Übergänge gestalten
Deradikalisierung im und nach dem Justizvollzug
Der Artikel von Franziska Kreller und Thomas Mücke (VPN) erschien erstmals im Rahmen des KN:IX Report 2023.
Was ist eigentlich Deradikalisierungsarbeit – noch dazu im Gefängnis? Welche Arbeitsschritte und welche Methoden spielen eine Rolle, welche Ziele verfolgt sie? Der folgende Beitrag wirft einen detaillierten Blick in das Feld der indizierten Prävention. Theoretische Grundlagen der Beratungsarbeit werden dabei ergänzt durch praxisnahe Einblicke aus Justizvollzug und Bewährungshilfe.
Deradikalisierung beschreibt einen Prozess individueller Distanzierung von menschenverachtenden Ideologien sowie der nachhaltigen Verhinderung von Handlungen, die gegen die Menschen- und Grundrechte gerichtet sind. Damit ist mehr als nur die klassische Ausstiegsarbeit gemeint, die eine bewusste Entscheidung des Ausstiegs aus der extremistischen Szene voraussetzt. Deradikalisierungsprozesse beginnen oft bei gefährdeten Personen, die noch keine (endgültige) Entscheidung über die Distanzierung von extremistischen Einstellungen und Szenen getroffen haben und ggf. noch extremistische Einstellungen aufweisen. Daher hat Deradikalisierungsarbeit häufig einen aufsuchenden Charakter und muss die Motivation zur Veränderung bei Betroffenen erst noch anregen. Eine Inhaftierung kann einen geeigneten Zugang bieten, um aus einer sekundären Bereitschaft, die sich erfahrungsgemäß aus Haftverkürzungswünschen speist, eine primäre Motivation entstehen zu lassen.
Die Fallarbeit beruht auf der Grundlage einer langfristigen Beziehungsarbeit. Die Kunst der Beratung besteht darin, in einem Zwangskontext reelle Veränderungsprozesse anzustoßen, die mit der Haftentlassung nicht ihre Gültigkeit verlieren. Dabei werden die Klient*innen im Kontext ihrer Lebensgeschichte und ihres Lebensumfeldes betrachtet. Maßnahmen vor allem der aufsuchenden Sozialarbeit, der systemischen Beratung, der Antigewaltarbeit, der politischen Bildungsarbeit und der sozialen Integration können verbunden werden. Hierdurch sollen nicht nur Distanzierungsprozesse vom Extremismus angeregt und begleitet, sondern auch die langfristigen Gefahren einer Re-Radikalisierung bzw. Re-Inhaftierung minimiert werden.
Aufbau einer professionellen Arbeitsbeziehung
Die schwierigste Phase der Deradikalisierungsarbeit ist die Kontaktaufnahme. Da sich der Insasse oder die Insassin oft nicht selbst an eine Beratungsstelle wendet, sind Hinweise aus der Justizvollzugsanstalt notwendig. Hierfür braucht es eine gut strukturierte und transparente Zusammenarbeit mit den Justizbehörden. Um beim Erstkontakt einen guten Zugang herzustellen, ist sowohl die Persönlichkeit als auch die Grundhaltung und die Art und Weise entscheidend, wie man in das Gespräch hineingeht. Erfahrungsgemäß entscheidet der*die Gesprächspartner*in bei solchen Erstgesprächen innerhalb kürzester Zeit, ob er*sie sich verschließt oder öffnet. Dabei spielen Gestik, Mimik, Sprache sowie die Berater*innen-Präsenz wichtige Rollen. Bei der Gesprächsführung achten die Berater*innen auf folgende Punkte:
- Die Kommunikation erfolgt auf Augenhöhe und ohne Demütigung.
- Die Gesprächsführung ist nicht konfrontativ und belehrend, sondern hinterfragend.
- Ein starres und manifestes Denken beim Gegenüber soll irritiert und verunsichert werden. Jemanden überzeugen zu wollen oder kommunikative Kampfbeziehungen führen zu verhärteten Fronten und verschließt den Zugang zum*zur Klient*in.
- Berater*innen treten nicht als Autoritätsperson, sondern als Vertrauens- und Bezugsperson auf.
- Authentizität is the key!
Die Herstellung einer Vertrauensbasis stellt eine überaus anspruchsvolle Aufgabe dar, da es gilt, jene Menschen zu erreichen, die von der Gesellschaft und den staatlichen Organen häufig hochgradig entfremdet sind. Der Kontaktaufbau gelingt nicht durch die Vermittlung von Gegennarrativen, sondern durch eine grundsätzlich interessierte Haltung gegenüber den Betroffenen und ihrer Lebenssituation. Die Berater*innen nehmen die Klient*innen mit ihren individuellen Stärken und Schwächen an und reduzieren sie nicht auf ihre extremistischen Einstellungen oder Taten. Es geht um das Verstehen der Entwicklungen und nicht um das Verständnis für die Taten.
Bei der Gesprächsführung sind eine verlässliche Beziehungsarbeit, Beziehungsfähigkeit und Empathievermögen unabdingbar. Schließlich werden in diesen Gesprächen unter anderem Intimes und Vertrauliches, Brüche und Krisen, Tat und Motivation sowie mögliche Rechtfertigungsmuster thematisiert und gemeinsam bearbeitet.
Es geht in der Beratung darum, das Denken, Fühlen und Handeln der Klient*innen zu erklären, nicht zu rechtfertigen. Diese Form der Akzeptanz kann dazu führen, dass die Klient*innen sich schrittweise für die Beratung öffnen können. Berater*innen müssen besonders darauf achten, dass sie authentisch bleiben, um für die Klient*innen kongruente und nahbare Gesprächspartner*innen sein zu können. Dazu gehört ein fortwährendes selbstkritisches Betrachten ihrer professionellen Arbeitsweise – persönlich und als Team.
Samet Er: „Das ist nicht meine Beratungsart, wenn ich sage: ‚Okay, ich muss jetzt mit dir über die Radikalisierung sprechen!‘ Das mache ich niemals, weil es keinen Sinn macht. Dann sind wir auch nicht authentisch dabei, weder die Klient*innen, noch wir als Berater*innen. Ich arbeite viel mit biografischen Gesprächen: ‚Wie war es denn eigentlich als Kind? Wie hast du bestimmte Krisen für dich geregelt?‘ Das wirkt vielleicht zunächst abstrakt. Das klare Metathema ist dabei aber immer die Radikalisierung.“[1]
Vermeidung von Selbst- und Fremdgefährdung
Die extremistische Szene agiert auf hochaggressivem Niveau und fordert immer wieder zum „Kampf“ gegen die jeweils identifizierten „Feinde” auf. In diesem Risikobereich müssen pädagogische Aktivitäten potenzielle Selbst- und Fremdgefährdungslagen bei Klient*innen in den Blick nehmen. Hierzu ist die Kooperation mit nahestehenden Personen, wie z. B. Familienangehörigen, zentral. Die Bindung an emotionale Schlüsselpersonen kann eine wichtige Hemmschwelle für zerstörerische Handlungen sein.
Samet Er: „Dann fühlt sich der Klient automatisch wohl, weil er weiß, er hat seine Familie, seiner Familie geht es gut. Schwierig wird es bei Fällen, die keine Familie haben. Oder die Familie unterstützt nicht. Manchmal sogar das Gegenteil – es wird versucht, niederzumachen und psychisch Druck aufzubauen. Das ist sehr schwierig, weil die Person dann komplett auf sich allein gestellt ist, niemanden hat, mit dem sie sprechen oder Hilfe erwarten kann. Und da sind wir dann gefragt. In der Regel braucht die Person eine intensivere Unterstützung.“
Entwicklung von Dialogfähigkeit
Extremistische Szenen sind bekannt für eine Gehorsamsorientierung, verbunden mit einer Kultur der Angst, das heißt abweichendes Denken und Verhalten werden sanktioniert. In der Beratung ist es deshalb zentral, dass das Gegenüber wieder eigenständiges Denken entwickelt, andere Sichtweisen angstfrei anerkennen bzw. annehmen und selbstbewusste und eigenverantwortliche Entscheidungen treffen kann. Deradikalisierung kann nur dann nachhaltig gelingen, wenn sich die zu beratende Person in einer Atmosphäre des respektvollen Umgangs, sowohl mit sich selbst als auch mit ihren religiösen oder politischen Vorstellungen, wiederfindet.
Entscheidend ist gerade bei dieser Zielgruppe, dass die thematische Auseinandersetzung keinen missionierenden, sondern einen dialogischen Charakter hat. Nur der ehrliche Respekt vor den vorhandenen Erklärungsansätzen ermöglicht es, dass sich die betroffenen Personen für den Prozess des Hinterfragens öffnen. Argumentative Gegenrede führt hingegen zu Abwehr und zu einer Verfestigung radikaler Ideologien.
Integration in religiöse „Räume“ und Diskurse
Religiöse Diskurse sind mit den Inhaftierten dann notwendig, wenn die Betroffenen selbst religiöse Fragestellungen einbringen. Und das passiert nicht selten. Diese Fragen können für sie von zentraler Bedeutung sein – so können religiöse Regeln und buchstabengetreue Koranauslegungen als bindender empfunden werden als die Gesetze eines Rechtstaates. In den Gesprächen werden Selbstreflexionsprozesse angeregt, in denen die Klient*innen beginnen, ihre Begründungen zu hinterfragen. Im Zuge dessen interessieren sie sich auch für die Perspektive der pädagogischen Mitarbeiter*innen auf die entsprechenden religiösen Texte. Werden solche Fragen von den Klient*innen thematisiert, ist das ein Anlass für die Berater*innen darüber zu sprechen, weil auch die jeweilige Krise in diese Fragen eingebunden sein kann. Das bedeutet, dass sich die Thematisierung von Religion an den Bedarfen der Klient*innen orientiert und nicht von außen an sie herangetragen wird.
Handlungsleitend ist in der Deradikalisierungsarbeit im Feld von islamistischem Extremismus vor allem: Nicht der „Ausstieg“ aus der Religion ist das Ziel, sondern die Abkehr von Demokratie- und Menschenfeindlichkeit und der damit einhergehenden Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt.
Toleranz gegenüber Widersprüchen
Neue Perspektiven zu eröffnen und unterschiedliche Sichtweisen annehmen zu können, sind Grundprinzipien jeglicher Bildungsarbeit. Bei Menschen, die in ideologischer Monokausalität verhaftet sind, kann dies nur prozesshaft geschehen. Der etappenweise Einsatz von vielfältigen Teams mit unterschiedlichen Weltanschauungen, Herkünften und Qualifikationen, wie auch der Aufbau neuer sozialer Beziehungen unterstützen diesen Prozess.
Netzwerke und Kontakte jenseits der Szene
Die extremistische Szene will eine Gleichförmigkeit, indem sie Differenzen negiert und „Ungläubigen“ bzw. „Feinden“ das Existenzrecht abspricht. Sie sorgt dafür, dass Neumitglieder frühere soziale Kontakte (gegebenenfalls sogar familiäre Beziehungen) abbrechen, soweit sich diese Personen nicht ebenfalls missionieren lassen. Was bleibt diesen Menschen bei einem Verlassen der Szene noch übrig, wenn soziale Interaktionen und die Anerkennung der eigenen Person ausschließlich im extremistischen Milieu stattgefunden haben? Wie definieren sie sich neu? Der Aufbau alternativer Netzwerke unterstützt die Distanzhaltung zur extremistischen Szene und erleichtert die Entwicklung eines facettenreichen Selbstbildes abseits destruktiver Gemeinschaften.
Auch schulische und berufliche Integrationsmaßnahmen sind von zentraler Bedeutung für den Aufbau von Netzwerken und Kontakten – insbesondere für junge Menschen. Sie ermöglichen soziale Partizipation und die Schaffung eines neuen Selbstwertgefühls.
Biografisches Verstehen
Radikalisierungen und daran geknüpfte Gewaltanwendungen sind immer auch Ausdruck eigener lebensgeschichtlicher Erfahrungen, deren Wirkung die betroffene Person nicht nachvollzogen hat. Der Verlust eines engen Familienmitglieds kann beispielsweise der Grund für eine Flucht in die neue Gemeinschaft sein. Bruchlinien in der Geschichte eines Menschen werden von einschlägigen Rekrutierer*innen schnell erkannt. Schutzbedürftige Menschen werden so durch gezielte Ansprache emotional gebunden. Biografisches Verstehen hilft dabei, einen notwendigen Reflexionsprozess anzustoßen. Ziele des biografischen Arbeitens sind:
- Initiierung eines diagnostischen Prozesses (als Grundlage professioneller Deradikalisierungsarbeit)
- Förderung von Emotions- und Empathiefähigkeit
- Erinnerungsarbeit zu eigenen Demütigungserfahrungen
- Verstehen der eigenen „Gewalt- und Extremismuskarriere”
- Erkennen eigener biografischer Stärken
Gespräche zur Biografie der Klient*innen ermöglichen auch die gemeinsame Identifikation weiterer individueller Bedürfnisse, deren Nichtbefriedigung möglicherweise Radikalisierungsprozesse in der Vergangenheit begünstigt hat und für die im Sinne einer Deradikalisierung zukünftig Ersatzangebote (funktionale Äquivalente) gefunden werden müssen. Dabei hilft eine Orientierung an diagnostischen Tools[2], um eine begründete und zielgerichtete Hilfeplanung zu formulieren.
Übergangsmanagement und Stabilisierungscoaching nach der Entlassung
Radikalisierungsverläufe sind so vielfältig wie die jeweiligen sozialen und emotionalen Bedingungen, in denen sie stattfinden. Soziale Perspektivlosigkeit, Anerkennungsdefizite im sozialen Umfeld, innerfamiliäre Konfliktdynamiken sowie Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen können Ursachen von Entfremdungswahrnehmungen und -prozessen sein. Deradikalisierungsarbeit beinhaltet daher oft sozialarbeiterisch-pädagogische Komponenten, die den Blick auch auf die „generellen“ Problemlagen von Menschen richtet. Ohne die Ergänzung der Arbeit durch diese soziale Perspektive könnte eine „Entzauberung“ der extremistischen Ideologie Menschen vor tiefergehende Probleme stellen, weil sie eigentlich eines sozialen Halts bedürfen. Dieser Schwerpunkt kommt vor allem in der Phase der Haftentlassung zum Tragen:
Samet Er: „Wenn meine Klient*innen keine familiäre Unterstützung haben, dann sind wir Berater*innen dafür zuständig, ihnen in Alltagsdingen zu helfen. Ich bin der Überzeugung, wenn man mit einer Person Deradikalisierungsarbeit macht, dann muss man das umfassender verstehen und nicht sagen: ‚Wohnung, Bett und Matratze? Das ist nicht mein Job. Das musst du machen. Ich will mit dir um 15:00 Uhr über deine Radikalisierung sprechen.‘ Das macht keinen Sinn. Da kann ich die Person nicht erreichen, weil die sich erstmal Sorgen macht, wo sie heute Abend schläft. Deswegen sage ich dann: ‚Komm, wir haben heute um 15:00 Uhr den Beratungstermin. Lass uns gemeinsam erstmal nach einer Matratze schauen, ob wir da irgendwas finden.‘ Und wenn wir dann die Matratze in sein Zimmer gestellt haben und er weiß, dass er am Abend ruhig schlafen kann, können wir auch über die wesentlichen Beratungsthemen sprechen. Dann öffnet er sich. Wirklich, dann spricht er über alles, weil er weiß, am Abend hat er einen ruhigen Kopf. Und weil ich ihn unterstützt habe, spricht er offener, weil er mir vertrauen kann und weiß, ich bin für ihn da. Und dann redet er. Und ich bekomme die notwendigen Infos, um mit ihm gut weiterarbeiten zu können.“
Um die Gefahr einer Re-Radikalisierung bzw. Re-Inhaftierung vorzubeugen, sind Unterstützungsangebote nach der Haft unabdingbar. Die Beratungsnehmer*innen werden in dieser Zeit intensiv betreut und bei Wiedereingliederungsmaßnahmen für eine positive Zukunftsplanung begleitet. Im Übergangsmanagement wird hierzu die Haftentlassung strukturiert vorbereitet.
Samet Er: „Im Idealfall machen wir das so, dass wir mit dem Übergangsmanagement mindestens drei bis vier Monate vorher anfangen, um die Person auf die Zeit nach der Entlassung vorzubereiten. Dazu gehört die Arbeit mit den Eltern oder aber entsprechend mit denjenigen, die ihn begleiten werden. Das kann auch die Familie sein, also die Ehefrau, das können die Kinder sein. Das können auch irgendwelche Freunde sein – das ist immer ganz unterschiedlich. Für uns hat das oberste Priorität, dass wir versuchen, nahestehende Personen oder die Angehörigen mit einzubeziehen. Das heißt, dass wir dann auch außerhalb der Anstalt Treffen mit den Unterstützungspersonen vereinbaren und schon erste Gespräche führen. In der jeweiligen Stadt, wo der Klient dann unterkommen wird.“
„Die eigentliche Arbeit ist nach der Entlassung, wenn das richtige Leben beginnt!“
Nach der Haftentlassung wird die Person engmaschig betreut, um einen positiven Integrationsweg zu stabilisieren (z. B. Perspektivenentwicklung, Strukturierung des Alltags, Arbeitsvermittlung, schulische/berufliche Bildung, Regelung individueller Bedarfe). Das kann sich, je nach Ausmaß der Bewährungsauflagen, für die Haftentlassenen als unterschiedlich schwierig darstellen.
Samet Er: „Manche haben Bewährungsauflagen, wie zwei-, dreimal in der Woche die Polizei aufzusuchen. Das kann sehr anstrengend sein – besonders wenn es weit weg ist und man den Bus nutzen muss, Tickets zahlen muss. Für die ersten Wochen bieten wir dann an, dass wir sie begleiten. Auch wenn es schwierig ist für uns, eben sehr ressourcenintensiv. Ich erinnere mich an einen Syrien-Rückkehrer, der hat fünfeinhalb Jahre Bewährung bekommen. Das ist wirklich eine große Nummer. Und er musste zweimal die Woche zur Polizei, 3 Jahre lang. Später wurde entschieden, es reicht, wenn er nur einmal die Woche kommt. Aber er hat es durchgezogen. Natürlich gab es in der ersten Zeit Schwierigkeiten. Das hieß für uns, dass wir ihn dann sehr intensiv begleitet haben, also auch täglich an ihm dran waren, wenn er draußen unterwegs war. Wir telefonierten, schrieben WhatsApp oder waren persönlich dabei. Allgemein ist man viel mit Behördensachen unterwegs: Man ist auf Wohnungssuche, Arbeitssuche. Viele haben zu kämpfen mit Aufenthaltsgenehmigungen oder mit Arbeitsgenehmigung etc. Wer wegen Terrorismus oder Beihilfe verurteilt worden ist, hat es meist schwerer, weil manche Behörden da sehr vorsichtig sind, Angst haben. Es kann passieren, dass Klient*innen weggeschickt werden, zum Beispiel vom Jobcenter oder sonst wo. Das frustriert natürlich. Sie ziehen sich dann zurück und wollen nichts mehr zu tun haben mit der Welt. Aber das Leben geht weiter. Sie müssen sich trotzdem regelmäßig bei der Polizei melden. Und wenn nicht, dann entstehen Probleme. Wir versuchen dann zu vermitteln: ‚Wenn es heute nicht klappt, dann klappt es beim nächsten Mal.‘ Manchmal helfen auch die jeweils zuständigen Personen vom LKA. Das hat schon ein anderes Gewicht, wenn das LKA das Jobcenter anruft. Genauso die lokalen Polizeibehörden. Die sagen dann auch Unterstützung und Hilfe zu, weil das LKA signalisiert, dass das wichtig ist.“
Zudem ist es wichtig, Regelstrukturen wie das LKA, die Bewährungshilfe, (Aus-)Bildungseinrichtungen, Jugend- und Geflüchtetenhilfe oder das Jobcenter sowie weitere relevante Netzwerkpartner*innen aktiv und rollenspezifisch im Rahmen eines Kompetenzverbundes einzubeziehen.
Samet Er: „Dann machen wir die Arbeit mit den Behörden. Da ist die Bewährungshilfe mit dabei, die lokale Polizei, je nachdem. Manchmal auch das LKA, insbesondere bei Rückkehrer*innen oder bei hochradikalisierten Personen. Wir versuchen dann, alle relevanten Akteur*innen – das kann auch die Geflüchtetenhilfe sein – schon mal zu sensibilisieren. Und so entstehen kleine Netzwerke vor Ort. Wir initiieren dann regelmäßige Fallbesprechungen, in denen dann die wichtigsten Sachen reflektiert werden. Manchmal machen wir auch nur unseren Teil, also Beratungsgespräche und sonst nichts. Alles andere erledigt die Bewährungshilfe. Es gibt aber auch Bewährungshelfer*innen, die sagen: ‚Hey, lasst uns das gemeinsam machen bitte, ich brauche Unterstützung.‘ Und dann sind wir natürlich da.“
Fallabschluss und Kriterien zur Messung der Zielerreichung
Es gibt eine große Anzahl von Kriterien, die als Indikatoren dafür dienen können, ob die Arbeit erfolgreich war. Der Fallabschluss zeichnet sich idealerweise durch eine Mehrheit der folgenden Merkmale aus (Mücke 2017):
- Zunahme der Dialogfähigkeit
- Zulassen von Zweifeln an der eigenen Weltanschauung, Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Radikalisierungsprozesses
- Entwicklung von Ambiguitätstoleranz
- Aufbau von differenten sozialen Kontakten jenseits der extremistischen Szene
- Distanzhaltung zur extremistischen Szene (Gruppen, Einzelpersonen und Medien)
- Orientierung auf einen persönlichen Zukunftsplan jenseits eines „politischen (oder religiösen) Kampfes“
- Keine neuen Straftaten, Einhalten des Sicherheitsplans
- Kein Vorliegen einer Selbst- und Fremdgefährdung
- Die Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung ist erkennbar
- Neuorientierung jenseits extremistischen Gedankenguts
- Soziale Integration in wichtigen Lebensbereichen
- Beteiligte Akteur*innen (wie z. B. Familie, Schule, Sicherheitsbehörden) sehen keinen weiteren Handlungsbedarf
Samet Er: „Der Fallabschluss erfolgt offiziell mit Bewährungsende. Wir sagen dann: ‚Du musst uns jetzt nicht mehr treffen, weil du keine Auflagen mehr hast. Das ist dir überlassen, wenn du magst, kannst du uns kontaktieren, wenn nicht, dann eben nicht.‘ Ich sag mal so, zu 99% möchten sie weiter mit uns in Kontakt bleiben. Natürlich nicht mehr jede Woche. Wir können gerne einmal im Monat oder alle 6 Wochen sprechen. Es gibt dazu noch einen Abschlussbericht. Den schauen wir uns gemeinsam an mit Blick auf die Entwicklungen, die gemacht wurden.“
Den Eindeutigkeits- und Verführungsangeboten der extremistischen Szene gilt es, dialogorientierte Angebote entgegenzustellen. Berater*innen mit pädagogischen und/oder sozialarbeiterischen Kompetenzen sind in diesen langfristigen Prozessen der Extremismusdistanzierung für die betroffenen Menschen verlässliche und authentische Ansprechpartner*innen. Hierdurch konnte in den letzten Jahren eine gelingende Deradikalisierungsarbeit in Justizvollzug und Bewährungshilfe implementiert werden – doch das ist nicht selbstverständlich. Nötig sind weiterhin innovative, multidisziplinäre und zielgruppengerechte Präventionsangebote. Um diese sicherzustellen, bedarf es einer Verstetigung des bestehenden zivilgesellschaftlichen Engagements, besonders in geschlossenen Systemen, wie dem Strafvollzug.
Verweise
[1] Samet Er ist Leiter der Beratungsstelle Niedersachsen (Violence Prevention Network). Das Team arbeitet seit 2017 im Justizvollzug und in der Bewährungshilfe des Landes Niedersachsen. Die Arbeit umfasst Maßnahmen der universellen, selektiven und indizierten Prävention für Jugendliche, (junge) Erwachsene, ihre Angehörigen sowie für Fachpersonal mit Fragen im Kontext islamistischer Extremismus. 2022 neu hinzugekommen sind die Phänomenbereiche Rechtsextremismus und Antisemitismus.
[2] Die Kombination von Instrumenten, wie Genogramm, Netzwerkkarte, Inklusions-Chart und Biografiebalken, erlaubt eine ganzheitliche Einschätzung der biografischen Verläufe und sozialen Positionen.
Literaturempfehlung
Mücke, Thomas (2017): Pädagogische Handlungsansätze zur Deradikalisierung im Arbeitsfeld des religiös begründeten Extremismus, in: Möller, Kurt & Neuscheler, Florian (Hrsg.): „Wer will die hier schon haben?” – Ablehnungshaltungen und Diskriminierung in Deutschland, S. 242-269, Stuttgart.
Die Autor*innen
Franziska Kreller ist M. A. Soziologin und verantwortet bei Violence Prevention Network das Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX). Sie engagiert sich leitend in der AG Strafvollzug und Bewährungshilfe, der Vernetzungsstelle zivilgesellschaftlicher Organisationen im Kontext Extremismusprävention und Distanzierungsberatung in und nach der Haft. Als Fachbereichsleitung von Violence Prevention Network Digital realisiert sie zudem neue digitale Ideen der Radikalisierungsprävention und Beratung.
Thomas Mücke ist Dipl.-Pädagoge und Dipl.-Politologe sowie Mitbegründer und Geschäftsführer von Violence Prevention Network. Er ist zudem bundesweit als Dozent, Referent und Coach zu Methoden der Antigewaltarbeit, Konfliktmanagement, Jugendarbeit, Straßensozialarbeit und Rechtsextremismus tätig.