichte tatsächlich ein Problem im Unterricht darstellen, weil man dann mehr fördern muss, mehr differenzieren muss.
Dann werden Unterrichtskonzepte in der Geschichtsdidaktik gebildet oder auch entwickelt, die ganz spezifisch darauf eingehen wollen. Das ist oft sehr gut gemeint. Aber in der Konsequenz entstehen oft so exkludierende oder migrantisierende Momente. Um das zu veranschaulichen, vielleicht für die Zuhörer*innen in den 1980-90er Jahren gab es diesen Ansatz der sogenannten ‚Ausländer*innenpädagogik‘ – Sorry für das Wort… Das hieß damals tatsächlich so, in der man versucht hat, für die türkischen Schüler*in, die dann oft als homogene Gruppe imaginiert wurden, Unterrichtskonzepte anzubieten, wo man gesagt hat: „Da können die sich dann mal mit ihrer Geschichte beschäftigen.“ Einen ähnlichen Ansatz haben wir teilweise immer noch heute. Da werden dann in Gedenkstätten oder im Geschichtsunterricht Module, die dann spezifisch für Geflüchtete, für Schüler*innen aus einem palästinensischen Background usw. haben, entwickelt. Und diese Prozesse haben haben oft zumindest einen Othering-Moment. Das ist eigentlich nicht das, wo wir hinwollen. Wir wollen ja inkludieren, den Geschichtsunterricht anbieten, der alle Menschen, die in diesem Klassenzimmer sitzen, anspricht – egal, ob sie eine Migrationsbiografie oder keine Migrationsbiografie haben. Das ist der Ansatz in der Rassismuskritik, dass man eben schaut: Wir wollen nicht mehr Othering betreiben. Wir wollen eben keine ethnisierendes oder migrantisierendes lernen anbieten. Da kämpfen wir auch immer noch mit, da haben wir noch nicht die Ultima Ratio gefunden.
Thy Le (KN:IX): Das bedeutet, dass in den vergangenen Versuchen, interkulturelles historisches Lernen an Schulen zu gestalten, dieses ganz oft betrieben worden ist. Kannst du vielleicht noch mal dezidiert erklären, was man unter Othering versteht?
Christina Brüning: Othering ist ja ein Begriff, den man eher aus den Postcolonial Studies kennt. Rassismuskritische Bildung hat das übernommen, um darauf hinzuweisen, dass Menschen hier zu Anderen gemacht werden – das steckt in dem Wort Other der*die ‚Andere‘ drin. Und ganz wichtig immer, wenn man das didaktisch benutzt, zu schauen ‚in welchem Lernprozess wird gerade jemand zu einem*r Anderen gemacht?‘ Und das können ganz einfache, gut gemeinte Sachen sein, nämlich dass die Lehrer*innen dann sagen: „Wir machen jetzt ein Projekt in Musik. Es bringt dann jede*r mal Musik aus seiner*ihrer Heimat mit.“ Das ist vielleicht erst mal gut gemeint und man denkt so ‚ach, das spiegelt dann irgendwie die Multikulturalität wider.‘ Aber man wirft halt Schüler*innen oft in eine, in eine identitäre Überstülpung zurück, wo die Schüler*innen, die dann in dritter Generation Großeltern haben, die mal aus der Türkei zugewandert sind, sich überlegen ‚okay… was ist jetzt meine Heimat? Meine Eltern haben schon deutschen Pass, ich habe einen deutschen Pass. Was für Musik muss ich jetzt mitbringen? Ist es jetzt nicht okay, wenn ich jetzt Kool Savas höre? Darf ich den nicht mitbringen, weil es ein deutscher Künstler ist?‘
Also das sind alles so Momente, die oft in diesem interkulturellen Lernen gemacht wurden und die wirklich gut gemeint waren, aber die oft nach hinten losgegangen sind. Und das versuchen wir zu vermeiden: Die Menschen zu jemand Anderen zu machen oder ihnen einfach eine Identität überzustülpen oder vorzugeben. Sondern jede*r von uns hat die Möglichkeit, sich als hybridkulturelle Person zu konzeptionalisieren und die eigene Identität auch jederzeit zu erweitern und weitere Kulturen in sich zu vereinen. Also Kulturen hier wieder gedacht, also shared mental maps, also eben nicht als auf eine bestimmte Nation gemeinte Begriffe.
Thy Le (KN:IX): Verstehe ich das dann richtig, dass in diesen Versuchen, die schieflaufen, diese Andersartigkeit, die vorab schon festgestellt worden ist, noch weiter zementiert wird und weiter fortgeführt wird?
Christina Brüning: Ja, genau. Im Extremfall haben wir, wenn wir richtig Pech haben, sogar die Situation, dass Schüler*innen durch Geschichtsunterricht oder durch historisch-politische Bildung dann sogar retraumatisiert werden können. Es gibt dann oft Ansätze wie ‚okay, wir behandeln jetzt mal den Afghanistan-Konflikt‘ oder so. ‚Wir haben zwei geflüchtete Schüler*innen in der Klasse, die vielleicht 2015, 2016 zu uns gekommen sind. Also erzähl doch mal, wie war das denn bei euch?‘ Huch?! Also man würde auch nicht unvorbereitet einen Holocaust-Überlebenden im Klassenzimmer einfach fragen: „Wie war das denn bei dir?“ Ohne dass die Person wüsste ‚Ich bin freiwillig hier, ich bin Zeitzeug*in, ich habe mich für dieses Gespräch gemeldet.‘ Das sind Momente, die müssen auf Freiwilligkeit basieren. Das kann nicht einfach von Lehrer*innen bestimmt werden, wer hier im Unterricht so private traumatische Erfahrungen irgendwie teilen muss. Auch da ist Sensibilität angebracht: Dass das natürlich wertvolle Erfahrungen sind, aber dass nicht alle Menschen alle ihre Erfahrung auch teilen möchten.
Thy Le (KN:IX): Und was kann ich dann unter globalgeschichtlicher Didaktik verstehen?
Christina Brüning: Globalgeschichte ist erst mal ein Forschungsansatz, der sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren weiterverbreitet hat und der gar nicht dezidiert unbedingt etwas mit historischem Lernen zu tun hat. Globalgeschichtliches Arbeiten ist eine Forschungsperspektive, die theoretisch an jedem Thema, an jedem Gegenstand möglich ist. Als Dan Diner ein Buch geschrieben hat und gesagt hat, er erzählt mal die Geschichte des Zweiten Weltkrieges aus der Perspektive Palästinas. Mal die Perspektive komplett zu wechseln und das gewohnte Master-Narrative wie ‚die Schlacht von Stalingrad ist der große Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges‘, oder so etwas zu hinterfragen. Und zu sagen: „Ja, aber vielleicht war es für die Menschen in Palästina El Alamein!“ Vielleicht war das eine andere Schlacht, die die als Wendepunkt konzeptionalisieren. Warum ist das so? Da Perspektiven aus dieser Westzentrierung zu wechseln, aus diesem Eurozentrismus eben auch mal herauszutreten und Geschichte aus anderen Blickwinkeln zu erzählen und dabei auf diese verflochtene Geschichte zu achten, also zu schauen: Wie wurde das an einem anderen Punkt der Welt parallel, gleichzeitig sozusagen, erlebt und dann auch darüber erzählt?
Also diese Verflechtungsgeschichte ist etwas ganz Wichtiges in der Globalgeschichte und wird dann in der Didaktik immer mehr. Oft wurde das in den letzten Jahren dann auch als Rahmenlehrplan gemacht. Der Lehrplan in Baden-Württemberg als einer der ersten hat 2016 in den Schule von „Fenstern zur Welt“ gesprochen, also von Möglichkeiten globalgeschichtliches Lernen eben auch in den Geschichts- und Politikunterricht einzubinden.
Thy Le (KN:IX): Nehmen wir mal an, ich wäre jetzt eine Lehrerin und ich möchte mir globalgeschichtliche Didaktik zu Herzen nehmen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass ich mich und die Schüler*innen als Kosmopolit*innen erziehen oder sehen muss? Sondern das bedeutet, dass ich diese Verflechtungen verstehen muss? Kannst du noch mal diese Verflechtung genauer ausführen?
Christina Brüning: Ich glaube, es gibt im Deutschen das Problem, dass wir mit Global History oft nichts anfangen konnten und dass man dann dachte ‚aber Universal- oder Weltgeschichte hatten wir vorher schon.‘ Wo einfach breiter erzählt wird oder wo Themen immer addiert werden. Das versucht man in der Globalgeschichte eben nicht zu machen. Es ist nicht so, dass ich sage ‚okay, jetzt habe ich den Zweiten Weltkrieg, genauso wie ich es immer gemacht habe, aus meiner deutschen nationalgeschichtlich-geprägten europäischen Perspektive‘ einmal fertig erzählt und dann gucke ich noch ‚was explodierte in Hiroshima?‘ Und wann war der Krieg im Pazifik fertig.
Es geht nicht um Addieren von zusätzlichen weit entfernten und dann vielleicht sogar noch als eher exotisch begriffenen Themen. Sondern es geht darum, zu gucken, diese Verflechtungsmomente herauszuarbeiten. Ganz klar wird das bei Themen wie Kolonialismus oder alles, wo es auch um Migration oder Handel oder Austausch geht. Also dass man schaut, welche Transfermomente und das kann ja auch Kulturtransfer, Ideologietransfer, aber eben auch Güter, Waren und Menschen und so weiter sein. Wo sind die Austauschmomente, die uns bis heute eben auch prägen? Bei Kolonialismus sieht man es dann im Rassismus gegen People of Color. Oder man sieht es bei anderen Themen, dass die Gesellschaft in Deutschland z.B., weil sie diese eigene Geschichte nicht aufgearbeitet hat, eben auch die Verflechtung bis heute nicht sieht und dann genau bestimmte erinnerungskulturelle Probleme entstehen. Es geht nicht so sehr darum, dass die Schüler*innen verstehen ‚wir sind jetzt alle Weltbürger*innen und wir verstehen uns als Kosmopolit*innen.‘ Sondern es geht darum, eher aufzuzeigen, dass wir alle hybridkulturelle Menschen sein können und dass wir uns dafür auch bewusst entscheiden, dass wir unsere eigenen Identifikationsmomente entscheiden können, was wir sozusagen in unsere Identität reinholen oder nicht. Und dazu trägt Verflechtungsgeschichte auch mit bei, dass die Schüler*innen begreifen, dass ich eben nicht mehr nur diesen einen nationalen Blick habe, gerade im Geschichtsunterricht deutsche Geschichte eben immer das Master-Narrativ ist und dieses vorgegebene, wie man sich zu gewissen Themen verhalten muss, sondern ganz andere Menschen würden dieses Thema ganz anders interpretieren – dass es auch eine legitime Perspektive zu einem Thema ist.
Thy Le (KN:IX): Dieses Stichwort „Master-Narrativ“… Das stimmt mich gerade nachdenklich. Und dann hast du erfahren schon von Eurozentrismus gesprochen. Was bedeutet es denn, dass Wissen über Geschichte, wie du in deiner Expertise geschrieben hast, auch hierarchisiert wird? Wie kommt es denn überhaupt, dass wir erst jetzt überhaupt uns mit diesen Verflechtungen beschäftigen müssen? Von welcher Ausgangssituation gehen wir dann aus?
Christina Brüning: Wissen über Geschichte ist natürlich immer auf eine gewisse Art und Weise Herrschaftswissen. Das sieht man schon daran, dass Schulbuchmacher*innen bestimmte Darstellungstexte einfach formulieren und die Schüler*innen oft bis heute sagen: „Das, was da steht, ist halt die Wahrheit. Genauso kann ich das jetzt für bare Münze nehmen.“ Es gibt in der Geschichtsdidaktik – Das wissen jetzt die Lehrer*innen, die zuhören auf jeden Fall, diesen Begriff der „narrativen Kompetenz“. Also dass man davon ausgeht, dass Geschichte immer ein Konstrukt ist und dass ich sozusagen diese Konstruktion, die mir präsentiert werden, tendenziell immer analysieren und kritisch hinterfragen muss. Und dass ich selbst auch durch den Geschichtsunterricht in die Lage versetzt werde, zu wissen, wie man solche Narrative kreiert. Also was mache ich mit einer Quelle? Wie komme ich hinterher zu einer historischen Erzählung? Das wird allerdings, und das ist ein riesengroßer Kritikpunkt, im Unterricht ganz selten umgesetzt. Das hat verschiedene Ursachen. Viele Lehrer*innen unterrichten Geschichte fachfremd, weil wir einfach über viele Jahre Lehrer*innenmangel hatten. Viele Lehrer*innen sind durch die hohe Stundenzahl einfach so überlastet, dass es oft nicht möglich ist, den Unterricht besser vorzubereiten oder so vorzubereiten, wie sie sich selbst das eigentlich wünschen würden und an der Universität gelernt haben. Sondern man nimmt dann das Schulbuch und sagt dann: „Wir lesen jetzt Text auf Seite 48-49 und beantworten die Fragen eins, zwei, drei.“ Dann ist es wieder diese Vermittlungsdisziplin, wo die Schüler*innen das Gefühl haben, ‚Geschichte ist langweilig. Ich muss Zahlen und Daten auswendiglernen und hinterher fragt mich einer ab, ob ich mich noch an genau das, was da stand erinnern kann. Und im schlimmsten Fall fülle ich das noch in Lückentext ein.‘ Das ist jetzt sehr polemisch. Aber vermutlich haben wir alle, die hier irgendwie gerade zuhören, solche Geschichtsunterrichtsmomente erlebt. Es gibt Gründe, warum immer wieder empirische Studien sagen, der Geschichtsunterricht ist der unbeliebteste Unterricht in den Anfangsjahren der Schule, weil die Schüler*innen von der Grundschule kommen und oft schon ein ganz anderes Arbeiten kennengelernt haben. Viel mehr Schüler*innen-zentriert, viel methodenreicher usw., dann an den Oberschulen mit einem Fach konfrontiert werden, wo sie das Gefühl haben, ‚hier geht’s echt nur um Auswendiglernen und sich irgendwas gut merken können.‘
Thy Le (KN:IX): Da kann ich auf jeden Fall mitgehen, wenn ich an meinen eigenen Geschichtsunterricht denke. Der liegt schon ein bisschen zurück… Aber da hatte ich auch das Gefühl, dass wir da sehr stark in Containern denken. Also Geschichte als lineare Erzählung und auch als abgeschlossene Einheiten. Da gab es die Einheit der Weimarer Republik und dann kam die NS-Zeit und so weiter und so fort… Genau das war vielleicht ja auch eine sehr eurozentrische Sichtweise, also auch Kolonialismus wurde da auch nur in zwei Wochen abgehandelt.
Christina Brüning: Total, genau. Das sind genau die Momente, die wahnsinnige Auswirkungen auf unsere Gegenwart haben. Wenn dieses tendenziell in Deutschland immer noch präsente Narrativ vorherrscht, ‚deutsche Kolonien? da gab es ein paar wenige, die haben wir auch ganz schnell wieder verloren. Deswegen ist das alles nicht so relevant für uns.‘ Dann setzt man sich natürlich als Gesellschaft ganz anders mit den kolonialen Aufarbeitungsprozessen auseinander und eben auch mit dem, was daraus als Legacy gefolgt ist: Rassismus. Es geht ja nicht nur um Rückgabediskussion des Humboldt-Forums. Sondern es geht ganz konkret auch um Kolonialverbrechen, für die bis heute keine Amnestie stattgefunden hat. Z.B. diese Ausstellung von Rudolf Duala Manga Bell, die ich in meiner Expertise erwähnt habe. Das sind alles so Momente, wo man merkt, da ist eine verdrängte Erinnerung oder fast so eine Art kollektive Amnesie, so ein kollektiver Gedächtnisverlust in diesem Themenfeld, der auch was mit ganz vielen anderen Themen macht. In dem Moment, wo wir Kolonialismus nicht gut aufgearbeitet haben und immer noch nicht ausreichend über die rassistischen Grundlagen sprechen, die bis heute tragfähig sind, ist es eben auch schwierig, eine vernünftige Holocaust Education darauf aufzubauen, weil dann auch dort sozusagen die Momente, die rassistisch sind und über den Antisemitismus hinausgehen, wegfallen und aus der Erinnerung verdrängt sind.
Thy Le (KN:IX): Die verbreitete Wahrnehmung ist, dass Muslim*innen erst in der sehr späten Moderne plötzlich in der deutschen Geschichte auftreten, mit dem Zuzug von Gastarbeitern in der alten Bonner Republik z.B. Wie sind denn besonders muslimische Schüler*innen und als solche Markierte von diesem Rassismus und auch von den Vereinfachungen und Homogenisierung betroffen?
Christina Brüning: Das ist natürlich zweierlei. Der klassische deutsche Geschichtsunterricht, der eben für eine als homogen-biodeutsche Gesellschaft konzeptionalisiert ist, der erzählt erstens die Geschichte der sogenannten Gastarbeiter*innen fast gar nicht. In den wenigsten Geschichtsbüchern kommt es tatsächlich vor. Meistens ist das auch ein Kapitel, was die Lehrer*innen nicht mehr schaffen, weil dann war der Abschnitt Zweite Weltkrieg so lang und man hatte keine Zeit mehr, sich mit der Nachkriegsgeschichte zu beschäftigen. Das heißt, hier ist erst einmal dieses Problem.
Und dann als zweites Problem wird es, wenn es erzählt wird, auch nicht als positives Narrativ über Zuwanderung, als kultureller Mehrwert erzählt, sondern es geht oft so: ‚Das war eine Zuwanderung, die brauchten wir, weil wir die Arbeitskräfte brauchten.‘ Das wird hier extrem in diese Schiene Humankapital gedacht und was eben viel zu wenig passiert, ist zu hinterfragen: ‚Diese Leute sind aber in Deutschland, die haben Familien gegründet, die haben ganz viele andere Dinge auch mitgebracht und es ist eine Erfolgsgeschichte. Deutschland wäre wirtschaftlich betrachtet allein, aber eben auch das, was uns als Gesellschaft ausmacht, nicht da, wo wir jetzt sind, wenn diese Familien und diese Menschen nicht zu uns gekommen wären und sich entschieden hätten, auch hier zu bleiben‘.
Dass das eine relativ verdrängte Erzählung ist, das ist schon mal das erste, was natürlich was mit Schüler*innen, die Migrationsbiografien in ihren Familien haben, macht. Das macht was mit denen.
Das zweite Problem ist, dass die ‚Anderen‘, also das Osmanische Reich oder irgendwelche Bezüge zu Türk*innen in der Antike oder in der frühen Neuzeit nur dann vorkommen, wenn sie als Bedrohung wahrgenommen wurden. Wir haben das Narrativ ‚der kranke Mann am Bosporus‘. Da kommt es einmal drin vor. Das ist auch meistens auch noch eine Überschrift in den Schulbüchern. Und dann haben wir ‚die Türk*innen belagerten Wien‘, frühe Neuzeit. Das sind die zwei Momente, wo Schüler*innen überhaupt mit diesem Thema konfrontiert werden. Es sind beides keine positiven Momente. Das positive Moment, was wir hätten, nämlich unsere Gegenwart, Geschichte oder unsere Zeitgeschichte aufzuarbeiten und die Geschichte der sogenannten Gastarbeiter*innen als Erfolgsgeschichte zu erzählen, das passiert auch zu wenig. Dass tatsächlich muslimisch sozialisierte Menschen oder als muslimisch gelesene Menschen, das ist ja wird ja oft von der Mehrheitsgesellschaft auch einfach phänotypisch zusortiert, wen man da in diese Gruppe reinstecken möchte, dass denen – das hat Sabine Achour in ihrer Dissertation herausgearbeitet – eine bestimmte Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie unterstellt. Sabine Achour hatte das glaube ich als „Inkompatibilitätstheorem“ genannt, großartiger Begriff. Und Achour hatte gesagt, dass muslimische Menschen, die man automatisch als sehr religiös konzeptionell sieht, was gar nicht zwangsläufig so sein muss, dass vermutlich diese gesamte Gruppe dann den Islam bestimmt, über die deutsche Demokratie stellt und deswegen tendenziell nicht so demokratiefähig ist wie unreligiösere Menschen, also die christliche Mehrheitsbevölkerung. Dieses Problem, das statistisch auch gar nicht belegbar ist, also z.B. die türkische Community, hat sehr hohe Zustimmungswerte zur deutschen Demokratie – deutlich höher als die nicht-türkische Gemeinschaft in Deutschland. Das macht auch was mit Schüler*innen in dem Unterricht, wenn darauf rekurriert wird und dann dieses Othering wieder passiert und gesagt wird: „Naja, bei euch ist das ja so und so, oder? (…) Ja, ja, ihr kennt das aus eurem Land nicht so, aber bei uns ist das so und so.“ Und das passiert eben in historischer-politischer Bildung relativ häufig, weil wir sehr stark über Werte und Normen, also Grundgesetz und Freiheitlich Demokratische Grundordnung usw. agieren“ und einfach bestimmte Themen normativ gesetzt sind, in welche Richtung da die Diskussion gehen muss.
Thy Le (KN:IX): Diese normativ gesetzten Kriterien sind wahrscheinlich unbewusst?
Christina Brüning: Es gibt einfach Themen, die in Deutschland zum sogenannten nicht-kontroversen Sektor der historisch-politischen Bildung gehören und wo sozusagen klar ist, wohin diese Urteilsbildung gehen kann. Also das ist klar bei Holocaust Education, da ist es nicht möglich in der gesamten Kontroverse irgendwas auszudiskutieren. Haben wir an Eva Hermann gesehen. Man kann nicht die Autobahn gegen Auschwitz ausspielen oder sonst irgendwelche Unsinnigkeiten.
Aber es gibt eben auch ganz viele andere Bereiche, wo relativ klar ist, dass von den Schüler*innen ein bestimmtes Urteil oder eine bestimmte Haltung erwartet wird. Das kann eben auch Antisemitismus, Rassismus, Extremismus usw. sein. In dem Moment, wo man aber zum Beispiel muslimisch sozialisierten Menschen unterstellt, dass sie zum Thema Antisemitismus eine abweichende Sinnbildung hätten, im Gegensatz zu ihren deutschen Klassenkamerad*innen, einfach aufgrund von diesen Fehlannahme, da passiert wieder so ein Othering. Da genau gibt es eine tolle Studie von Stender und Follert (2010). Die heißt tatsächlich „Das kommt jetzt wirklich nur aus der muslimischen Welt.“ Da haben sie Schulsozialarbeiter*innen, Lehrer*innen und aber auch Schüler*innen zu Antisemitismus befragt. Es waren natürlich nicht die muslimischen Schüler*innen, die am antisemitischen waren in dieser Studie. Das sind meine eigenen Dinge, die in meinem Kopf sind und gegen die wir uns aber alle auch nicht wehren können. Das wird uns medial oft so vorgegeben. Was haben wir 2015, 2016 in den Mediendokus über den zugewanderten Antisemitismus und so weiter gesehen. Und wir alle rezipieren ja diese Medien, wir können uns gar nicht verwehren. Aber was wir halt können, ist unseren rassismuskritischen Filter einzuschalten und zu sagen: „Naja, genau das wird mir gerade sehr viel so präsentiert. Aber ist hier vielleicht auch ein Moment dabei, wo vom heimischen Antisemitismus, der immer da war und nie weg war, abgelenkt werden soll? Oder warum wird dieser Diskurs gerade medial auch so hochgespielt? Welche vielleicht auch antimuslimischen Rassismen werden hier auch transportiert? Wo geht es hier vielleicht auch darum, Migration zu verhindern, indem man den Schutz des Abendlandes oder sonst welche Dinge fordert?“
Thy Le (KN:IX): So sucht man den Antisemitismus bei den anderen… Aber wie kann dann dieser rassismuskritische Filter angeschaltet werden? Oder wie kann im Unterricht diese Hierarchie von Wissen konkret aufgebrochen werden? Du hast da auch in deiner Expertise Kriterien für globalgeschichtliche Perspektiven im Unterricht aufgeführt.
Christina Brüning: Genau. Also tatsächlich sind es, glaube ich, zwei Sachen, die man dann zusammendenken muss. Beim globalgeschichtlichen Lernen hat man automatisch dieses Denken in Vernetzungsgeschichten. Ich schaue, wo die gemeinsamen Austauschpunkte sind, und ich versuche die Perspektive zu wechseln. Also ich gehe aus meinem nationalen Blick heraus und versuche mich aus meinem Eurozentrismus oder vielleicht sogar Deutschzentrismus herauszulösen und was dann dazu kommt ist, dass in dem Moment, wo ich rassismuskritisch vorgehe, versuche ich, diese Form von Unterricht in Settings durchzuführen, die nicht wieder ethnisieren oder migrantieren. Und zwar weder die historischen Akteure, über die ich spreche, also nicht die Türk*innen damals taten dieses oder jenes. Und indem ich auch meine eigenen Schüler*innen nicht ethnisiere oder migrantisiere und in Identitäten überstülpe. Das ist der Moment, wo Globalgeschichte und rassismuskritisches Lernen besonders gut zusammenkommen können.
Du hast natürlich total recht: Wie kann ich diesen Filter einschalten? Es gehört einfach fundamentaler Weise in die Lehrer*innenausbildung. Also genauso wie es selbstverständlich sein sollte, dass jede*r Lehrer*in, egal ob die Person Geschichte oder Politik unterrichtet, sondern eben auch Mathe einen Kurs Erziehung nach Auschwitz oder nenn‘ es, wie du willst, durchlaufen haben müsste. Weil das ist ja eines der Ziele in unseren Schulverfassung. Also die Menschen zu erziehen, die in der Lage sind, Faschismus und anderen zur Gewaltherrschaft strebenden Diktaturen entgegenzutreten. Das sind Momente, die sind von allen Lehrer*innen gefordert. Das ist nicht etwas, was nur Geschichte und Politiklehrer*innen betrifft. Und genauso denke ich, dass auch jede Lehrkraft sich in ihrem Studium mindestens einmal damit auseinandergesetzt haben müsste, was es bedeutet, Rassismus kritisch zu unterrichten. Das wird teilweise in den Erziehungswissenschaften in Kursen gemacht. Da gab es früher dann eben oft so was wie interkulturelle Pädagogik. Das ist an manchen Universitäten besser, an manchen Universitäten weniger. Gut so. Aber ich glaube, dass es dezidiert auch in die Fachdidaktik gehört. Also dass durchaus auch die Fachdidaktik Geschichte, die Fachdidaktik Politik, aber eben auch die Fachdidaktik der anderen Fächer, Deutsch, Französisch, Mathe wie auch immer, sich mit solchen Dingen auseinandersetzen müssen.
(Musik)
Thy Le (KN:IX): ufuq.de wird auch über Radikalisierungsprävention gefördert. Da müssen wir uns natürlich auch der Frage stellen: Inwiefern würde sich globalhistorisches Lernen auch präventiv auf diese Radikalisierungsprozesse auswirken?
Christina Brüning: Tendenziell hat globalgeschichtliches Lernen natürlich nicht einen direkten Zusammenhang mit Radikalisierungsprävention. Die historische-politische Bildung, auch das vielleicht noch vorausgeschoben, hat auch tendenziell ein Problem mit dem Begriff der Präventionsarbeit, weil es für uns schnell klingt wie ‚also es gibt jetzt Probleme in der Gesellschaft, irgendein neues Neonazi-Terrornetzwerk. Und deswegen brauchen wir jetzt mal wieder ein bisschen mehr politische Bildung. Da gibt es ein großes Förderprogramm‘ und da wird reingebuttert. Oder eben Islamismusprävention. ‚Da geben wir jetzt einen großen Batzen Gelder hin. Bitte kümmert euch darum.‘ Und wenn gerade nicht ein großes gesellschaftliches Problem anliegt, dann wird die historische-politische Bildung auch gerne mal zusammengekürzt zugunsten von mehr Naturwissenschaften oder mehr Wirtschaftsunterricht und das ist natürlich eine Problematik, weil wir sagen, ‚jede historisch-politische Bildung ist eigentlich präventiv wirksam.‘ Aber natürlich eigentlich in diesem fast noch vor der Prävention liegenden Moment, also da, wo sozusagen den Schüler*innen positive Identitätsangebote gemacht werden durch historisches Lernen. Also zu verstehen ‚es gibt das Konzept der Hybridkultur und du kannst dir, ich glaube Christoph Kühberger hat das mal eine Bastelbiografie genannt, du kannst dir selbst deine Biografie zusammenbasteln.‘ Das sind sozusagen die Momente, die ja wirksam werden, damit Schüler*innen, sollten sie solche Diskriminierungserfahrungen durch die Mehrheitsgesellschaft machen, ‚wie du gehörst hier nicht hin, weil du siehst anders aus‘. Dann muss man eben nicht zu irgendjemandem rennen und sagen ‚Ich such mir aber jetzt eine andere Identität, wo ich irgendwie positiver wahrgenommen werde oder wo ich vielleicht willkommen geheißen werde und wo ich irgendwie anders akzeptiert werde als der Mensch, der ich bin.‘ Sondern in dem Moment, wo wir historisch-politisches Lernen, allen Schüler*innen das Gefühl gibt ‚du bist hier richtig, so wie du bist, weil wir sind eine postmigrantische Gesellschaft und jeder Mensch von uns ist hybridkulturell. Auch die in Deutschland in zehnter Generation geborenen Menschen.‘ Dann sind das Momente, die extrem radikalisierungspräventiv wirksam werden können. Ohne dass man automatisch denkt, ‚ich habe jetzt Unterrichtsreihe ABC gemacht und deswegen habe ich jetzt irgendwie messbar weniger Antisemitismus in meinem Klassenzimmer oder messbar weniger Islamismus.‘ In dem Moment, wo man das rassismuskritisch denkt, also die die Verflechtungsgeschichten aufzeigt, guckt, wie sich das auf unsere Gegenwart bis heute auswirkt, schaut, wo da auch Rassismusmomente mitweiterlaufen, wie man die dekonstruieren kann und wie ich sozusagen weder die historischen Akteure damals zu ‚Andere‘ mache, also auf eine gewisse Art und Weise wieder ethnisiere, migrantisiere genauso, aber auch meine Schüler*innen nicht ethnisiere oder migrantisiere, indem ich ihnen irgendwelche Identitätsangebote überstülpe, dann habe ich diesen großen riesengroßen Mehrwert, dass globalgeschichtliches Lernen nicht einfach nur ein neuer Forschungsansatz ist, der jetzt auch mal wieder für zehn Jahre fancy ist und dann verschwindet, sondern der hoffentlich dann in der Klasse bleibt. Eben auch die Ansätze, die wir ja eh schon verfolgen, die früher halt dann ‚Ausländer*innenpädagogik‘ oder ‚interkulturelles Lernen‘ genannt wurden. Er überführt in eine zeitgemäße Variante der rassismuskritischen Bildung.
Thy Le (KN:IX): Okay, also im Grunde, wenn ich da auf die Metaebene schaue, geht es darum, Jugendliche in ihrer Identitätsfindung zu stärken? Und dass das für sich schon radikalpräventiv ist? Und darin siehst du die Rolle globalhistorischen Lernens, dass sie sich als Teil einer gemeinsamen Geschichte auch sehen und verstehen sollen?
Christina Brüning: Wobei diese gemeinsame Geschichte… Ich bin immer so ein bisschen vorsichtig, weil für mich schnell gemeinsame Geschichte, wieder so ein Masternarrativ klingt, und alle müssen da irgendwie mitmachen. Also Michele Barricelli hat mal gesagt, man brauche halt so eine gemeinsame Erzählung, auch als wärmende Decke, unter der sich irgendwie alle wiederfinden können. Ich stelle mir diese Decke immer sehr stark als Patchwork-Decke vor, weil ich das Gefühl habe, dass mich das sehr stark bereichern würde, zu sagen: „Es mag irgendeine gemeinsame Vorstellung von ‚wie wollen wir hier zusammenleben und wie soll diese Gesellschaft funktionieren?‘ gibt.“ Und die beruht auch auf den historischen Erzählungen. Aber ich glaube, dass ganz viele historische Erzählungen da eben zusammenkommen können und dass diese Patchwork-Decke dann besonders schön aussieht, wenn es ganz viele verschiedene Erzählschnipsel gibt, die da zusammen gewebt werden.
Thy Le (KN:IX): Ja, sehr schön. Ja, liebe Christina, es hat mir sehr viel Spaß gemacht zuzuhören.
Christina Brüning: Vielen Dank. Ging mir genauso. Danke!
Thy Le (KN:IX): Ich denke, wir können jetzt alle Einiges daraus mitnehmen und wir hören uns wieder.
(Musik)
Thy Le (KN:IX): Das war also die zweite Folge von KN:IX Talks! Sie finden wie gesagt die wissenschaftliche Analyse von Christina sowie die ausgewählten Materialien für den Unterricht in den Shownotes verlinkt. Und vergessen Sie auch nicht, unseren Podcast zu abonnieren. Falls Sie Fragen, aber auch Anregungen zur heutigen Folge haben: Ich freue mich, wenn Sie mir eine E-Mail an info@kn-ix.de schreiben. Und zuletzt danke ich Ihnen, liebe Zuhörer*innen, für‘s Einschalten. Wir hören uns wieder, wenn Sie mögen, und bis zum nächsten Mal! Diese Folge wurde von ufuq.de im Rahmen von KN:IX umgesetzt.
Moderation: Thy Le,
Technische Umsetzung: Christian Kautz
Inhaltliche Vorbereitung sowie Schnitt und Postproduktion: Dr. Götz Nordbruch, Christian Kautz und Thy Le.
(Abspann Musik)
Charlotte Leikert (Abspann KN:IX talks): Sie hörten eine Folge von KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. KN:IX talks ist eine Produktion von KN:IX, dem Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus. KN:IX ist ein Projekt von Violence Prevention Network, ufuq.de und der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx. Ihnen hat der Podcast gefallen? Dann abonnieren Sie unseren Kanal und schauen Sie auf www.kn-ix.de vorbei. Sie wollen sich direkt bei uns melden? Dann schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an info@kn-ix.de. KN:IX wird durch das Bundesprogramm Demokratie Leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Finanzierung erhalten wir von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Bundesministerium des Inneren, Bau und Heimat, dem Bayrischen Landeskriminalamt, dem Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration in Sachsen-Anhalt, der Landeskommission Berlin gegen Gewalt und im Rahmen des Landesprogramms „Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus“.
(Abspann Musik)