Podcast KN:IX talks
Folge #18 | Psychische Gesundheit im Beratungskontext
In der 18. Folge von KN:IX talks beschäftigen wir uns mit der Frage, welche psychologischen Fachkenntnisse für die Beratungsarbeit mit radikalisierten und radikalisierungsgefährdeten Menschen erforderlich sind und wie Berater*innen dabei unterstützt werden können, mit psychisch auffälligen Klient*innen umzugehen.
Dazu sprechen wir mit Dr. Vera Dittmar und Alexander Gesing, die im vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderten Modellprojekt EVOLUO die Vernetzung von Berater*innen im Themenfeld des islamistischen Extremismus mit den Gesundheits- und Heilberufen unterstützen.
Im Podcast zu Gast
Dr. Vera Dittmar ist wissenschaftliche Leiterin des Beratungsnetzwerks Grenzgänger in Kooperation mit dem Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Zuvor hatte sie eine Juniorprofessur für Soziologie an der Evangelischen Hochschule Bochum inne und war im Beratungsnetzwerk auch als systemische Beraterin tätig.
Alexander Gesing ist als stellvertretende Projektleitung und als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Berater beim Beratungsnetzwerk Grenzgänger tätig. Außerdem ist er Projektleiter des Teilprojekts Beratungsnetzwerk Aufwind. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Teilprojekt-Manager im Projekt „Vaterschaft zwischen Jugendhilfeerfahrung und väterlicher Kompetenz“ im Central European Network on Fatherhood (CENOF) tätig.
Transkript zur Folge
(O-Ton)
Alexander Gesing: Das Schlimmste ist, glaube ich eher ein Nichtstun aus einer selbst wahrgenommenen Handlungsinkompetenz. Ich fühle mich nicht kompetent in diesem Rahmen zu agieren und dann mache ich lieber nichts. Das wäre nach meiner Ansicht der falsche Weg. Sondern sich eben bewusst mit dieser Thematik in einem Fall auseinanderzusetzen und dann auch eine Entscheidung zu treffen. Wie gehe ich in dem Fall um?
Charlotte Leikert (Intro KN:IX talks): Herzlich willkommen zu KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismus-Prävention. Bei Knix talks sprechen wir über das, was die Präventions- und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international beschäftigt. Für alle, die in dem Feld arbeiten oder immer schon mehr dazu erfahren wollten Islamismus, Prävention, Demokratieförderung und politische Bildung – klingt interessant? Dann bleiben Sie jetzt dran und abonnieren Sie unseren Kanal KN:IX talks – Überall da, wo es Podcasts gibt.
Svetla Koynova (KN:IX): Hallo und herzlich willkommen zu KN:IX talks. Mein Name ist Svetla Koynova und gemeinsam mit meinen Kolleginnen Meryem Tinç und Alexandra Korn verantworte ich die Folgen von KN:IX talks, die von Violence Prevention Network produziert werden. In dieser zweiten Staffel von KN:IX talks im Jahr 2023 beleuchten wir das Thema psychologische Herausforderungen und Extremismusprävention. Nachdem die Kolleginnen aus der BAG RelEx mit einer forensischen Psychiaterin gesprochen haben und die Kollegin von Ufuq sich dem Thema Resilienz gewidmet hat., konzentrieren wir uns mal wieder auf die Beratungsarbeit. Das heißt, es geht uns um die individuelle Arbeit mit Klien*tinnen, die im Begriff sind, sich einer extremistischen Ideologie zuzuwenden oder bereits hochgradig radikalisiert sind.
Als Vorbereitung auf den KN:IX-Report führen wir jedes Jahr eine Bedarfsplanung durch. Viele der Menschen, die daran teilnehmen, arbeiten im Beratungskontext. Im Jahr 2022 haben uns 70 % der befragten Berater*innen erzählt, dass psychische Problemlagen im vergangenen Jahr für sie ein Thema im Beratungskontext waren. Fachkräfte der Gesundheits- und Heilberufe wurden allerdings nur selten oder nie hinzugezogen. Das heißt, hier gibt es eine spürbare Diskrepanz. Und eine Mehrheit der Befragten – 62 % – sieht für sich selbst den Weiterbildungsbedarf mit Blick auf die Fähigkeit, in Beratungskontexten mit psychischen Auffälligkeiten umzugehen.
Eine ebenso große Mehrheit sieht diesen Bedarf allerdings auch für die Fachkräfte der Heil- und Gesundheitsberufe mit Hinblick auf die Distanzierungs- und Deradikalisierungsarbeit. Genau mit diesen Themen beschäftigen sich unsere heutigen Gäste Dr. Vera Dittmar und Alexander Gesing vom Modellprojekt Evoluo.
Dr. Dittmar führt die Forschungsstelle Deradikalisierung im Rahmen des Beratungsnetzwerks Grenzgänger mit dem Träger IFAK e.V. in Bochum.
In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit systemischen Ansätzen der Deradikalisierung, vor allem im Bereich des religiös begründeten Extremismus mit islamistischer Ausprägung. Alexander Gesing ist Sozialarbeiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter und er verantwortet mehrere Projekte im Beratungsnetzwerk Grenzgänger. Er ist zudem noch der Projektleiter von Evoluo – Psychologische Fachkenntnisse und Coaching für Beraterinnen im Themenfeld der Deradikalisierung. Evoluo sensibilisiert für psychische Belastungen und Störungen im Kontext der Deradikalisierung. Im Zuge einer Fortbildung wird Wissen über beratungsrelevante psychologische Aspekte von Deradikalisierungsprozessen weitervermittelt. Es geht darum, die Handlungssicherheit im Umgang mit psychisch auffälligen Klient*innen zu stärken. Und die Berater*innen im Themenfeld Deradikalisierung sollen sich mit den Unterstützungssystemen der Gesundheits- und Heilberufe vernetzen.
Musik
Svetla Koynova (KN:IX): Alexander, kannst du uns von dem Projekt Evoluo erzählen und was ihr damit vorhabt?
Alexander Gesing: Ja, gerne. Ich glaube, die Träger VPN und IFAK, die das ja jetzt gemeinsam durchführen, haben wie auch alle anderen Träger und Projekte in diesem Bereich seit langem den Eindruck, dass in Radikalisierungs- und Deradikalisierungsprozessen ganz viele verschiedene Dynamiken mit einwirken und dass die psychologische Komponente eine ganz zentrale ist in diesen Radikalisierung- und die Deradikalisierungsprozessen. Und dass also die Wahrnehmung von uns als Trägern und Projekten ist die, dass auch gerade diese Prozesse in den letzten Jahren noch viel mehr in den Vordergrund getreten sind und viel mehr Aufmerksamkeit bekommen haben. Dass dann aber auch von Seiten der Beratungsstellen dem schon entgegengetreten wurde, in dem sich Beratungsfachkräfte in dem Bereich Stück weit fort oder weitergebildet haben, auch Psychologinnen und Psychologen auch schon in die Beratungsstellen mit eingestellt wurden. Und dass es aber generell ein Thema ist, dass Beratungsstellen eben noch vor große Herausforderungen stellt. Einerseits von fachlicher Seite, weil sich eben viele Beratungsfachkräfte eben mit den psychologischen Themen und den Komponenten, in denen Radikalisierungs- und die Deradikalisierungsprozessen eben noch nicht so gut auskennen und dass darüber auch in und bei den Fachkräften eine gewisse Unsicherheit besteht, wie mit dem Thema umgegangen werden kann. Ganz klar fallbezogen, aber auch über eine Beratungsstelle hinweg. Und dadurch ist im Grunde eigentlich unsere Idee entstanden, ein Fortbildungs-Programm auf die Beine zu stellen, zu konzipieren und dann eben auch durchzuführen. Genau. Ich glaube das ist die Grundidee von Evoluo. Kolleginnen und Kollegen aus den Beratungsstellen, aus der Islamismusprävention in Deutschland, mehr Wissen zu vermitteln über psychologische Themen, die sie dann auch in ihrer praktischen Arbeit anwenden können und darüber eine größere Handlungskompetenz bei den Mitarbeitenden zu erreichen. Und auch eine Handlungssicherheit in Fällen, in denen eben gewahr wird, dass ein psychologisches Thema eine psychologische Fragestellung ergibt.
Svetla Koynova (KN:IX): Was sind denn diese Herausforderungen, von denen die Beratenden berichten? Was sind die relevanten psychologischen Aspekte, auf die man immer wieder trifft?
Alexander Gesing: Also wir haben ganz verschiedene Auffälligkeiten und Störungsbilder, die wir sowohl in der Bedarfsanalyse, die wir letztes Jahr durchgeführt haben, gehört haben, als auch jetzt schon in den ersten drei Modulen, die jetzt dieses Jahr eben schon durchgeführt wurden. Dazu gehören Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen, Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Tick-Störungen, aber auch einiges an Psychosomatik, Atem- und Kreislaufstörungen, Migräne, chronische Schmerzen, Magen-Darm- Erkrankungen. Den Autismus habe ich noch nicht genannt. Ganz viele Symptome, die in der Beratung genannt werden. Denn es ist ja auch klar, dass Beraterinnen und Beratern in der Beratung ganz viel mitgeteilt wird, aber eher in den seltenen Fällen eine ganz klar diagnostizierte Störung, sondern diffuse Symptome irgendwann im Beratungsprozess mal aufkommen, ohne dass sich vielleicht auch schon eine psychologische oder therapeutische Fachkraft damit schon mal beschäftigt hätte.
Svetla Koynova (KN:IX): Lassen sich bezogen auf die Auffälligkeiten, Störungen und Belastungen, die ihr feststellt, auch geschlechtsspezifische Unterschiede feststellen?
Dr. Vera Dittmar: Ja, also es gibt auf alle Fälle geschlechtsspezifische Unterschiede. Denken wir beispielsweise an das Männlichkeitsbild. Es entspricht einfach nicht dem Männlichkeitsbild, Schwäche zu zeigen. Und wenn diese Therapie als Zeichen von Schwäche gedeutet wird, ist es vielleicht undenkbar, an einer Therapie teilzunehmen. Weiblichkeitsbild, Depression werden beispielsweise viel häufiger mit Frauen assoziiert. Auch die Gründe Ursachen von Traumatisierungen können ganz unterschiedlich sein. Bei Frauen beispielsweise werden sexuelle Übergriffe viel häufiger bei Frauen berichtet. Das Ausüben von Gewalt ist selbst auch sehr. Nicht nur Gewalt erleiden, auch Ausüben von Gewalt ist Traumatisierung. Das Ausüben von Gewalt wird wiederum mit Männern assoziiert. Man muss immer sehr vorsichtig mit verschiedenen Annahmen und Vermutungen umgehen. Aber sowohl die Fachforschung als auch was die Beraterin selbst in Beratungsgesprächen berichten, gibt es da ganz starke geschlechtsspezifische Aspekte, die sich auch psychologisch niederschlagen und auch entsprechend aufgegriffen werden müssen.
Svetla Koynova (KN:IX): Wie du das jetzt gerade auch dargestellt hast, sind ja die Fälle und die Klient*innen mit ihren Schicksalen und ihren unterschiedlichen Situationen eben sehr individuell. Wie kann man da im Rahmen einer Fortbildung Beratenden bei dem praktischen Umgang mit psychologischen Herausforderungen überhaupt allgemeingültige Ratschläge geben? Wie geht ihr das an?
Alexander Gesing: Also das stimmt. Allgemeingültige Ratschläge kann man natürlich fallbezogen immer nur bedingt nutzen. Trotzdem sind ja auch die Teilnehmenden unserer Fortbildungen sehr unterschiedlich. Sie unterscheiden sich selber in ihrer eigenen Biografie, in der Ausbildung, in den Weiterbildungen, in den berufsbiografischen Erfahrungen, auch zu psychologischen Aspekten oder psychischen Erkrankungen. Die Frage, die du gestellt, das haben wir uns auch im Team schon ausführlich vor Augen geführt und diskutiert. Wir haben ja bei Grenzgänger und bei VPN wirklich auch langjährige Erfahrung in der Fallarbeit und sind da auch noch mal zurückgegangen auf die Bedarfsanalyse und auf unsere eigenen Erfahrungen, um das im Konglomerat und auch mit der Forschung noch zusammen diskutiert, die ja noch mal Aspekte aus den bisherigen Veröffentlichungen in dem Themenfeld bieten konnte. Und sind dann eben auf den Punkt gekommen, nicht nur eine Fortbildung anbieten zu können, die dann ja eher allgemeines Wissen, allgemeine Handlungskompetenz vermitteln kann, sondern dass wir eben auch dann eine kollegiale Fachberatung zwischen den Fortbildungsmodulen jeweils anbieten, um zum einen den Kolleginnen und Kollegen wirklich auch Einzelfall-unterstützende Hilfen zu bieten von Seiten der Teilnehmenden, aber eben auch von Seiten der Psychologinnen und Psychologen hier über Grenzgänger, die dann eben auch an den kollegialen Fallberatungen mit teilnehmen. Und das ist auch ein Ziel der kollegialen Fallberatung, dass es nicht nur Fall-unterstützende Hilfen für eine Kollegin aus dem Teilnehmendenkreis gibt, sondern dass auch wir versuchen, in den kollegialen Fallberatungen das eher allgemeine Wissen aus den Fortbildungen in den Einzelfall zu übertragen. Und da so eine Verknüpfung zwischen dem allgemeinen Part mit dem ganz konkreten Fall zu versuchen. Und darüber hinaus haben wir uns eben überlegt, wollen wir auch den Teilnehmenden und auch allen Kolleginnen und Kollegen aus den Beratungsstellen im Bereich Islamismus das Angebot schaffen, auch genau diese fall unterstützende Hilfe außerhalb der Fortbildungen und außerhalb der kollegialen Fachberatung noch zu nutzen, indem wir Ihnen ein Coaching-Angebot anbieten über unsere psychologischen Fachkräfte, die eben auch wirklich jetzt schon langjährige Erfahrung in dem Themenfeld haben, ohne dass wir tatsächlich einen Fall übernehmen, sondern der Fall bleibt jeweils bei der Beratungsstelle, die den Fall berät und wir sind eher im Hintergrund und können dann noch mal spezifisch auf die psychologischen Fragestellungen eingehen. Das kann ganz konkret zum Fall sein, zu Dingen, die in der Beratung geäußert werden, das können aber auch Fragen sein, zum Beispiel zu einer Therapieplatz suche zum Eingang ins Gesundheitssystem.
Dr. Vera Dittmar: Ich wollte zu dem, was Alexander gesagt hat, glaube ich vielleicht noch einen kleinen Punkt ergänzen, dass dieses Coaching sich auf Aspekte mit den Klienten bezieht, aber ganz klar auch in Richtung Berater*innen gerichtet ist, also Aspekte der Selbstfürsorge, wenn beispielsweise ganz schwierige Fälle sind. Also wir haben auch Suizid, beispielsweise als Thema “Wie gehe ich damit um, wenn ein Klient Suizidgedanken äußert”, also wie kann ich die psychologisch, also selbst als Berater stabilisieren, aber auch was macht das mit mir als Berater, wie kriege ich die Unterstützung ich als Berater brauche. Und natürlich auch für Beratungssituationen selbst. Wie sind da gute Vorgehensweisen und Strategien? Wie kann ich praktisch als Berater etwas unterstützen, was vielleicht ein psychologisches Thema ist? Aber wie kann ich als Berater pädagogisch trotzdem emotional stabilisierend wirken? Vielleicht das noch als kleine Ergänzung.
Musik
Svetla Koynova (KN:IX): Auch in der jüngsten Bedarfs Abfrage konnten wir feststellen, dass Fachkräfte der Gesundheits- und Heilberufe eher selten in die Fallarbeit einbezogen werden. Teilt ihr diese Einschätzung? Wenn es so ist, wirft die Frage auf, wann sich im Rahmen einer Beratung psychotherapeutische Bedarfe abzeichnen und woran dann eventuell die Einbeziehung entsprechende fachliche Unterstützung auch scheitert.
Dr. Vera Dittmar: Ja, die Aussage bei KN:IXbezieht sich ja vor allem auf externe Fachkräfte der Gesundheits- und Heilberufe. Ich denke, es ist sehr wichtig zwischen externen und internen Fachkräften unterscheiden, denn mit internen Fachkräften meine ich jetzt beispielsweise ausgebildete Trauma-Therapeuten, die innerhalb der zivilgesellschaftlichen Beratungsorganisationen arbeiten. Übrigens auch ganz oft bei staatlichen Organisationen, also Fachkräfte, die innerhalb der zivilgesellschaftlichen Beratungsorganisationen arbeiten. Und der Vorteil ist, sie kennen sich dann beispielsweise nicht nur mit Traumatherapie aus, sondern haben auch ein umfangreiches Fachwissen zu Radikalisierungsprozessen und vor allem auch zu Deradikalisierungsprozessen. Und das ist ein echter Vorteil, den man immer wieder sieht. Und hier zeigt auch die Praxis bundesweit, dass bei ganz vielen Trägern diese internen Fachkräfte arbeiten und dass es hier eine sehr gute und sehr enge Zusammenarbeit gibt zwischen Beraterinnen im Phänomenbereich Islamismus, die dann diese pädagogischen Bedarfe abdecken und enge Zusammenarbeit mit den Trauma-Therapeutinnen oder Therapeuten, die dann die psychologischen Bedarfe abdecken. Und das zeigen jetzt auch unsere Forschungen. Hier tatsächlich, dass die Einbeziehung von externer fachlicher Unterstützung sehr schwierig ist. Also das ist nicht unmöglich. Es gibt auch Fälle, wo externe Psychotherapeuten schon einbezogen werden, und zwar auch sehr erfolgreich einbezogen werden. Aber generell ist das insgesamt schon sehr schwierig. Und genau zu diesen Themen haben wir zwei Interviews geführt, und zwar Gruppeninterviews, sogenannte Gruppendiskussionen mit zwei Gruppen von Therapeutinnen und mit vier Gruppen von Beraterinnen genau zu diesem Thema. Und die Analyse zeigt, dass die Schwierigkeiten bei mindestens drei Aspekten zu finden sind, und zwar erstens mit Hemmnissen und Ablehnungsgründen bei den Klientinnen selbst. Zweitens mit Beschwerden seitens der Therapeutinnen. Und drittens hat es etwas zu tun mit den Strukturen und der aktuellen Versorgungssituation in Deutschland. Ich beginne mit der Ablehnungsgründen bei den Klientinnen. Die sind sehr zahlreich und vielfältig. Ein Hemmnis kann sein, knappe Ressourcen, sowohl zeitliche als auch finanzielle als auch ich sage mal in Anführungsstrichen Energieressourcen. Denn besonders bei Multi-Problemlagen berichten die Beraterin vom Phänomen der Überforderung. Und dann gibt es ganz oft drängendere Bedürfnisse, die zunächst überhaupt bearbeitet werden müssen, bevor überhaupt das psychologische Thema angepackt werden kann. Ein weiteres Hemmnis können Scham und Schuld sein, also Scham, wenn die Therapie als Eingeständnis von Schwäche oder Krankheit gesehen wird oder auch als Hürde, noch jemanden in sich hinein blicken zu lassen. Oder dass es vielleicht als eine Form von Schuldeingeständnis gesehen werden könnte, wenn ich jetzt auch noch eine Therapie mache. Aber es kann auch mit dem Männlichkeitsbild zu tun haben und hoffentlich in dem Fall zunächst undenkbar, weil vielleicht ein Berater genau an dieser Stelle auch mit den Klienten arbeiten kann. Ja, viele weitere Ablehnungsgründe finden sich im Spektrum der Angst. Angst vor Kontrollverlust, Angst vor Manipulation oder Informationsbeschaffung. Also ganz klar diese Schweigepflicht. Ist die wirklich sicher gerade in Sicherheitsbehörden involved sind. Das wird angezweifelt. Dieser Stellenwert der Schweigepflicht ist ein großes Thema. Angst, sich der Vergangenheit zu stellen, Angst vor Verurteilung, Angst vor Diskriminierung, Angst vor dem therapeutischen Prozess an sich. Soweit zum Thema Angst. Ein kleiner Einblick. Aber es gibt auch ganz andere Gründe, zum Beispiel aus kulturellen, interkulturellen, religiösen oder auch milieuspezifischen Gründen. Dazu gehört beispielsweise Misstrauen, Institutionen oder eben die Schweigepflicht an sich. Oder die Ansicht, dass die Therapie ein westliches Verständnis ist und dass Therapie als Teil dieses Systems gesehen wird, das ideologiebedingt abgelehnt wird oder dass psychische Erkrankungen an sich sehr stark tabuisiert sind. Das vielleicht auch gedacht wird, dass es innerhalb der Richtung ganz anderer Ansprechpartner gibt, vielleicht Imame, die als viel kompetenter wahrgenommen werden. Oder aber auch, dass eine Abweichung, ein Problem, eine Schwierigkeit gottgewollt ist. Dass es Schicksal ist, das einfach ertragen werden muss und eben nicht verändert werden sollte oder eben doch verändert werden sollte. Aber dann durch Beten eben und nicht durch eine Therapie. Oder vielleicht auch, dass eine medikamentöse Behandlung bevorzugt wird. Sprich warum sollte ich mit jemandem sprechen und über schwierige Themen nicht auseinandersetzen, wenn doch vielleicht ein paar Tabletten auch einfach ausreichen. Und jetzt als ganz letzten Punkt der Klienten-spezifischen Seite? Es kann sein, dass Klienten Schwierigkeiten mit der Person des Therapeuten oder der Therapeutin an sich haben. Also Sie wünschen sich oder sie brauchen, kann man sagen, eine Therapeutin, die ihre Muttersprache spricht, und das ist vielleicht sehr, sehr schwierig. Oder Sie wünschen sich dezidiert einen Mann oder eine Frau. Sprich das Geschlecht des Therapeuten ist relevant, insbesondere, da die Ideologie in diesem Kontext sehr spezifische Frauen- und Männerrollen vorschreibt und propagiert. Es können aber auch Wünsche zum kulturellen und religiösen Hintergrund an einen Therapeuten oder eine Therapeutin gestellt werden, die vielleicht nicht erfüllbar sind. Sprich ich wünsche mir einen männlichen muslimischen Therapeuten, weil der wird mich am besten verstehen und vielleicht ist er aber gar nicht greifbar.
Svetla Koynova (KN:IX): Was gibt es denn vielleicht auch für strukturelle Gründe dafür, dass therapeutisch Angebote nicht immer wahrgenommen werden oder psychotherapeutische Ansätze nicht immer Eingang finden in die Beratungsarbeit?
Dr. Vera Dittmar: Ja, das ist auch ein ganz wichtiger Punkt, der von unseren Beraterinnen und auch von den Therapeuten selbst angesprochen würde. Denn man muss es an dieser Stelle noch mal sagen zur aktuellen Versorgungssituation in Deutschland: Es gibt schlicht und einfach zu wenige Therapieangebote, und zwar für alle Patienten in Deutschland. Das gilt nicht nur, aber insbesondere für Menschen in Haftanstalten. Und selbst wenn ein Therapie-Angebot gemacht wird, dann muss häufig sehr lange darauf gewartet werden. Etwas schneller kann es aber auch nur unter Umständen nicht generell. Unter Umständen kann das Angebot einer Kurzzeit-Therapie erfolgen, die jedoch nur zwölf Sitzungen umfasst und die dann häufig auch nicht ausreichend sind. Therapeutinnen selbst haben ganz häufig viele Patienten, sodass zeitliche Ressourcen auch für die Vernetzung fehlen und damit auch für den individuellen Austausch rund um den eigenen Patienten und Fall.
Alexander Gesing: Ich würde noch einen kleinen Absatz ergänzen: Du hast ja schon viel zu der Versorgungslage gesagt, ich würde noch mal den Fokus auf die Versorgungslage für psychotherapeutische Angebote mit einem mehrsprachigen Fokus setzen. Dadurch, dass wir jetzt hier bei Grenzgänger eben auch ein Projekt haben, dass sich viel mit Menschen mit Migrationskontext und mit Geflüchteten beschäftigt und wir da eben auch die schwierige Versorgungslage sehen. Auch in dem Kontext ist es eine sehr große Herausforderung, psychologische bis psychotherapeutische Hilfe zu bekommen, wenn Personen eben keine Deutsch-Muttersprachler sind und beispielsweise psychotherapeutische Angebote in Arabisch, Kurdisch, Russisch etc. benötigen. Das ist eine Riesenherausforderung, die wir hier sehen und bin mir sicher, dass das in anderen Bundesländern nicht anders ist. Darüber hinaus ist es, glaube ich, auch unser Fokus, wenn der Bedarf vorhanden ist, seitens der Klientinnen auch geäußert wird und der Wunsch eben auch besteht, eine Therapie zu bekommen und einzugehen. Dass wir dann eben auch unterstützend als Team da helfen und das auch mit mit unterschiedlichen Kooperationspartnern. Was wir dann als Beratungsstelle maximal leisten können, ist eine Art Übergangshilfe, die dann versuchen kann, die Klienten zu stabilisieren, ein Stück weit über verschiedene Möglichkeiten. Aber schlussendlich ist es dann auch in einigen Fällen dann einfach ein Abwarten, bis dann tatsächlich eine Therapie auch möglich ist. Und das ist eigentlich auch, das muss man jetzt auch ganz deutlich sagen, für die Fälle auch sehr zermürbend, wenn wirklich da auch eine Problematik besteht und die Personen in der Beratung schon so weit sind, dass sie eine Therapie annehmen möchten. Und das ist ja erst mal schon auch ein Gewinn für den Fall, dass ihnen dann eben seitens des Versorgungssystem Angebot nicht gemacht wird.
Dr. Vera Dittmar: Da kommt es auch sehr auf die Form der Störung an, das sollte man vielleicht noch mal ergänzen. Also Traumatisierung ist etwas, von dem die Beraterinnen sehr häufig berichten, was sie aber auch von den Therapeuten selbst hören. Und gerade traumatherapeutischer Aspekte können auch die internen Fachkräfte, die dafür ausgebildet sind, sehr gut auffangen. Aber andere Aspekte wie beispielsweise Autismus, da ist eher das externe Versorgungssystem gefragt. Also je nach psychologischer Auffälligkeit, Störung oder Belastung kann sehr viel auch von internen Fachkräften gut aufgefangen werden und bearbeitet werden und manche Sachen eben nicht. Und genau dafür braucht man das Versorgungssystem.
Svetla Koynova (KN:IX): Bei so vielen Schwierigkeiten und so vielen Herausforderungen, was kann man denn den Behörden denn raten, wie sie damit umgehen können und wie sie trotzdem für diese Möglichkeiten auch werben können?
Dr. Vera Dittmar: Ja, ich denke, das ist eine ganz spannende Frage. Das wurde ganz viel Lösungsmöglichkeiten genannt, von der Beraterin selbst, aber auch von den Therapeuten. Ich fange mal mit einem kleinen Ausschnitt an, also es wurde erst mal gesagt: Was ist überhaupt eine Therapie? Wie kann man sich damit auseinandersetzen, wann öfters die Klienten selbst gar keine Vorstellung davon haben, was überhaupt eine Therapie bedeutet? Also was bedeutet es, eine Therapie zu machen? Wie verläuft eine Therapie? Welche Vorteile hat die Schweigepflicht? Helfen können auch positive Erfahrungsberichte mit Therapien, wo das einfach Klienten auch weitergeholfen hat. Es kann aber auch dazu gehören, über schlechte Erfahrungen zu sprechen, die die Klienten entweder selbst gemacht haben oder von denen sie gehört haben. Und das noch mal genauer anzuschauen. Was war denn daran schlecht? Warum hat es in diesen Einzelfällen nicht funktioniert und warum wird es ein anderes Mal funktionieren? Was auch helfen kann, ist, mit den Klienten selbst Zielvorstellungen zu entwickeln. Was ist in einer Therapie Positives erreichbar und wo sind einfach auch die Grenzen der Beratung? Was aber ein Therapeut sehr gut bearbeiten kann. Ja, eine weitere Möglichkeit aus Sicht kann Richtung praktische Hilfe bestehen. Dazu kann gehören, den Klienten zum ersten Therapietermin zu begleiten, um das erste Kennenlernen zu erleichtern oder auch Hilfestellung zu geben bei der Suche nach einem Therapieplatz und dann möglichst genau die Passung mit den Wünschen des Klienten, die Sicht des Therapeuten möglichst zu ermöglichen. Interessant ist, dass Beraterinnen auch bestimmte Methoden haben, die helfen können, einen Klienten zur Therapie zu überzeugen. Dazu gehört unter anderen, ein Perspektivenwechsel beim Klienten anzulegen. Dafür kann man beispielsweise zirkuläre Fragen nutzen. Das kennen jetzt alle systemischen Beraterinnen. Also eine zirkuläre Frage wäre: “Wie würde es denn deine Mama finden, wenn vielleicht deine Wutausbrüche gegenüber deiner Schwester weniger würden? Wie würde sich das für sie anfühlen?” Andere Methoden sind motivierende und ressourcenorientierte Gesprächsführung. Sie kann helfen, die Bedarfe des Klienten aufzudecken und dann aufzuarbeiten, welche Bedarf in einer Beratung, welche in der Therapie bearbeitbar wären und was auch helfen kann es eine ganz individuelle Kosten-Nutzen-Rechnung für den Klienten. Wenn man mit den Klienten zunächst ganz offen alle möglichen Kosten auf den Tisch legt, seien es Ängste, Scham, zeitliche Ressourcen und sie dann mit dem möglichen Nutzen abgleicht, vielleicht in anderen in bestimmten Situationen ganz anders reagieren zu können, dann wird für den Klienten vielleicht erst der Nutzen einer Therapie deutlich. Und eine Lösung kann auch darin bestehen, dass der Berater auf sich selbst bezogen arbeitet, beispielsweise indem er anonym einen Fall bespricht, um fallindividuelle Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Der Berater oder die Beraterin könnte sich Unterstützung holen in Form einer Supervision oder durch kollegiale Beratung, um neue Ansatzpunkte zu finden, die einen Klienten ermutigen, den Schritt Richtung Therapie zu wagen oder vielleicht auch akzeptieren helfen. Warum ein Klient trotz aller Bemühungen nicht den Schritt zur Therapie wagt. Denn die Therapeuten – und das ist ganz spannend – die Therapeuten selbst betonen immer wieder die Selbstbestimmung des Klienten und damit auch die Freiheit zu entscheiden: Mache ich den Schritt zu einer Therapie oder mache ich die nicht? Aber selbst wenn auf Seiten des Klienten gar keine Hemmnisse vorhanden sind, kann es auf Seiten der Therapeuten Hindernisse geben. Das sind jetzt glücklicherweise deutlich weniger. Aber ebenso wichtig. Therapeuten können auch Patienten ablehnen wegen der Begleitumstände unter anderem, dass Sicherheitsbehörden involviert sind oder auch aufgrund eines eigenen fehlenden Sicherheitsgefühl bei genau dieser Patientengruppe. Zudem kann es generell Vorbehalte geben oder auch Berührungsängste vor dem unbekannten Thema und der Patientensituation. Oder schlicht und einfach wegen der Sprachkenntnisse bei den Sprachkenntnissen, fehlende Sprachkenntnisse oder auch Schwierigkeiten mit Dolmetschern. Denn es kann sein, dass sie bei bestimmten sensiblen Themen sich einfach weigern zu übersetzen. Das hören wir immer wieder, dass dann ein Dolmetscher bei beispielsweise sexuelle Thematiken: “Ich übersetze das einfach, übersetze es einfach nicht. Ich kann es nicht in Worte fassen, ohne dass sie zutiefst beleidigend werden.” Und dann ist das für die Therapeuten aber schwierig, wenn sie genau diese Richtung etwas vermuten.
Svetla Koynova (KN:IX): Habt ihr denn das Gefühl, dass Beratende auch immer selbst sich sozusagen dafür bereit sind, sich dafür einzusetzen? Und besteht dann nicht manchmal auch ein Konkurrenzgefühl gegenüber vielleicht externen Therapierenden, die dann ja auch eine Vertrauensbeziehung zu dem Klienten oder der Klientin aufbauen würden?
Dr. Vera Dittmar: Ich glaube, ich würde die Frage so beantworten, das ist einfach sehr wichtig ist, dass eine gutes Zusammenspiel zwischen einerseits pädagogischen beraterischen Aspekten und andererseits zu psychologischen Aspekten gefunden wird und nach der Beobachtung, was für eine Gruppendiskussion hören, was ich aber auch in den letzten Jahren beobachte: Es ist einfach so, dass wenn die Psychologen vor Ort intern arbeiten, ist dieses Zusammenspiel leichter zu erreichen. Also obwohl der Therapeut traumatherapeutisch arbeitet und selbstverständlich keine sensible Information weitergibt, weiß der Therapeut vielleicht, an welcher Stelle der Berater pädagogisch arbeitet und es ist viel einfacher, verschiedene Themengebiete abzudecken. Ich kümmere mich jetzt ums Trauma und du kümmerst dich um die Wohnung. Und dazu muss man auch gucken, dass die zeitlichen Ressourcen sehr unterschiedlich sind. Also während Trauma-Therapeuten innerhalb von zivilgesellschaftlichen Beratungsstellen relativ frei über ihre Zeit entscheiden können und auch überlegen können, wie das traumatherapeutische Angebot, das am meisten Sinn ergibt. Stellen wir fest, dass bei der externen Versorgung durch die Gesundheits und Heilberufe einfach der Fall ist, dass da sehr viele Patienten sehr eng getaktet sind. Und wenn dann ein hochdramatisches Ereignis ist, dann ist es trotzdem so, dass der nächste Patient schon vor der Tür steht und dass da einfach auch Restriktionen sind und es tatsächlich daher Sinn macht, auch gut zu schauen, was ist gerade die psychologische Belastung, die psychologische Störung und wo ist es sinnvoll, mit den internen Fachkräften zusammenzuarbeiten und wo ist es sinnvoll, an das externe Gesundheitssystem, kann ja auch eine psychologische Einrichtung sein, dass da Kontakte da sind? Ja.
Alexander Gesing: Ergänzend dazu: Ich habe eine sehr hohe Meinung von meinen Kolleginnen und Kollegen in den Beratungsstellen und glaube, dass die eher keine Konkurrenzgefühle Richtungen der Kooperation mit den Gesundheits- und Heilberufen haben. Was wir festgestellt haben und auch sehr Bedarfsanalyse gehört haben, ist, dass es eher eine ein Unwissen oder eine Unsicherheit im Umgang mit den Gesundheits- und Heilberufen ist. Und die wollen wir ja gerade auch mit der Fortbildung im Coaching und den kollegialen Fachberatungen ein Stück weit auflösen. Und zum anderen glaube ich, dass unsere Kolleginnen und Kollegen in den anderen Beratungsstellen auch relativ gut über ihre eigenen Grenzen Bescheid wissen und auch wissen, dass bestimmte Thematiken in unserer Beratung eben nicht ausreichend gut professionell angesprochen und bearbeitet werden können. Und das muss man ja vielleicht auch mal sagen: Wird tatsächlich eine berufliche Therapie in Anspruch genommen, dann haben Klienten ja auch tatsächlich den Vorteil, dass sie da mit einer Person sprechen können, die ein solches Zeugnisverweigerungsrecht hat. Das haben wir eben als Beraterinnen und Berater in den Beratungsstellen nicht. Also es bietet ja tatsächlich auch einen Vorteil, den ich als Berater, meinem Klienten, meiner Klientin ja dann noch mal an die Hand geben kann. Ich glaube, das was das Schlimmste und das habe ich, glaube ich, in meinem letzten Satz gerade vergessen. Das Schlimmste ist, glaube ich, eher ein Nichtstun aus einer selbst wahrgenommenen Handlungsinkompetenz. Ich fühle mich nicht kompetent in diesem Rahmen zu agieren und dann mache ich lieber nichts. Das wäre nach meiner Ansicht der falsche Weg. Sondern sich eben bewusst mit dieser Thematik in einem Fall auseinanderzusetzen und dann auch eine Entscheidung zu treffen. Wie gehe ich in dem Fall, um zum Beispiel eben die eigenen Grenzen festzustellen und dann den Schritt zu tun, gemeinsam mit den Klienten natürlich immer. Das muss immer gemeinsam mit den Klienten passieren. Nach außen zu gehen, vielleicht eine Therapie zu suchen oder zu sagen: Aus meiner professionellen Haltung heraus, merke ich gerade, ich kann das Thema erst mal in der Beratung behalten und erstmal mit Klienten darüber sprechen. Und wir können irgendwann auch noch mal zu einer anderen Lösung kommen. Aber das sind eben ganz unterschiedliche Wege. Wichtig ist es eben, dass die Beratenden das Aufgreifen, das Thema und es bewusst in der Beratung eben auch damit umgehen.
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Svetla Koynova (KN:IX): Vielleicht könnt ihr auch was sagen zu dem Rahmen, in dem die Beratungsangebote stattfinden.
Alexander Gesing: Ja, die Kontexte, in denen Symptome aufgezeigt werden, Auffälligkeiten in dem Beratungsprozess ein Thema werden oder auch tatsächlich diagnostizierte Störungen schon genannt werden, sind sehr vielfältig und wahrscheinlich so vielfältig wie die Beratungskontexte, in denen eine Beratung überhaupt stattfindet. Also wir haben natürlich klassische Angehörigen Beratung, ohne dass die primär betroffene Person überhaupt beraten wird. Wir haben die Ausstiegsbegleitung mit der tatsächlich radikalisierten Person. Wir haben da natürlich ganz unterschiedliche Settings, vom Kontext bis hin zu einer ganz freiwilligen Ausstiegsbegleitung. Und so vielfältig sind eben dann auch die Aussagen. Kann sein, dass wir in einem Haftkontext eben tatsächlich auch schon vielleicht sogar eine professionelle psychotherapeutische Begleitung schon haben und dann eher die sozialpädagogische, sozialarbeiterische oder islamwissenschaftliche Komponente in der Beratung dann wichtiger wird. Und trotzdem ist das natürlich etwas, was wir im Beratungsprozess dann Berater mitbekommen und dann eben entscheiden müssen: Wie gehen wir gemeinsam mit beratenden Personen mit dieser Thematik um? Gleichzeitig haben wir aber auch in der Angehörigenberatung, beispielsweise Symptome, die uns genannt werden über die Person, um die es geht, die aber häufig dann auch noch nicht ärztlich oder psychotherapeutisch abgeklärt wurden, die natürlich auch über Dritte kommen, wo man auch immer als Berater schauen muss: Erstens wie gehe ich mit diesen genannten Symptomen um? Zweitens hat vielleicht auch die Person, die mir die Symptome nennt, selber ein Interesse daran, auch bestimmte Symptome zu nennen und auch vielleicht eine Person in ein bestimmtes Licht zu rücken. Und wir müssen ja auch sagen, Diagnosen sind auch nicht immer eindeutig. Selbst wenn sie festgestellt wurde und wir das schwarz auf weiß haben, ist auch eine psychische Erkrankung immer prozesshaft zu sehen und ist eben nicht immer gleich. Es können herausfordernde Phasen sein, es können Phasen sein, in denen die psychische Erkrankung gar nicht im Vordergrund steht. Und so vielfältig ist das Thema, gestaltet sich das Thema eben auch in der Beratung. Und so vielfältig muss dann auch der Umgang seitens der beratenden Person damit sein.
Svetla Koynova (KN:IX): Da ja auch so viel Forschung gemacht habe im Zuge dieses Projekts habt ihr ja auch wahnsinnig vertiefte Kenntnisse, von denen wir jetzt heute schon profitieren konnten. Was gibt es da für Publikationen, Forschungserkenntnisse, Ratgeber, die entweder selbst herausgebt oder die ihr aufgrund eurer Erfahrungen unseren Hörer*innen empfehlen würdet?
Dr. Vera Dittmar: Ja, ich denke, es sind mindestens zwei Sachen, die wir gerne empfehlen würden. Dazu gehört natürlich der KN:IX -Artikel zur Therapieablehnung und Klient*innen-Selbstbestimmung. Da wären die Sachen, die wir heute besprochen haben, noch mal vertieft dargestellt werden. Und wir empfehlen natürlich selbstverständlich auch Therapeut*innen, wenn die sich fragen, was Berater machen oder auch Beraterinnen, die sich überlegen, was sie machen können. Das Buch Systemische Beratung in der Extremismusprävention, die Theorie, Praxis und Methoden. Und da gibt es übrigens auch gleich drei psychologische Gastbeiträge drin, die sich mit beispielsweise Traumatherapie und mit dem Gebiet der Deradikalisierung auseinandersetzen. Auch ganz spannend zu lesen, aber das würde uns sehr freuen, wenn ihr da auch reinblättern möchtet.
Alexander Gesing: Wenn es um die Vernetzung von Beraterinnen und Beratern mit den Unterstützungssystem der Gesundheits- und Heilberufe geht, dann ist das auch ein Thema unserer Fortbildung. Das werden wir im letzten Modul behandeln im November, wo wir versuchen, mit den Teilnehmenden gemeinsam noch mal über Möglichkeiten einer Vernetzung zu sprechen. Sowohl Einzelfall-bezogen als auch im Kontext erst mal der Beratungsstelle, die sich über psychologische psychotherapeutische Angebote im Wirkungskreis informiert. Da werden wir auch verschiedene Kolleginnen und Kollegen aus externen Projekten noch mit einladen und gleichzeitig aber auch von methodischer Seite schauen und die Teilnehmenden da auch selber noch etwas arbeiten lassen, so dass zumindest die Teilnehmenden an der Stelle sich auch schon viel mit dem Gedanken auseinandergesetzt haben, sowohl inhaltlich als auch methodisch. Gleichzeitig kann ich nur dafür plädieren, dass man sich natürlich die Publikationen, die wahrscheinlich aus unserem Projekt noch entstehen werden, dieses Jahr, nächstes Jahr sich also besonders gut zu Gemüte führt und gleichzeitig natürlich auch auf weitere Publikationen, die natürlich aus dem KN:IX heraus entstehen, aus der BAG RelEx entstehen, aus dem Radicalisation Awareness Network entstehen, wo es ja auch schon einen Fundus an Literatur und Paper gibt, die sich auch mit dem Thema Psychologie und Distanzierungsarbeit beschäftigen. Gleichzeitig ist es auch die Werbung für die weitere psychologisch orientierten Projekte in unserem Netzwerk, die auch als Modellprojekte durch die Beratungsstelle Radikalisierung gefördert werden, wie das HIQ V Projekt aus Ulm oder das Projekt Nexus BUND aus Berlin. Und nicht zuletzt kann ich natürlich auch nur dafür werben, dass sich alle Kolleginnen und Kollegen aus den Beratungsangeboten im Bereich Islamismus ihr Interesse für die Teilnahme an einer Evoluo – Fortbildung im kommenden Jahr bekunden, die sofern es dann auch durch die Beratungsstelle Radikalisierung wieder bewilligt wird. Das ist natürlich die Voraussetzung, dann auch im nächsten Jahr wieder stattfinden soll. Wir versuchen jetzt in den kommenden Wochen ein Interessenbekundungsverfahren schon für das nächste Jahr zu starten, wo sich dann auch Interessierte melden können, die sich dann auch für eine Fortbildung im kommenden Jahr anmelden wollen. Wir werden es im kommenden Jahr voraussichtlich ganz ähnlich machen wie in diesem Jahr. Natürlich vieles auch auf Basis der Evaluation und unserer eigenen Erfahrungen jetzt auch überarbeiten, auch noch mal etwas Neues hinzufügen und unsere Angebote, glaube ich, auch noch mal ein Stück weit erweitern. Da darf auf jeden Fall sehr gespannt drauf geblickt werden, was aus diesem Projekt als Anlass noch im nächsten Jahr passiert.
Svetla Koynova (KN:IX): Danke auf jeden Fall für eure Zeit und für eure Expertise. Und wir freuen uns auf eure Ergebnisse und viel Erfolg noch beim Projekt.
(Outro KN:IX talks)
Charlotte Leikert (KN:IX) : Sie hörten eine Folge von KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. KN:IX talks ist eine Produktion von KN:IX, dem Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus. KN:IX ist ein Projekt von Violence Prevention Network, ufuq.de und der Bundesarbeitsgemeinschaft Religiös-begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx. Ihnen hat der Podcast gefallen? Dann abonnieren Sie uns und bewerten KN:IX talks auf der Plattform Ihres Vertrauens. Wenn Sie mehr zu KN:IX erfahren wollen, schauen Sie doch auf unserer Webseite www.kn-ix.de vorbei. Und wenn Sie sich direkt bei uns melden wollen, dann können sie das natürlich auch machen mit einer Email an info[at] kn-ix.de. Wir freuen uns über Ihre Anmerkungen und Gedanken.
Übrigens: aktuell läuft eine Umfrage, über die Sie uns Ihre Gedanken und Anregungen zum Podcast schreiben können. Das Ganze dauert nur ein paar Minuten und hilft uns wirklich sehr, den Podcast weiter zu verbessern! Den Link und alle Infos finden Sie in den Shownotes.
KN:IX wird durch das Bundesprogramm Demokratie Leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Finanzierung erhalten wir von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration in Sachsen-Anhalt, der Landeskommission Berlin gegen Gewalt und im Rahmen des Landesprogramms „Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus“.
Die Inhalte der Podcast Folgen stellen keine Meinungsäußerungen der Fördermittelgeber dar. Für die inhaltliche Ausgestaltung der Folge trägt der entsprechende Träger das Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus die Verantwortung.
(Abspann Musik)
Weiterführende Links
Das Projekt Evoluo
Sie können Ihr Interesse für die Evoluo-Fortbildung hier anmelden:
Handreichung für Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen:
Radikalisierungsprozesse wahrnehmen, einschätzen, handeln, https://www.uniklinik-ulm.de/fileadmin/default/Kliniken/Kinder-Jugendpsychiatrie/Dokumente/Handlungsempfehlung_Radikalisierungsprozesse.pdf
Beratungsstelle Nexus
Coming soon… im Rahmen der KN:IX Publikationen, Analyse Nr. 11 und KN:IX Report 2023
https://kn-ix.de/publikationen/
Publikationen der Bundesarbeitsgemeinschaft Religiös-Begründeter Extremismus
www.bag-relex.de/angebot/publikationen/
Radicalisation Awareness Network (RAN) Spotlight on Mental Health
https://home-affairs.ec.europa.eu/news/spotlight-mental-health-2023-09-18_en
RAN Mental Health Meeting Call for participants, 23-24 Oktober 2023
Praxishandbuch zur systemischen Beratungsarbeit in der Extremismusprävention
https://ifak-bochum.de/neues-praxishandbuch-zur-systemischen-beratung-in-der-extremismuspraevention/