#schongelaufen – Ratlos bei Verschwörungsmythen?! Eine Konzeptwerkstatt zum Umgang mit Verschwörungsnarrativen

Im Rahmen der Konzeptwerkstatt am 15. Juni 2021 kamen Fachkräfte aus Praxis und Wissenschaft zusammen, um gemeinsam über einen geeigneten Umgang mit Verschwörungsmythen zu diskutieren. Ein besonderer Fokus lag dabei auf der Auseinandersetzung mit dem Aufbau, der Wirkweise und den Funktionen von Verschwörungsmythen. Darauf aufbauend wurden verschiedene Methodenansätze für den Umgang mit Verschwörungsmythen anhand von Beispielen aus der praktischen Arbeit diskutiert.

Lisa Geffken und Ferdinand Backöfer von der „Fachstelle für Politische Bildung und Entschwörung“ der Amadeu Antonio Stiftung gaben zunächst einen Überblick über die Funktionsweise von Verschwörungsmythen und beleuchteten den Zusammenhang zwischen Verschwörungsideologien und Menschenverachtung, Wissenschafts- und Demokratiefeindlichkeit. Deutlich wurde, dass Verschwörungsideologien nicht unwidersprochen bleiben dürfen, da sie zu einer Radikalisierung und in letzter Konsequenz zu Terror, Gewalt und einer Verkennung realer Gefahren führen können.

Anschließend an den thematischen Input wurde in zwei Gruppen eine Funktionsanalyse der beiden zentralen Verschwörungsmythen im Spannungsfeld von Islamismus und antimuslimischem Rassismus vorgenommen. Es konnte herausgearbeitet werden, dass die Mythen vom „Großen Austausch“ und „Krieg gegen den Islam“ ähnliche Funktionen übernehmen und Gemeinsamkeiten in Hinblick auf Aufbau, Ansprache und Projektionsgehalt zeigen.

In beiden Narrativen werden sowohl eine Opferrolle konstruiert als auch eine aktivierende Handlungslogik sowie ein Exklusivitätsanspruch generiert. Für das Spannungsfeld ausschlaggebend ist zudem, dass sich die beiden Mythen aufeinander beziehen. Beide Ideologien nähren sich gegenseitig, wobei diese Wechselwirkungen auch im Radikalisierungsprozess eine Rolle spielen können.

Im zweiten Teil der Veranstaltung standen die Herausforderungen und möglichen Strategien im Umgang mit Verschwörungsmythen im Fokus. Nach einem thematischen Input zu den verschiedenen Ebenen, auf denen Verschwörungsmythen auftreten, wurde die besondere Bedeutung von Beratung in der Prävention von Verschwörungsideologien betont. Im anschließenden Erfahrungsaustausch trugen die Teilnehmenden verschiedene Herausforderungen und Probleme im Umgang mit Verschwörungsmythen im Beratungssetting der Extremismusprävention zusammen. Als besonders herausfordernd und problematisch beim Versuch, auf Verschwörungsmythen zu reagieren, wurden die Überheblichkeit der Klient*innen, die irrationalen Zusammenhänge und eine Aussichtslosigkeit angesichts des Anzweifelns von Fakten und rationalen Argumenten genannt.

Auch die Vermittlung und Stärkung der Resilienz der Klient*innen gegenüber Verschwörungsideologien stellt eine Herausforderung dar, angesichts des oftmals tiefen Wunsches nach einfachen Lösungen und Erklärungen. Mitunter spielen Verschwörungsmythen auch nicht bei den Klient*innen selbst, sondern in deren (familiären) Umfeld eine Rolle, wobei gerade hier die Abwägung zwischen einer offenen Konfrontation und dem Risiko, den Zugang zu den Klient*innen zu verlieren, als Problem herausgestellt wurde.

Insgesamt unterstrichen die Teilnehmenden die Relevanz einer starken Bindungs- und Beziehungsebene zu den Klient*innen, um den emotionalen Zugang nicht zu verlieren und eine Basis für eine langfristige Auseinandersetzung zu schaffen. Besonders die emotionale Beziehung ist im Beratungssetting wichtig, da Verschwörungsideologien häufig als Platzhalter für eine tiefe Verunsicherung fungieren und vor allem affektiv funktionieren.

 

Handlungsoptionen bei Verschwörungsmythen

Aufbauend auf den bisherigen Erfahrungen aus der Arbeit ihres Projektes stellten Lisa Geffken und Ferdinand Backöfer anschließend Handlungsoptionen für den Umgang mit Verschwörungsmythen im Beratungssetting vor. Da es in Gruppensituationen häufig schwieriger ist die Personen zu erreichen, wird ein 4-Augen-Gespräch empfohlen. In diesem sollten Falschaussagen nicht unwidersprochen gelassen werden, da Schweigen als Zustimmung gewertet werden kann. Auch wenn keine Diskussion zustande kommt, sollte deutlich gemacht werden: Ich sehe es anders.

Zudem kann es hilfreich sein, das Thema zwar ernst zu nehmen, jedoch dabei nicht zu überdramatisieren, um dem*der Klient*in kein Erfolgserlebnis zu ermöglichen. Wichtiger ist es, Position zu beziehen, ohne zu belehren. Häufig ist eine reine Auseinandersetzung auf Argumentations- und Faktenebene nicht zielführend – eher sollte auf Konsequenzen und Gefahren verwiesen werden und über die affektiven Funktionen gesprochen werden, die Verschwörungsmythen für die Person haben.

In Bezug auf den Zeitpunkt gilt es, so früh wie möglich zu intervenieren. Am Anfang kann eine gemeinsame Wertebasis genutzt werden. Wenn eine solche nicht mehr gegeben ist und das Weltbild zunehmend geschlossen erscheint, ist dennoch alles hilfreich, was die Selbstausgrenzung der Person aufhalten kann. Bestehende Kontaktmöglichkeiten sollten weiter genutzt werden, denn die persönliche Beziehung ist das wichtigste Mittel im Kampf gegen Verschwörungsideologien.

Hilfreich ist es, für das Gespräch eine gemeinsame Grundlage festzulegen. Wenn eine Einigung auf wissenschaftliche Standards nicht mehr möglich ist, können auch andere Kriterien angesetzt werden, etwa, dass beide es wichtig finden, dass Menschen nicht aufgrund bestimmter Merkmale diskriminiert werden. Auch wertschätzende Anmerkungen, beispielsweise in Bezug auf das gesellschaftskritische Interesse der Person, können einen Zugang ermöglichen. Dabei ist der offene Umgang mit eigenen Unsicherheiten und Wissenslücken zentral. Durch offene Fragen und Auseinandersetzung mit Widersprüchen können mitunter kleine Risse im verschwörungsideologischen Weltbild erzeugt werden.

Indem ein Fokus auf die Funktion gelegt wird, welche die Verschwörungsideologie für die Person erfüllt, kann diese Funktion pädagogisch bearbeitet werden. Wichtig ist es, dem*der Klient*in Vertrauen und Anerkennung entgegenzubringen, Perspektiven und auch innere Rückzugsräume zu eröffnen, anstatt sie in eine Ecke zu treiben. Darüber hinaus gilt: Kein Handeln ohne Haltung. Dazu gehört auch die Bereitschaft, mögliche eigene antisemitische und verschwörungsideologische Einstellungen zu reflektieren.

Wichtige Ressourcen für die Auseinandersetzung mit Verschwörungsmythen sind Zeit, Geduld und Empathie. Der Umgang mit Verschwörungsgläubigen im Beratungssetting ist arbeitsintensiv und muss als Herausforderung für das gesamte Kollegium bzw. die gesamte Institution verstanden werden und darf nicht die Aufgabe Einzelner sein.

 

Zentrale Diskussionspunkte:

  • Verschwörungserzählungen präsentieren eine alternative Deutung von Ereignissen, die viele Menschen bewegen. Sie behaupten die Existenz geheimer, nahezu allmächtiger Eliten, welche im Verborgenen Pläne ausüben. Dabei wird ein Kampf von guten gegenüber bösen Mächten beschworen. Verdichten sich konkrete Verschwörungshypothesen und werden aufrechterhalten, obwohl es Beweise dagegen gibt, spricht man von einer Verschwörungsideologie. Verschwörungsideologien beschreiben Ideen und Vorstellungen, die Ausdruck eines bestimmten Weltbilds sind. Liegt eine Verschwörungsmentalität vor, wird die ganze Welt über Verschwörungsmythen erklärt. Es ist ein Selbst- und Weltverständnis, welches überall Verschwörungen vermutet, also geheime Absprachen einer Gruppe, die ein bestimmtes Ziel im Bereich des Machterwerbs erreichen will. Aktuelle Ereignisse werden hinsichtlich dieser Weltanschauung gedeutet. Besonders häufig weisen Verschwörungsmythen (strukturell) antisemitische Muster auf, aber auch rassistische oder antifeministische Muster sind vorhanden.

 

  • Für einen geeigneten Umgang mit Personen, die eine Verschwörungsmentalität aufweisen, muss ein intensiver Blick auf das Bedürfnis des Einzelnen geworfen werden, die Welt über Verschwörungserzählungen zu erklären. Verschwörungsideologien übernehmen verschiedene Funktionen für Individuen. So kann der Glaube an Verschwörungserzählungen eine Identifikationsfunktion Er definiert einen festen Platz in der Welt und ermöglicht eine aufgewertete Rolle innerhalb des Kampfes „die Guten gegen die Bösen“ als Angehörige der Wahrheitssuchenden. Darüber hinaus spielen die Sinnstiftungs- und Erkenntnisfunktion eine wesentliche Rolle, die sich aus einer Reduzierung von Komplexität auf eine vereinfachte Einteilung der Welt in Gut und Böse und der Vorstellung eines Kampfes um die Weltordnung ergeben können. So entsteht mitunter ein Gefühl der Dringlichkeit und des Bedürfnisses, notwendigerweise akut zu handeln. Auch eine Legitimationsfunktion kann relevant sein. Verschwörungsmythen erlauben eine Täter-Opfer-Umkehr: Auf Grundlage einer vermeintlichen „Notwehr“ gegen die Weltverschwörung wird das eigene Handeln legitimiert. Zudem ermöglichen Verschwörungsmythen Manipulation. Durch die Gut-gegen-Böse-Konstellation kann Druck auf andere ausgeübt werden, nicht „zur anderen Seite“ gehören zu wollen.

 

  • Eine Verschwörungsmentalität ist gefährlich und führt in vielen Fällen zu einer Radikalisierung. Die vereinfachende Einteilung der Welt in Gut und Böse bewirkt, dass Ambivalenzen und Widersprüche immer schwerer ausgehalten werden können und Versuche, das verschwörungsideologische Weltbild aufzubrechen, als verräterisch abgewehrt werden. Die durch die Abdichtung nach außen entstehende Isolation und gefühlte oder reale soziale Marginalisierung kann verstärkend innerhalb eines Radikalisierungsprozesses wirken.

 

  • Es zeigt sich, dass Fundamentalismus und Verschwörungsmentalität in Ursachen und Mustern häufig zusammenhängen. Liegt eine exklusive Religionsvorstellung vor, ist meist ein Hang zu Verschwörungsmentalität vorhanden. Doch nicht nur ein religiöser Kontext, vor allem auch die jeweilige Historie und Kultur muss beachtet werden, die Menschen, etwa in der muslimischen Welt, besonders empfänglich für Verschwörungsnarrative macht.

 

  • Im Umgang kann zunächst versucht werden, aufbauend auf einer gemeinsamen Wertebasis und wissenschaftlichen Standards eine sachliche Auseinandersetzung zu führen. Vor allem anfänglich, wenn das Weltbild der Klient*innen noch nicht geschlossen ist, können Irritationen oder ein Hinterfragen der Erzählungen, ebenso wie Argumente und ein gemeinsamer Faktencheck ein erster Schritt sein. So kann es in diesem Stadium auch bereits ausreichen, an der Medienkompetenz der Personen anzusetzen. Liegt jedoch eine Verschwörungsmentalität vor und ist die Person weder für Fakten noch für Argumente zugänglich, kann ein Zugang einzig über eine emotionale, affektive Ebene gelingen. Jenseits einer faktenbasierten Diskussion können offene Fragen in Zusammenspiel mit einer stabilen Beziehung helfen, eine gemeinsame Reflexion über die Funktion, die Verschwörungsmythen im Leben der Klient*innen übernehmen, anzustoßen.

 

  • Dass Klient*innen im Beratungssetting Verschwörungsmythen äußern, kann ein wichtiger Zugang sein, um den Beziehungsaufbau zu stärken, emotionale Ebenen und Themen zu besprechen und darüber emotionale Ressourcen zu erarbeiten.

 

Weiterführende Links[1] und Literatur

 

AUSBLICK

Die Teilnehmenden begrüßten den Fachaustausch an der Schnittstelle zwischen Praxis und Wissenschaft und weitere Formate, insbesondere mit einem phänomenübergreifenden Austausch, sind gewünscht. Als thematischer Anschluss wurde der Bedarf nach fachlichem Austausch zu verschiedenen Herausforderungen in der beratenden Praxis geäußert.

[1] Alle Links zuletzt abgerufen am 05.07.2021.

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