Podcast KN:IX talks

Folge #22 | Der Nahostkonflikt als Katalysator für Islamismus?

Wie Hamas, IS und Al-Qaida den Nahostkonflikt instrumentalisieren und wo sie sich widersprechen.

Wie haben islamistische Gruppen auf den Anschlag am 07. Oktober 2023 reagiert, welche Rolle spielt der israelisch-palästinensische Konflikt in ihrer Ideologie und wie instrumentalisieren sie das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung? Darüber sprechen wir mit Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King’s College. Außerdem berichtet Kaan Orhon vom Verein Grüner Vogel e. V., wie die Prävention in Deutschland darauf reagieren kann.

Seit dem 07. Oktober 2023 stehen islamistische Gruppen wieder stärker im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Der Anschlag der Hamas auf Israel hat sowohl international als auch in Deutschland Auswirkungen auf das Radikalisierungsgeschehen und damit natürlich auch auf die Präventionsarbeit. Auf den ersten Blick erscheint klar, dass islamistische Organisationen im Nahostkonflikt auf Seiten der Hamas stehen. Wenn man aber unter die Oberfläche schaut, gibt es durchaus Unterschiede und Widersprüche zwischen den Gruppen.

In Folge #22 von KN:IX talks sprechen wir mit Prof. Peter R. Neumann darüber, wie islamistische Gruppen auf unterschiedliche Weise auf den Hamas Angriff am 7. Oktober reagiert haben. Außerdem betrachten wir, welche Rolle der Nahostkonflikt auch breiter betrachtet für islamistische Akteure spielt und, wie Akteure aus der Prävention in Deutschland mit der aktuellen Situation umgehen können. Dazu berichtet Kaan Orhon vom Verein Grüner Vogel e. V. von seinen Erfahrungen aus der praktischen Arbeit.

Im Podcast zu Gast

©Laurence Chaperon für Peter R. Neumann

Dr. Peter R. Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London. Er ist Gründer und war langjähriger Direktor des weltweit renommierten International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR), ebenfalls am King’s College. 2017 war er Sonderbeauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) für den Kampf gegen die Radikalisierung.

Transkript zur Folge

(Musik im Hintergrund)

Peter R. Neumann: Man kann ja auch sehen, dass zum Beispiel Al-Qaida in seiner Erklärung am 13. Oktober auch gesagt hat, das ist einfach ein Ereignis, was es wahrscheinlich nur einmal in jeder Generation geben wird. Natürlich dreht sich dieses Ereignis vor allem um Israel. Aber es führt zu einer generellen Mobilmachung für die islamistische Sache überall auf der Welt. Ich würde davon ausgehen, dass natürlich diese großen dschihadistischen Organisationen, dass die versuchen, diese Mobilmachung für sich zu instrumentalisieren und für verschiedene Konflikte zu instrumentalisieren.

 

(Musik im Hintergrund)

Charlotte Leikert (Intro KN:IX talks): Herzlich willkommen zu KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. Bei KN:IX talks sprechen wir über das, was die Präventions- und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international beschäftigt. Für alle, die in dem Feld arbeiten oder immer schon mehr dazu erfahren wollten: Islamismus, Prävention, Demokratieförderung und politische Bildung. Klingt interessant? Dann bleiben Sie jetzt dran und abonnieren Sie unseren Kanal. KN:IX talks – überall da, wo es Podcasts gibt.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Hallo und herzlich willkommen zur 20. Folge von KN:IX talks. Mein Name ist Charlotte Leikert…

 

Ulrike Hoole (KN:IX): … und mein Name ist Ulrike Hoole. Gemeinsam hosten wir den Podcast KN:IX talks bei der BAG RelEx.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): … und mein Name ist Ulrike Hoole. Gemeinsam hosten wir den Podcast KN:IX talks bei der BAG RelEx.

In der achten Staffel von KN:IX talks dreht sich alles um den Nahostkonflikt. Seit dem 7. Oktober 2023 stehen islamistische Gruppen wieder stärker im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Der Anschlag der Hamas auf Israel hat sowohl international als auch in Deutschland Auswirkungen auf das Radikalisierungsgeschehen und damit natürlich auch auf die Präventionsarbeit. Auf den ersten Blick erscheint klar, dass islamistische Organisationen im Nahostkonflikt auf der Seite der Hamas stehen. Wenn man aber unter die Oberfläche schaut, gibt es durchaus Unterschiede und Widersprüche zwischen den Gruppen. Wir möchten in der heutigen Folge von KN:IX talks darüber sprechen, wie islamistische Gruppen auf unterschiedliche Weise auf den Hamasangriff am 7. Oktober reagiert haben. Außerdem werden wir uns ansehen, welche Rolle der Nahostkonflikt auch breiter betrachtet für islamistische Akteure spielt. Dazu spreche ich heute mit Peter Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King’s College. Peter, schön, dass du heute bei KN:IX talks dabei bist.

 

Peter Neumann: Hallo, vielen Dank für die Einladung.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Du beschäftigst dich ja schon lange mit extremistischen und terroristischen Gruppen. Was würdest du denn sagen, was hast du beobachtet? Wie haben denn verschiedene islamistische Gruppen auf den Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober reagiert und wie haben sie sich positioniert?

 

Peter Neumann: Ja, das war ganz interessant, als der 7. Oktober passiert ist, gab es von den ganz großen dschihadistischen Organisationen, also Al-Qaida und IS, erst mal keine Reaktion. Denn dieser Angriff auf Israel von Hamas, der wurde ja nicht von denen durchgeführt. Und das Verhältnis zwischen diesen großen Organisationen und der Hamas war in der Vergangenheit auch nicht immer einfach. Die hatten sich zuerst mal ein bisschen zurückgehalten. Als sie dann allerdings gemerkt haben, was für eine riesige Mobilisierung dadurch passiert ist, haben sich dann versucht, sozusagen auf diesen fahrenden Zug drauf zu schmeißen. Und innerhalb von ein oder zwei Wochen haben wir verschiedene Erklärungen bekommen, zuerst von Al-Qaida, dann vom sogenannten Islamischen Staat, die gesagt haben, man soll sich doch bitte dem anschließen und das ist eine tolle Gelegenheit, jetzt sag ich mal, Juden und Jüdinnen überall in der Welt anzugreifen. Also beide Organisationen haben Statements veröffentlicht, wo sie basierend auf dem 7. Oktober, für den sie eigentlich gar nicht selbst verantwortlich waren, aber basierend auf dem 7. Oktober gesagt haben: Schließt euch dem an! Das ist jetzt eine Gelegenheit, gegen Juden und Jüdinnen und westliche Interessen auch vorzugehen.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Okay, die islamistische Szene ist ja weltweit betrachtet sehr divers und zum Beispiel gibt es ja eher Gruppen, die in der unmittelbaren Region des Nahostkonflikts verwurzelt sind, transnationale Organisationen und Akteure, die geografisch eigentlich sehr weit von dem Konflikt entfernt sind. Und dazu kommen natürlich noch enorme ideologische und strategische Unterschiede. Welche Gemeinsamkeiten oder auch Unterschiede würden dir denn bei den Reaktionen islamistischer Organisationen auf den 7. Oktober auffallen? Kann man da irgendwie so ein bisschen sagen, dass dort unmittelbar verwurzelte Akteure anders reagiert haben als Akteure, die weiter entfernt sind?

 

Peter Neumann: Klar, also der Modus Operandi ist schon ganz unterschiedlich. Die Hamas ist eine islamistische Organisation, ohne Zweifel kann sie auch als dschihadistische Organisation beschrieben werden. Allerdings ist sie natürlich gleichzeitig eine Organisation, die sich selbst sehr als palästinensische Organisation versteht, deren Hauptziel die Vernichtung Israels ist, die das Existenzrecht Israels nicht nur in Frage stellt, sondern Israel im Prinzip vernichten möchte, aber die vor allem dort auch kämpft. Ja, also die Hamas rekrutiert keine Auslandskämpfer, anders als zum Beispiel Al-Qaida und der Islamische Staat. Die Hamas hat in der Vergangenheit zumindest auch außerhalb des Nahen Ostens keine Operationen durchgeführt. Sie versteht sich selbst als eine nationalistische, palästinensische, aber eben auch islamistische Organisation. Und das ist auch der Hauptunterschied zu Gruppen wie Al-Qaida und dem Islamischen Staat, die eben sich selbst als globale Organisationen verstehen, transnationale Organisationen, die Kämpfer aus aller Welt willkommen heißen und die ja letztlich dann auch ein globales Kalifat, so wie sie das nennen, schaffen möchten. Und deswegen haben diese Organisationen in ihren Erklärungen nach dem 7. Oktober eben auch ganz schnell zum Ausdruck gebracht, dass es hier nicht nur um eine Sache der Palästinenserinnen und Palästinenser geht, sondern dass es hier um ein globales Anliegen geht und dass das quasi nur der Anlass ist, um jetzt den globalen Kampf wieder aufzunehmen. Die haben beide versucht, Al-Qaida und Islamischer Staat, das sozusagen sofort zu verbreitern und zu sagen: Hier geht es eigentlich gar nicht nur um Israel. Hier geht es um die ganze Welt.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Wie prominent ist denn die Rolle des israelisch-palästinensischen Konflikts in der Ideologie der einzelnen Gruppen überhaupt? Spielt der Konflikt denn so eine zentrale Rolle, wie man häufig annimmt?

Peter Neumann: Ich sag mal so, für alle Islamisten ist das schon ein zentraler Konflikt. Also alle Islamisten sehen das quasi als eine entscheidende Bruchstelle, denn die Existenz von Israel ist ja sozusagen eine Narbe im Herz der sogenannten islamischen Welt. Jerusalem ist die drittwichtigste Stadt im Islam. Und natürlich sagen die alle, Jerusalem muss befreit werden und Israel muss von der Landkarte verschwinden. Also da sind sich natürlich alle im Prinzip einig. Was dann natürlich ein Unterschied ist, wie stark diese unterschiedlichen Gruppen das Thema Israel-Palästina-Konflikt priorisieren. Und da hat man eben in der Vergangenheit gesehen, dass besonders Al-Qaida und Islamischer Staat das nicht besonders priorisiert haben, dass die eher an anderen Frontlinien interessiert waren. Nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst als Organisationen in diesem palästinensisch-israelischen Konflikt niemals einen Platz für sich gefunden haben. Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass zum Beispiel der IS und auch Al-Qaida versucht haben, sich im Gazastreifen breit zu machen. Dass aber die Hamas gesagt hat: Vielen Dank, wir brauchen euch hier nicht und sie rausgeschmissen hat. Also, die ganz großen dschihadistischen Organisationen Al-Qaida und IS haben niemals punkten können, historisch gesehen in diesem Konflikt und deswegen haben sie eigentlich die Rolle immer so ein bisschen runtergespielt, weil sie damit eben nicht sich selbst sozusagen in den Vordergrund rücken konnten.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Also könnte man sagen, der Konflikt ist eigentlich für viele Gruppen nicht in der Ideologie so zentral gewesen, aber wird jetzt aktuell vor allem nach dem 7. Oktober dann vor allem in der Propaganda instrumentalisiert, um Anhänger*innen zu mobilisieren?

Peter Neumann: Ja, ich bin da, ich bin da ein bisschen skeptisch. Also ich weiß, dass das von vielen argumentiert wird. Aber ich glaube schon, dass dieser Konflikt zentral ist, auch für Al-Qaida und für den Islamischen Staat. Aber dass er nicht aus ideologischen Gründen runtergespielt wurde, sondern eher aus praktischen Gründen runtergespielt wurde, nämlich weil diese Organisationen in diesem Konflikt nicht teilgenommen haben, nicht teilnehmen konnten, weil sie eben bei jedem Versuch im Prinzip rausgeschmissen wurden. Und natürlich haben die deswegen diesen Konflikt in der Vergangenheit oftmals nicht so sehr betont. Und jetzt, wo er so groß geworden ist, wo im Prinzip sich jeder dafür interessiert und wo die gesamte islamische Welt die Augen auf diesen Konflikt richtet, in dieser Situation versucht man das natürlich jetzt wieder irgendwie für sich zu instrumentalisieren. Das ist schon richtig. Aber es ist nicht so, dass das total unwichtig gewesen wäre, auch aus ideologischer Sicht, für diese Gruppen.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Was würdest du denn sagen, du hattest vorher ja auch schon erwähnt, dass gewisse Organisationen wie jetzt IS oder Al-Qaida ja eigentlich so eher das Ziel eines transnationalen Kalifats sozusagen haben. Und das steht ja in gewisser Weise auch im Widerspruch dann eben zur Idee eines palästinensischen Nationalstaats. Wie drücken das die Gruppen denn aus? Wie umgehen sie denn diesen Widerspruch, oder wie wird das aufgegriffen?

 

Peter Neumann: Na ja, die sagen eben ganz klar: Das ist alles gut und richtig, was da passiert. Natürlich muss Israel bekämpft werden. Israel ist eine Narbe im Herzen der islamischen Welt. Es muss verschwinden. Aber letztlich ist das eben nur eine von vielen Fronten. Und letztlich geht es nicht nur um Israel. Letztlich geht es nicht nur um Jüdinnen und Juden, sondern es geht um die ganze Welt. Und was dort anfängt, sollten wir zum Anlass nehmen, um an allen Fronten gegen die in Anführungszeichen „Kreuzzügler“ und Zionisten zu kämpfen. Also da wird genau das gegenteilige Argument gemacht von dem, was die Hamas für sich beansprucht, die ja tatsächlich für diese Offensive verantwortlich war, die argumentiert: Uns geht es um die Schaffung eines islamistischen palästinensischen Staates, und damit hat sich’s. Also das ist der Versuch, im Prinzip aus dieser Situation heraus dann doch wieder eine globale Situation herzustellen, wo an allen Fronten gegen alle gekämpft wird.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Es geht also gegen den Westen generell, also nicht nur um den Nahostkonflikt an sich. Was würdest du denn sagen, wie ist der Bezug denn von der Hamas zu der Achse des Widerstands? Wie wird denn da der Konflikt instrumentalisiert oder wie sind da die Verbindungen?

 

Peter Neumann: Also der erste Punkt ist natürlich, es geht gegen den Westen insgesamt. Und auch das lässt sich natürlich konstruieren aus der Logik des Arguments, weil gesagt wird, dieses Israel, das könnte ja niemals auf sich allein gestellt überleben. Das existiert nur deshalb, weil es so stark unterstützt wird. Zunächst mal von Amerika, aber eben auch von europäischen Staaten, Das heißt, die europäischen Staaten und Amerika, durch ihre Unterstützung für Israel, sind genauso an der Unterdrückung und dem vermeintlichen Genozid der Palästinenser schuld wie Israel selbst und deswegen ist es legitim, auch die zu bestrafen. So wird das vom IS und wird auch von Al-Qaida so argumentiert. Jetzt, die Achse des Widerstandes, das sind die verschiedenen Organisationen bzw. staatlichen Akteure auch zum Teil, die vom Iran gesponsert werden und die eigentlich vor allem der Kampf gegen Israel sind. Das sind verschiedene Gruppen im Nahen Osten, angefangen natürlich mit dem Iran selbst. Dazu gehört auch typischerweise die syrische Regierung, angeführt von Baschar Al-Assad. Dazu gehört die Hizbollah im Libanon, die ja auch gegen Israel kämpft. Dazu gehören schiitische Milizen im Irak und in Syrien. Dazu gehören die Huthis im Jemen, aber eben auch die Hamas. Die Hamas ist ein bisschen anders als all diese anderen Gruppen, weil die Hamas eben eine sunnitische islamistische Organisation ist. Und all die anderen Gruppen, die ich gerade aufgezählt habe, sind alles schiitische Organisationen, die vor allem auch deshalb mit dem Iran verbandelt sind. Die Hamas wurde deshalb Mitglied der Achse des Widerstands, weil in den letzten Jahren, und über das letzte Jahrzehnt wahrscheinlich, viele der Sponsoren der Hamas, die traditionell aus sunnitischen Staaten kamen, also zum Beispiel aus Saudi-Arabien oder aus anderen Golf Emiraten, weil die weggefallen sind und weil Hamas immer abhängiger wurde, was die externe Förderung angeht, auf den Iran. Und deswegen ist also die Verbindung zwischen dem Iran und der Hamas, sowohl was die Förderung, die finanzielle Förderung angeht, aber eben auch zum Beispiel was Training angeht, was Waffenlieferungen angeht, ist heute wahrscheinlich enger als je zuvor. Und das ist deshalb richtig, dass man die Hamas quasi auch als Teil dieser Achse des Widerstands sieht, obwohl sie der einzige Teil dieser Achse des Widerstands ist, der eben nicht schiitisch ist, sondern sunnitisch.

 

(Musik)

Charlotte Leikert (KN:IX): Es gibt also ganz verschiedene Motivationen, weshalb sich islamistische Gruppen unterschiedlich stark auf den Konflikt beziehen. Und die Fronten sind hier keinesfalls so klar, wie man vielleicht denken würde. Eine Bedeutung hat der Konflikt aber für alle Gruppen.

 

(Musik)

Ulrike Hoole (KN:IX): Dadurch, dass der Nahostkonflikt für viele Islamisten schon in gewisser Weise zentral ist, welche Auswirkungen könnte denn die aktuelle Eskalation des Nahostkonflikts auf das Radikalisierungsgeschehen in Deutschland haben, beziehungsweise was ist denn vielleicht bereits zu beobachten?

 

Peter Neumann: Also ich glaube, es hat ganz erhebliche Auswirkungen auf Radikalisierung überall in der Welt. Dieser Konflikt, das war ein dramatisches Ereignis, das Leute überall auf der Welt mobilisiert hat, was auch wieder dazu geführt hat, dass sich viele Leute für Islamismus, für Dschihadismus interessieren. Und man kann ja auch sehen, dass zum Beispiel Al-Qaida in seiner Erklärung am 13. Oktober auch gesagt hat, das ist einfach ein Ereignis, was es wahrscheinlich nur einmal in jeder Generation geben wird. Natürlich dreht sich dieses Ereignis vor allem um Israel. Aber es führt zu einer generellen Mobilmachung für die islamistische Sache überall auf der Welt. Ich würde davon ausgehen, dass natürlich diese großen dschihadistischen Organisationen, dass die versuchen, diese Mobilmachung für sich zu instrumentalisieren und für verschiedene Konflikte zu instrumentalisieren. Und das sieht man auch ganz deutlich an den Statements, die veröffentlicht wurden, wo eben gesagt wurde okay, natürlich geht es gegen jüdische Ziele, es geht gegen israelische Ziele, die man vielleicht mit Israel in Verbindung bringen kann. Aber es geht auch gegen den Westen insgesamt und das hat man auch schon gesehen in den verschiedenen Anschlagsversuchen, die mittlerweile passiert sind seit dem 7. Oktober. Ich zähle zum Beispiel sechs Anschlagsversuche in Europa, die entweder wie in zwei Fällen in Frankreich gelungen sind oder in vier Fällen, davon zwei in Deutschland, nicht gelungen sind. Und wenn man sich diese verschiedenen Anschlagsversuche anschaut, dann sieht man deutlich, dass es zum Teil tatsächlich gegen jüdische Ziele ging, also zum Beispiel gegen Synagogen oder gegen pro-Israel-Demonstrationen. Aber eben nicht nur. Wir hatten zum Beispiel im Dezember zwei Anschlagsversuche oder Anschlagsplanungen, die in Deutschland ausgehoben wurden, wo die potenziellen oder mutmaßlichen Attentäter diskutiert haben, Synagogen anzugreifen, aber eben auch Weihnachtsmärkte, die erst mal mit dem Nahostkonflikt überhaupt nichts zu tun haben. Also man sieht das aus dieser Mobilmachung heraus, wo es erst mal gegen vordergründig gegen Israel und gegen Jüdinnen und Juden geht. Dass aus dieser Mobilmachung heraus, besonders wenn es um Organisation wie IS oder Al-Qaida geht, dass dann eben auch ganz andere Anschlagsziele herauskommen können. Anschlagsziele, die ganz generell sich gegen den Westen oder westliche Gesellschaften richten.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Wenn wir jetzt mal über den Bereich des islamistischen Extremismus hinausgehen wie haben denn rechts- oder linksextremistische Akteure die Anschläge vom 7. Oktober aufgegriffen? Kann man denn auch da beobachten, dass diese Akteure versuchen, den Nahostkonflikt für sich zu nutzen?

 

Peter Neumann: Also ich glaube, es gab sowohl linksextremistisch als auch rechtsextremistisch einiges an Diskussionen über diesen Konflikt. Das sieht man ja auch bei den Demonstrationen und das sieht man auch an Debatten, die sich abspielen innerhalb der verschiedenen Lager. Also auf der linksextremistischen Seite gibt es natürlich Linksextremisten, die gleichzeitig sehr zionistisch sind, die sich dem Existenzrecht Israels sehr verpflichtet fühlen. Auf der anderen Seite gibt es eben aber auch Linksextremisten, die Israel quasi als koloniales Projekt sehen und die Israel als Vorhut Amerikas in der sich entwickelnden Welt sehen und die eher so die Analyse des Irans teilen. Und das sind Leute, die durchaus auch auf der Seite der Hamas sind. Im rechtsextremistischen Lager gibt es auch eine Spaltung. Da gibt es die Altnazis, die eigentlich eher auf der Seite der Palästinenser stehen, weil sie gegen Juden sind, weil sie antisemitisch sind. Aber dann gibt es eben auch viele, zum Beispiel im rechtspopulistischen oder rechtsradikalen Spektrum, die sehr aggressiv pro Israel sind, weil sie nicht antisemitisch sind, sondern eher antimuslimisch, islamophob. Also auch da gibt es unterschiedliche Ansichten. Ich glaube, aktuell ist es eher so, dass die Linie von der Identitären Bewegung überwiegt, die argumentieren, wir halten uns aus diesem Konflikt raus, das hat mit uns nichts zu tun. Wir sind weder anti-Israel noch pro-Israel. Wir sind pro-Deutsch und das bedeutet, wir haben mit diesem Konflikt nichts zu tun. Also sowohl links- als auch rechtsextrem gibt es durchaus unterschiedliche Ansichten, unterschiedliche Argumente und unterschiedliche Positionierungen, die von pro-Hamas bis pro-Israel reicht.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Wir sehen, der Konflikt spielt in unterschiedlichen extremistischen und demokratiefeindlichen Milieus eine Rolle. Dadurch, dass dieser Konflikt gerade überall in der Gesellschaft so präsent ist, ist das Thema auch für die Präventionsarbeit wichtig. Von den Mitgliedsorganisationen der BAG RelEx wissen wir, dass viele von ihnen nach dem 7. Oktober deutlich mehr Anfragen bekommen haben.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Wie sich die aktuelle Situation auf ihre Arbeit auswirkt und wie sie damit umgehen, haben wir Kaan Orhon vom Verein Grüner Vogel gefragt.

(Musik)

 

Kaan Orhon: Prävention kann und sollte jetzt vermutlich am besten darauf reagieren, indem man frühzeitig versucht, Multiplikatoren zu erreichen, Strukturen zu erreichen, Schulen, Jugendzentren, Vereine, Organisationen auch gerade aus den besonders emotional betroffenen Communities und Gemeinschaften in Deutschland, die versuchen können, deeskalierend zu wirken. Den gerade hochemotionalisierten jungen Menschen, die sich von dem Thema mitgenommen fühlen, eine Alternative zu bieten zu extremistischen Angeboten, damit diese sich wirkmächtig fühlen können. Damit diese Menschen die Möglichkeit haben, mit dem, was sie beschäftigt, den Konflikt betreffend, sich zu äußern, sich zu artikulieren und nicht, das ist ganz wichtig, mit Repression, etwa durch Demo-Verbote, wo es nicht unbedingt notwendig ist, oder mit Sanktionen im Schulraum für etwa Solidaritätsbekundungen für die palästinensische Bevölkerung. Das wird mit Sicherheit eher eine negative Wirkung haben und im schlimmsten Fall Radikalisierung Vorschub leisten. Zusätzlich kann und sollte Prävention versuchen, bestimmte Inkonsistenzen in islamistischer Ideologie und islamistischen Narrativen den Konflikt betreffend, aufzubrechen. Wenn wir sehen, dass Gruppen wie der IS oder auch Hizb-ut-Tahrir versuchen, den Palästinakonflikt für sich zu instrumentalisieren in ihrer Welt, sich in ihrer Vision eines globalen oder zumindest die sogenannte islamische Welt umspannenden Kalifats, aber definitiv keine Perspektive für einen Palästinenserstaat haben, so ist das eine der besonders augenfälligen Inkonsistenzen, auf die hingewiesen werden sollte und mit der das Narrativ der vermeintlichen Solidarität und der vermeintlichen Unterstützung für die palästinensische Bevölkerung entlarvt werden kann.

 

(Musik)

Ulrike Hoole (KN:IX talks): Wie er denn die Auswirkungen des 7. Oktobers vor allem auch für die Präventionsarbeit einschätzt, wollten wir auch von Peter Neumann wissen.

 

Peter Neumann: Also ich denke, dass wir mit dem 7. Oktober schon eine dramatische Änderung gesehen haben. Also ich glaube, vor dem 7. Oktober war es tatsächlich legitim zu sagen, ich weiß, dass Präventionsanbieter da immer ein bisschen vorsichtig waren, aber ich war schon einer, der gesagt hat eine ganze Weile schon, dass eigentlich dieser Dschihadismus am Stagnieren ist, wenn nicht sogar am Zurückgehen. Und das hat sich durch den 7. Oktober jetzt möglicherweise geändert. Und das ist eigentlich auch nicht ungewöhnlich, denn wir hatten in den letzten Jahrzehnten und ich bin alt genug leider, um mich daran zu erinnern, auch immer wieder solche dramatischen Ereignisse, die tatsächlich riesige Mobilisierungsschübe ausgelöst haben. Nicht zuletzt der 11. September 2001. Auch vor dem 11. September 2001 gab es sehr renommierte Forscher, Kepel oder Olivier Roy, die gesagt haben: Der Islamismus ist tot. Das ist im Prinzip etwas, was am Absterben ist. Das kommt nicht mehr zurück. Die haben ihren Höhepunkt schon erreicht. Und dann kam der 11. September, und dann ging es im Prinzip noch mal von vorne los. Und genauso war es. Ich kann mich noch besser daran erinnern, 2010, 2011, als die Amerikaner im Prinzip die ganze Führungsriege von Al-Qaida durch Drohnenschläge getötet hatten, in den Stammesgebieten von Pakistan, am Ende sogar Osama bin Laden getötet hatten. Dann kam der Arabische Frühling. Alle dachten, die Demokratie kommt in die arabische Welt und viele waren der Überzeugung, dass der Islamismus vorbei ist. Und dann ist eben dieser Konflikt in Syrien ausgebrochen 2011, der sehr schnell zu einer Radikalisierung geführt hat und der zu einer größeren Welle von Dschihadismus geführt hat als je zuvor. Und ich glaube möglicherweise, das ist natürlich jetzt Spekulation, aber vielleicht haben wir wieder so eine Situation, wo eigentlich viele, auch Experten inklusive mir selbst geglaubt haben, dass eigentlich dieser Islamismus stagniert, dass er am Absterben ist, dass das jetzt endgültig vorbei ist. Jetzt haben wir wieder eine Situation, wo ein dramatisches Ereignis, der 7. Oktober, zu einer Mobilmachung führt, die im Prinzip diesen Islamismus wieder zurückbringt. Und das ist, glaube ich, durchaus plausibel, das erst mal anzunehmen. Und deswegen glaube ich schon, dass Präventionsanbieter sich auch stärker jetzt wieder auf Islamismus konzentrieren müssen. Und man weiß ja auch von euch und von euren Kolleginnen und Kollegen, dass ihr mehr Anrufe bekommt als je zuvor, dass also die Zahl der Leute, die sich an Präventionsanbieter wenden und sagen: Wir haben ein Problem mit islamistischer Radikalisierung, dass die seit dem 7. Oktober stark angestiegen ist. Wir sehen in den sozialen Medien einen starken Anstieg der Hasskommentare. Wir sehen einen sehr, sehr starken Anstieg von antisemitischen Straftaten. Das sind alles meiner Meinung nach Indizien dafür, dass sich da möglicherweise was zusammenbraut. Also dieses Thema Islamismus, von dem viele bis zum 7. Oktober gedacht hatten, das ist vorbei oder ist am Absterben. Das ist jetzt, glaube ich, wieder zurück.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Ja, vielen Dank dir. Ich glaube, das bestätigt auch auf jeden Fall den Eindruck aus unserer Mitgliedschaft, dass eben genau Anfragen wieder zugenommen haben und das Thema wieder auf jeden Fall präsenter ist. Ja, Peter, danke dir für das Gespräch.

 

Peter Neumann: Danke schön.

 

(Musik)

Ulrike Hoole (KN:IX): Der Nahostkonflikt und die aktuelle Situation im Gazastreifen ist also momentan das Thema bei Islamist*innen, egal ob sie aus dem dschihadistischen oder gewaltfreien Spektrum kommen. Sie nutzen das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung und die Sympathien, die viele Menschen, ob muslimisch, arabisch oder nicht, verständlicherweise für sie haben, für ihre Propaganda. Und damit heizen sie die polarisierte Stimmung und die aufgewühlten Emotionen noch an, um für ihre Zwecke mobil zu machen.

 

Charlotte Leikert (KN:IX): Wie die deutsche islamistische Szene in den sozialen Medien den Konflikt für sich instrumentalisiert, haben sich die Kolleginnen von Violence Prevention Network in Folge 23 von KNIX talks angesehen. Und Folge 24 von ufuq.de dreht sich darum, wie israelbezogener Antisemitismus in der Schule besprochen werden kann.

 

Ulrike Hoole (KN:IX): Vielen Dank an unsere Gäste Peter Neumann und Kaan Orhon und natürlich an Sie fürs Zuhören. Wir sagen Tschüss und bis zum nächsten Mal.

 

(Hintergrundmusik)

Charlotte Leikert (KN:IX): Inhaltliche Vorbereitung, Moderation und technische Umsetzung: Charlotte Leikert und Ulrike Hoole. Postproduktion: Malte Fröhlich.

 

(Musik)

Charlotte Leikert (Outro KN:IX talks):  Sie hörten eine Folge von KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention.

KN:IX talks ist eine Produktion von KN:IX, dem Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“. KN:IX ist ein Projekt von Violence Prevention Network, ufuq.de und der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx.

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KN:IX wird durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Finanzierung erhalten wir vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in Sachsen-Anhalt, der Landeskommission Berlin gegen Gewalt und im Rahmen des Landesprogramms Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus.

Die Inhalte der Podcast-Folge stellen keine Meinungsäußerung der Fördermittelgebenden dar. Für die inhaltliche Ausgestaltung der Folge trägt der entsprechende Träger des Kompetenznetzwerks „Islamistischer Extremismus“ die Verantwortung.

Weiterführende Links

Prof. Peter R. Neumann
https://www.kcl.ac.uk/people/professor-peter-neumann


Grüner Vogel e. V.

https://gruenervogel.de/


Fiennes, Guy (2023): Islamist groups unite around Israel attack, diverge on Hamas. Institute of Strategic Dialogue.
https://www.isdglobal.org/digital_dispatches/islamist-groups-unite-around-israel-attack-diverge-on-hamas/ [abgerufen: 04.03.2024].


Krause, Dino (2023): The importance of understanding the differences between Hamas, IS and al-Qaeda. Danish Institute for International Studies.
https://www.diis.dk/en/research/the-importance-of-understanding-the-differences-between-hamas-is-and-al-qaeda [abgerufen: 05.03.2024].


Seibringer, Michel (2023): Anschuldigen, anprangern, anstacheln: deutsche extremistische Reaktionen auf den Israel-Hamas Konflikt. Institute of Strategic Dialogue.
https://www.isdglobal.org/digital_dispatches/anschuldigen-anprangern-anstacheln-deutsche-extremistische-reaktionen-auf-den-israel-hamas-konflikt/ [abgerufen: 04.03.2024].


Zamirirad, Azadeh (2023): Achse des Widerstands: Iran und der Nahostkrieg. Bundeszentrale für politische Bildung.
 https://www.bpb.de/themen/naher-mittlerer-osten/iran/543559/achse-des-widerstands-iran-und-der-nahostkrieg/[abgerufen: 04.03.2024].

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