#schongelaufen – Traumasensibler Umgang mit vulnerablen Zielgruppen in der Sekundär- und Tertiärprävention

Im Beratungskontext der Sekundär- und Tertiärprävention spielt die Aufarbeitung von traumatischen Erlebnissen immer wieder eine große Rolle. Vor allem junge Geflüchtete sind häufig (komplex) traumatisiert, in kein festes soziales Umfeld eingebunden und stehen in besonderem Fokus von extremistischen Akteur*innen. In der Vergangenheit wurden immer wieder gezielt Anwerbungsversuche aus dem islamistisch-salafistischen Milieu unternommen. Durch Flucht- und Diskriminierungserfahrungen bedingte Vulnerabilitäten werden von extremistischen Akteur*innen immer wieder ausgenutzt.

Im Rahmen des Online-Workshops am 9. Dezember 2021 kamen Fachkräfte aus dem Bereich der Sekundär- und Tertiärprävention zusammen, um gemeinsam zu diskutieren, wie Distanzierungsansätze im Kontext einer traumasensiblen Beratung gestaltet werden können.

Zu Beginn der Veranstaltung stellte Sibylle Rothkegel (Diplom-Psychologin) grundlegende Forschungserkenntnisse zur Entwicklung von Traumatisierungen im Kontext von Flucht und Vertreibung vor. Basierend auf den Annahmen von Hans Keilson zur sequentiellen Traumatisierung wird Trauma nicht als Einzelerfahrung verstanden, sondern als sozialer Prozess. Dieser wird von den Wechselwirkungen zwischen der sozialen Umwelt und der psychischen Befindlichkeit von Individuen bestimmt. Die traumatischen Erfahrungen, die Menschen mit Fluchthintergrund widerfahren können, lassen sich in verschiedene Sequenzen einteilen: vom Beginn der Flucht über den Fluchtweg sowie der ersten Zeit am Ankunftsort bis hin zur anschließenden „Chronifizierung von Vorläufigkeit“. Damit beschreibt Sibylle Rothkegel den häufig von Übergangslösungen geprägten Zustand für geflüchtete Personen und spricht daher von einem „ongoing-Trauma“. Dies treffe insbesondere zu, wenn die Erfahrungen am Ankunftsort von Ausgrenzung und Diskriminierung geprägt sind.

Anschließend wurden die Bedeutung und Folgen von Traumata gemeinsam mit den Teilnehmer*innen diskutiert. Ein zentraler Kernpunkt für einen traumasensiblen Umgang mit Klient*innen ist ein Verständnis dafür, dass traumatisierte Personen auf sozialer, physischer und psychischer Ebene betroffen sind. Traumatische Erfahrungen gehen einher mit Gefühlen von Bedrohung, Angst, totaler Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die dauerhafte Erschütterung des Selbstverständnisses und des Vertrauens in die Welt kann zu psychischen und somatischen Beschwerden sowie zu sozialen Beeinträchtigungen führen. Den Betroffenen sind häufig alle Ressourcen des Handelns und Reagierens genommen. Symptome von Traumatisierungen, die mitunter stark verzögert auftreten, sind das Wiedererleben der traumatischen Ereignisse in Albträumen oder Flashbacks, ein Dissoziieren sowie ein Vermeidungsverhalten gegenüber Reizen, die direkt oder indirekt mit dem Trauma verbunden sind. Weitere Symptome sind Übererregung, andauernde erhöhte Aufmerksamkeit, Unruhe, Schlafstörungen, Konzentrations- und Leistungsschwäche, plötzliche aggressive Impulsdurchbrüche, Überschusshandlungen oder Orientierungslosigkeit. Bei früh traumatisierten Menschen kann es zu einem sog. Entwicklungstrauma kommen, das sich durch eine verzögerte Entwicklung oder Bindungsstörung äußert.

Im gemeinsamen Austausch wurde über spezifische Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit traumatisierten Klient*innen in der Beratungsarbeit diskutiert. Betont wurde, dass der respektvolle Umgang mit Grenzen – sowohl des Gegenübers als auch der eigenen – sowie ein bewusster Umgang mit Themen wie Macht und Ohnmacht die Basis von traumasensibler Beratung sein sollten. Im Rahmen der Biografiearbeit können belastende Erlebnisse in die Lebensgeschichte der Klient*innen eingeordnet und dysfunktionale Einstellungen und Überzeugungen mit der Zeit verändert werden, die sich auf der Basis erlittener Traumata entwickelt haben. Wichtig ist, Klient*innen über mögliche Symptome und Reaktionen auf traumatisierende Situationen aufzuklären, da diese bei Betroffenen große Angst erzeugen können und nicht immer einzuordnen sind.

Zentrale Diskussionspunkte:

– Komplexe Traumatisierungen können sich unter langfristigen Bedingungen von Angst, Verdrängung, Gewalt und plötzlicher Trennung von nahen Bezugspersonen entwickeln. Das Ausmaß ist dabei abhängig von der Art, den Umständen und der Intensität der traumatischen Einwirkung sowie dem Entwicklungsstand der Personen. Maßgeblichen Einfluss hat der Umstand, ob es vor, während und nach der Traumatisierung schützende Faktoren gegeben hat. Insbesondere Aspekte der sozialen (Un-)Sicherheit beeinflussen die Entwicklung von Traumata.

– Flucht und Vertreibung können Erfahrungen sein, die traumatisierend wirken. Dabei ist es jedoch wichtig festzuhalten, dass nicht alle Menschen mit Fluchterfahrung an Traumafolgen leiden. Darüber hinaus liegt auch nicht bei allen Personen mit einem Radikalisierungsgrad eine Traumatisierung vor.

– Für den Heilungsprozess spielt es eine entscheidende Rolle, ob die betroffenen Personen soziale Unterstützung erfahren. Gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung anstatt Abwertung und Diskriminierung können bei der Überwindung der Traumatisierung ausschlaggebend sein.

– Der Schwerpunkt sozialpädagogischer Unterstützung psychisch belasteter und traumatisierter Klient*innen liegt auf ihrer Stabilisierung. Es kann hilfreich sein, in der Beratung zu betonen, dass die möglichen Symptome eine normale, menschliche Reaktion sind.

– Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass für einen traumasensiblen Umgang vor allem die Haltung sowie das Wissen über die Bedeutung und Wirkung von Traumatisierungen ausschlaggebend sind. Darüber hinaus kann es hilfreich sein, Betroffenen Einflussmöglichkeit und Kontrolle über die Situation zu geben, in der sie sich befinden.

AUSBLICK

Die teilnehmenden Praktiker*innen äußerten den Wunsch nach weiteren Formaten zum vertieften Erfahrungsaustausch hinsichtlich traumasensibler Handlungsmöglichkeiten mit Klient*innen in der Sekundär- und Tertiärprävention. Eine Vertiefung der praxisorientierten Strategien und der Auseinandersetzung mit der Frage, wie Reaktivierungen von traumatischen Ereignissen und Situationen im Beratungskontext vermieden werden können, wird für 2022 angestrebt.

Weiterführende Links und Literatur

Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für
Flüchtlinge und Folteropfer – BAfF e.V..2017. Traumasensibler und empowernder Umgang mit Geflüchteten. Ein Praxisleitfaden: https://www.baff-zentren.org/wp-content/uploads/2018/11/BAfF_Praxisleitfaden-Traumasensibler-Umgang-mit-Gefluechteten_2018.pdf, zuletzt abgerufen am 18.01.2022.

Rothkegel, Sibylle. 2017. Fluchthintergründe: Fluchtbewegungen in individuellen und globalen Kontexten. Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.

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