#schongelaufen – Bedrohungsmanagement – Ein Workshop zum Umgang mit Hochrisikoklient*innen

Im Rahmen des Online-Workshops am 09. Juni 2021 kamen Fachkräfte aus dem Bereich der sekundären und tertiären Extremismusprävention/Deradikalisierung zusammen, um gemeinsam den Fragen nachzugehen, welche Möglichkeiten es gibt, konkrete Bedrohungslagen frühzeitig zu erkennen und welche Indikatoren daraus für den diagnostischen Prozess abgeleitet werden können. Zudem wurden Handlungsmöglichkeiten diskutiert, wie mit konkreten Bedrohungssignalen von radikalisierten Menschen umzugehen ist und wie sich Mitarbeiter*innen in Gefährdungssituationen selbst schützen können.

Zu Beginn der Veranstaltung stellte Thomas Mücke von Violence Prevention Network (VPN) verschiedene individuelle und gesellschaftliche Faktoren vor, die zur Identifikation von Risiken und damit möglichen Gefahrenmomenten beitragen. Diese müssen im gesamten Beratungsverlauf betrachtet und immer wieder hinterfragt werden. Deutlich wurde, dass bei der Risikoidentifikation eine multiperspektivische Analyse des Falls nötigt ist. In der Diskussion mit den Teilnehmenden wurde das vielbeschworene Bauchgefühl betont, welches häufig weniger eine diffuse Intuition, sondern eine auf Arbeitserfahrung beruhende Einschätzung ist und daher ernst genommen werden muss. In einem zweiten Schritt muss in kollegialer Fallberatung und der Analyse aller vorliegenden Informationen und Einschätzungen das Gefühl in konkrete Anhaltspunkte übersetzt werden. Auf Grundlage dieser situativen Analyse konkreter Gefahrenmomente wird gemeinsam über die im Ernstfall notwendige Weiterleitung des Falls an die Sicherheitsbehörden beraten.

Notwendig ist ein konkretes Sicherheitskonzept. Die darin enthaltenen sicherheitsfokussierten Leitlinien bestehen aus allgemeinen und situativen Maßnahmen des Risikomanagements. Die Anwendung der Maßnahmen ist abhängig vom jeweiligen Arbeitsbereich. Allgemeine Maßnahmen müssen durch alle Mitarbeitenden umgesetzt werden, situative Maßnahmen gelten hingegen zusätzlich für Mitarbeiter*innen mit Klient*innen-Kontakt (Berater*innen).

Potentielle Gefährdungssituationen erfordern einen systematischen Umgang. Wichtig für solche Beratungsgespräche ist sowohl die Vorbereitung, zu der u.a. die genaue Planung der Kontaktsituationen und -settings gehört, als auch die Nachbereitung von Bedrohungssituationen. In der Retrospektive muss gemeinsam ggf. mit externen Kolleg*innen eine intensive Aufbereitung des Falls stattfinden. Als essentielle Arbeitsgrundlage wurde in der Diskussion vor allem der Schutz der Anonymität der Berater*innen herausgestellt, der u.a. maßgeblich durch die Nutzung eines Dienstausweises hergestellt werden kann.

 

Zentrale Diskussionspunkte:

  • Ein systematisches Risikomanagement ist die Grundlage der Arbeit mit Hochrisikoklient*innen.
  • Auch wenn jede Bedrohungslage einen eigenen Charakter hat und manche Situationen unberechenbar bleiben, müssen im Vorfeld klare Rahmenbedingungen in Bezug auf Sicherheitslinien gesetzt werden, die ein schnelles Handeln in der Situation ermöglichen und einer Verantwortungsdiffusion vorbeugen.
  • Mögliche Risikofaktoren sind bei jeder*jedem Klient*in individuell und können sich im Laufe der Beratung verändern, weswegen eine regelmäßige und andauernde Risikoeinschätzung stattfinden muss. Einschätzungen sind immer nur Momentaufnahmen, die stets überprüft und im Kontext der jeweiligen Situation bewertet werden müssen. Sowohl der Prozess der Risikoidentifikation als auch die konkreten Sicherheitslinien müssen fortlaufend hinterfragt, neu verhandelt und an aktuelle Entwicklungen angepasst werden.
  • Die Arbeit mit Klient*innen, die sich in einer aussichtslosen Situation befinden und Stabilisierungsmaßnahmen kaum noch möglich sind, wurde als herausforderndste Situation herausgestellt. Von Personen, die sich keine positiven Zukunftsperspektiven mehr versprechen und keine sozialen Bindungen haben, geht ein Risiko für sich selbst, die Berater*innen und für die Gesellschaft aus. In kollegialen Fallberatungen, in die Kolleg*innen einzubeziehen sind, die nicht in die Beratung involviert sind, sollte dringend darüber gesprochen werden, ob weitere Warnzeichen oder Risikofaktoren erkannt werden können.
  • Eine weitere Herausforderung stellt das Spannungsverhältnis zwischen konkreten und diffusen Bedrohungslagen dar. Einerseits kann eine Alarmhaltung den Beziehungsaufbau mit den Klient*innen behindern. Andererseits müssen Bedrohungspotenziale ernst genommen und der Selbstschutz als Basis für die Arbeit erkannt werden. Im gesamtem Team sollte ein verschärftes Bewusstsein für Bedrohungssituationen vorhanden sein. Jenseits von Alarmismus und Selbstüberschätzung gilt es eine Sensibilität für mögliche Gefahrensituationen zu schaffen und eine Balance zu finden, die ein effektives und sicherer Arbeiten ermöglicht.
  • Praktiker*innen berichten von einer Veränderung hinsichtlich der Fallkonstellation. Vermehrt zeigt sich bei den Klient*innen ein psychisch labiler Zustand, weswegen der Ausbau der Zusammenarbeit mit Kolleg*innen, die psychologische oder therapeutische Kompetenzen haben, gewünscht wird.
  • Aufgrund unterschiedlicher Arbeitsverständnisse und -aufträge erfordert die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden klare Absprachen im Hinblick auf ein frühzeitiges Erkennen möglicher Bedrohungsszenarien und dem Umgang damit.

 

Weiterführende Links und Literatur

Annika von Berg, Judy Korn, Thomas Mücke, Dr. Dennis Walkenhorst. Einschätzung und Bewertung von Risiken im Kontext der Extremismusprävention und Deradikalisierung. Zwischen sicherheitspolitischem „Risk Assessment“ und pädagogischem „Resilience Assessment“, Violence Prevention Network, Schriftenreihe Heft Nr. 2, 2019.

Judy Korn, Thomas Mücke. Gewalt im Griff, Band 2: Deeskalations- und Mediationstraining, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2000.

 

AUSBLICK

Der Fachaustausch zwischen Akteur*innen der Sekundär- und Tertiärprävention wurde von den Teilnehmenden begrüßt und weitere Formate für den fachlichen Austausch im Allgemeinen und insbesondere über sicherheitsrelevante Aspekte der Arbeit gewünscht. Im KN:IX Report 2021 wird es ein Schlaglicht zum Thema Bedrohungsmanagement von Julia Handle und Thomas Mücke geben. Die Publikation erscheint zum Jahresende.

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IFAK e.V.

Die IFAK e.V. – Verein für multikulturelle Kinder- Jugendhilfe und Migrationsarbeit ist eine Selbstorganisation von Zugewanderten und Einheimischen. Sie verfügt über eine 50-jährige Erfahrung im Bereich der professionellen, transkulturellen, generationsübergreifende Arbeit in den verschiedensten Bereichen der Kinder- u. Jugendhilfe sowie der Migrations- und Flüchtlingsarbeit und ist im Paritätischen organisiert. Als einer der ersten fünf bundesweit agierenden Organisationen im Themenfeld Islamismus, hat sie die Präventionslandschaft seit 2012 aktiv mitgestaltet und ihre Expertise mit den vielfältigen gesellschaftlichen und fachlichen Herausforderungen stetig weiterentwickelt. Die IFAK e.V. ist eine der fünf Gründungsträger*innen der BAG RelEx. 

Themenzuständigkeit im Verbund:

  • sekundäre und tertiäre Prävention in der Islamismusprävention
  • Diversity – Ansätze in der Präventionsarbeit
  • Psychische Erkrankungen bei Klient*innen in der Distanzierungsarbeit
  • (Weiter-) Entwicklung Jugendhilfestandards in der Präventionsarbeit

Ansprechpersonen: Daniela Linka & Dr. Piotr Suder

modus|zad

modus|zad stärkt das gesellschaftliche Reaktionsvermögen gegenüber extremistischen Entwicklungen und ideologischer Gewalt. Ziel ist es, deren Ausbreitung frühzeitig zu erkennen und wirksam entgegenzuwirken. Dafür bringt modus|zad Akteur*innen aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Bildung und Wirtschaft zusammen und entwickelt gemeinsam mit ihnen neue Ansätze für die Extremismusprävention und Deradikalisierungsarbeit.

Das interdisziplinäre Team von modus|zad forscht zu Distanzierungs- und Radikalisierungsprozessen, evaluiert Präventionsmaßnahmen und analysiert mittels quantitativer Monitorings und qualitativer Auswertungen Trends in radikalisierungsgefährdeten und extremistischen Milieus. Praxisnah aufbereitet bieten diese fundierte Handlungsgrundlagen für Akteur*innen der Extremismusprävention. In innovativen Praxis- und Netzwerkprojekten werden neue Formate und Methoden erprobt und der zivilgesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt. 

Ansprechperson: Elena Jung & Friedhelm Hartwig

ufuq.de

ufuq.de ist anerkannter Träger der freien Jugendhilfe und arbeitet an der Schnittstelle von Pädagogik, politischer Bildung und Prävention mit einem Schwerpunkt auf Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus.

Im KN:IX connect ist ufuq.de für den Bereich der universellen Prävention zuständig und unterstützt bundesweit Fachkräfte und Einrichtungen in der Entwicklung und Umsetzung von Präventionsformaten, in die auch Erfahrungen aus angrenzenden Feldern wie Demokratieförderung und Antidiskriminierungsarbeit einfließen.

ufuq.de bietet Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte an, erstellt Materialien für ihre Praxis und führt darüber hinaus an verschiedenen Standorten Workshops für Jugendliche zu Themen, Fragen und Konflikten in der Migrationsgesellschaft durch. Ziel der Arbeit von ufuq.de ist es, zu einem solidarischen Miteinander beizutragen.

Ansprechpersonen: Sakina Abushi & Dr. Götz Nordbruch

BAG RelEx

Die Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus e. V., kurz BAG RelEx, ist die Dachorganisation der zivilgesellschaftlichen Prävention im Bereich religiös begründeter Extremismus. Sie wurde 2016 gegründet und hat ihren Sitz in Berlin.

Mit fast 40 Mitgliedsorganisationen in ganz Deutschland steht die BAG RelEx für die Vielfalt an Ansätzen Methoden der Radikalisierungsprävention und spiegelt die langjährigen Erfahrungen im Arbeitsbereich wider.

Die BAG RelEx bietet eine Plattform für Vernetzung, fachlichen Austausch, inhaltliche Weiterentwicklung sowie die Interessenvertretung der zivilgesellschaftlichen Träger im Arbeitsfeld. Ihr Anspruch ist es sowohl die zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit zu vernetzen als auch anderen Akteur*innen Einblicke zu geben und sich in aktuelle Debatten einzubringen. Darüber hinaus ist die BAG RelEx Ansprechpartnerin für Vertreter*innen aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Medien zu den Themen religiös begründeter Extremismus, Islamismus, Prävention und Demokratieförderung.

Die BAG RelEx hat die Koordination von KN:IX connect inne.

Ansprechpersonen: Jamuna Oehlmann & Charlotte Leikert