#schongelaufen – Psychologie, Therapie und Pädagogik: Multiprofessionelle Zugänge zum Verstehen von (De-)Radikalisierungsprozessen

Zwischen dem 21. Oktober und 4. November bot KN:IX für angehende und erfahrende Fachkräfte in der Präventionsarbeit eine Train-the-Trainer-Qualifizierung zum Thema „Psychologie, Therapie und Pädagogik: Multiprofessionelle Zugänge zum Verstehen von (De-)Radikalisierungsprozessen“ an. In insgesamt fünf Veranstaltungen mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten gingen die Teilnehmer*innen Fragen zu den psychologischen und psychosozialen Dynamiken nach, die sich bei der Ursachensuche von Radikalisierungsprozessen in der Beratungsarbeit stellen könnten.

Um sich der Komplexität der Thematik anzunähern, erläuterte am ersten Veranstaltungstag zunächst Heinrich Vogel den aktuellen Wissensstand zu psychischen Störungen im Zusammenhang mit Radikalisierungsprozessen und betonte das Selbstverständnis der Präventionsarbeit, Klient*innen per se nicht zu pathologisieren. Er zeigte zudem die nach wie vor schwierige Forschungslage zu dieser Problematik auf. Zur Vertiefung hielt Daniela Pisoiu vom Österreichischen Institut für Internationale Politik im Anschluss einen Vortrag über die interdisziplinären Erklärungsansätze zu individuellen Radikalisierungsprozessen, in dem sie zwischen deterministischen, intentionalen und relationalen Ansätzen unterschied und auf die Mikro-, Meso- und Makroebenen anwendete. Den Teilnehmer*innen sollte hierdurch vermittelt werden, dass Radikalisierungsprozesse in der Regel durch unterschiedliche Faktoren bedingt seien und sich Aussagen zu einer prominenteren Rolle von psychischen Störungen nur in Einzelfällen erlaubten.

Am zweiten Tag der Veranstaltungsreihe führten Simon Greipl und Heidi Schulze von der Ludwig-Maximilians-Universität München in den Bereich der Medienwirkungsforschung ein und erläuterten den Forschungsstand zu möglichen psychologischen Zusammenhängen zwischen Online-Propaganda und Radikalisierungsprozessen sowie gängige Strategien der Beeinflussung durch islamistische Akteur*innen. Im Anschluss stellte Friedhelm Hartwig von modus|zad anhand praxisrelevanter Beispiele das YouTube-Monitoring von modus|zad als integralen Bestandteil von Online-Präventionsmaßnahmen vor und beschrieb Möglichkeiten, wie extremistischer Propaganda effektiv entgegengewirkt werden könnte.

Zur weiteren Vertiefung multiprofessioneller Handlungsperspektiven stellte am dritten Veranstaltungstag Michael Gerland das systemische Denken und Handeln in der Ausstiegsbegleitung vor und berichtete aus seinem Praxisalltag. Dabei betonte er das Verständnis der systemischen Therapie, Radikalisierungsprozesse in sich überschneidenden sozialen Systemen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene zu verstehen und zu dekonstruieren. Er ging auch auf die Schnittstellen mit psychologischen Modellen ein, wie die Theorie der kognitiven Dissonanz, die bei Hinwendungsprozessen zum Ausdruck käme (scheinbare oder tatsächliche Identitätskrisen).

Am vierten Veranstaltungstag lag unser Fokus auf der Kultur- und Religionssensiblen Psychotherapie. Der psychologische Psychotherapeut Amin Loucif und seine Kollegin Gülbin Nokay schilderten dabei ihre Arbeit mit religiösen bzw. radikalisierten Patient*innen und versuchten dadurch eine Brücke zur Präventionsarbeit zu bauen. Sie berichteten über religiöse Deutungsmuster wie Dschinnen und Geister, die bei psychisch belasteten Muslim*innen vorkommen könnten. Auch auf Verhaltensweisen von Berater*innen bzw. Therapeut*innen, die bei der Begegnung mit Klient*innen hilfreich sein könnten, ging Loucif ein. Nokay stellte zudem die Ergebnisse einer nichtrepräsentativen Umfrage vor, die sie unter Abonnent*innen der Social Media-Profile von Loucifs Praxis durchführte und die bisherigen Erfahrungen religiöser Muslim*innen mit der Psychotherapie eruierte. Die Teilnehmer*innen waren sich einig, dass die Vorbehalte, Ressentiments und Hemmungen auf beiden Seiten – Klient*innen und Behandelnde – weiter abgebaut werden müssten, damit Menschen in Krisen wirksam geholfen werden könne.

Am fünften und damit letzten Tag führte Gloriett Kargl in die soziale Diagnostik ein, die von Violence Prevention Network entwickelt wurde. Sie stellte dabei die einzelnen Schritte der Diagnostik vor (Anamnesen, Diagnosen, Hilfeplan und Evaluation) und ermöglichte auf dieser Basis auch den Teilnehmer*innen im Rahmen von Gruppenarbeiten Beispielfälle untereinander zu diskutieren.

 

Zentrale Diskussionspunkte:

  • Die Teilnehmer*innen diskutierten über die Möglichkeiten adäquater psychologischer Betreuungsmöglichkeiten für vorbelastete Klient*innen und über mögliche Ansprechpartner*innen, die hierfür in Frage kämen.
  • Die Relevanz der Interdisziplinarität im Arbeitsfeld der Deradikalisierung und Ausstiegsbegleitung wurde noch einmal hervorgehoben.
  • Die Forschung müsse noch mehr Erkenntnisse zu Zusammenhängen zwischen psychischen Störungen und Hinwendungsprozessen gewinnen, um einen ausreichenden Überblick zu erhalten.
  • Die Frage wurde diskutiert, ob Radikalität überhaupt eine Ideologie benötigen würde, in Anlehnung an Oliver Roys These der „Islamisierung der Radikalität“.

 

Weiterführende Links[1] und Literatur:

Gerland, Michael (2021): Die Dynamik sozialräumlicher Radikalisierung – Das Beispiel Hamburg-Altona, ufuq.de, https://www.ufuq.de/die-dynamik-sozialraeumlicher-radikalisierung-das-beispiel-hamburg-altona/.

Mönter/Heinz/Utsch (2020): Religionssensible Psychotherapie und Psychiatrie: Basiswissen und Praxiserfahrungen, Stuttgart.

Srowig, Fabian (et al.) (2018): Radikalisierung von Individuen. Ein Überblick über mögliche Erklärungsansätze, PRIF Report, Nr. 6, <https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/prif0618.pdf.

Möller, Kurt (et al.) (2019): Zur sozialen Diagnostik von Deradikalisierungsprozessen ,islamistisch‘ orientierter Personen, in: Interventionen. Zeitschrift für Verantwortungspädagogik, Ausg. 13, https://violence-prevention-network.de/wp-content/uploads/2020/01/Interventionen_13-2019.pdf.

 

AUSBLICK

Die Teilnehmenden begrüßten den Fachaustausch an der Schnittstelle zwischen Praxis und Wissenschaft. Sie wünschen sich weitere Formate, insbesondere einen interdisziplinären Austausch.

 

[1] Alle Links zuletzt abgerufen am 10.12.2021.

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IFAK e.V.

Die IFAK e.V. – Verein für multikulturelle Kinder- Jugendhilfe und Migrationsarbeit ist eine Selbstorganisation von Zugewanderten und Einheimischen. Sie verfügt über eine 50-jährige Erfahrung im Bereich der professionellen, transkulturellen, generationsübergreifende Arbeit in den verschiedensten Bereichen der Kinder- u. Jugendhilfe sowie der Migrations- und Flüchtlingsarbeit und ist im Paritätischen organisiert. Als einer der ersten fünf bundesweit agierenden Organisationen im Themenfeld Islamismus, hat sie die Präventionslandschaft seit 2012 aktiv mitgestaltet und ihre Expertise mit den vielfältigen gesellschaftlichen und fachlichen Herausforderungen stetig weiterentwickelt. Die IFAK e.V. ist eine der fünf Gründungsträger*innen der BAG RelEx. 

Themenzuständigkeit im Verbund:

  • sekundäre und tertiäre Prävention in der Islamismusprävention
  • Diversity – Ansätze in der Präventionsarbeit
  • Psychische Erkrankungen bei Klient*innen in der Distanzierungsarbeit
  • (Weiter-) Entwicklung Jugendhilfestandards in der Präventionsarbeit

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modus|zad stärkt das gesellschaftliche Reaktionsvermögen gegenüber extremistischen Entwicklungen und ideologischer Gewalt. Ziel ist es, deren Ausbreitung frühzeitig zu erkennen und wirksam entgegenzuwirken. Dafür bringt modus|zad Akteur*innen aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Bildung und Wirtschaft zusammen und entwickelt gemeinsam mit ihnen neue Ansätze für die Extremismusprävention und Deradikalisierungsarbeit.

Das interdisziplinäre Team von modus|zad forscht zu Distanzierungs- und Radikalisierungsprozessen, evaluiert Präventionsmaßnahmen und analysiert mittels quantitativer Monitorings und qualitativer Auswertungen Trends in radikalisierungsgefährdeten und extremistischen Milieus. Praxisnah aufbereitet bieten diese fundierte Handlungsgrundlagen für Akteur*innen der Extremismusprävention. In innovativen Praxis- und Netzwerkprojekten werden neue Formate und Methoden erprobt und der zivilgesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt. 

Ansprechperson: Elena Jung & Friedhelm Hartwig

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Mit fast 40 Mitgliedsorganisationen in ganz Deutschland steht die BAG RelEx für die Vielfalt an Ansätzen Methoden der Radikalisierungsprävention und spiegelt die langjährigen Erfahrungen im Arbeitsbereich wider.

Die BAG RelEx bietet eine Plattform für Vernetzung, fachlichen Austausch, inhaltliche Weiterentwicklung sowie die Interessenvertretung der zivilgesellschaftlichen Träger im Arbeitsfeld. Ihr Anspruch ist es sowohl die zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit zu vernetzen als auch anderen Akteur*innen Einblicke zu geben und sich in aktuelle Debatten einzubringen. Darüber hinaus ist die BAG RelEx Ansprechpartnerin für Vertreter*innen aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Medien zu den Themen religiös begründeter Extremismus, Islamismus, Prävention und Demokratieförderung.

Die BAG RelEx hat die Koordination von KN:IX connect inne.

Ansprechpersonen: Jamuna Oehlmann & Charlotte Leikert