#schongelaufen – Herausforderung für die Beratung: Selbstwirksamkeit trotz Diskriminierungserfahrungen

EINLEITUNG

Muslimische Menschen sind in ihrem alltäglichen Leben in Deutschland mehrdimensionaler Diskriminierung ausgesetzt[1]. Diskriminierung (bis hin zu Gewalterfahrungen) wird dabei von Betroffenen oft nicht direkt als solche erkannt oder benannt, wodurch schlicht und ergreifend nicht ausgedrückt werden kann, was erlebt wurde. Islamistische Akteur*innen sind sich dieser Situation bewusst, greifen Diskriminierungs- und Ungerechtigkeitserfahrungen muslimischer Menschen gezielt auf und instrumentalisieren diese in ihrer Propaganda. So können Erfahrungen und Wahrnehmungen gruppenbezogenerDiskriminierung nebenzahlreichenanderenFaktoreneine mögliche UrsachefürRadikalisierungsprozessedarstellen.

Zwar kann bei genauem Zuhören durch pädagogisches Fachpersonal oftmals herausgehört werden, dass es sich um derartige Erfahrungen handelt, wenn beispielsweise Ungerechtigkeitsempfinden geäußert werden oder Sätze fallen, die ausdrücken, dass jemand sich missverstanden oder unfair behandelt fühlt. Doch wenn das Verständnis für derartige Erfahrungen fehlt, oder sich verletzte Gefühle erst einmal als Frustration oder Wut äußern, läuten insbesondere im schulischen Kontext schnell die Alarmglocken. Wenn dann Beratungsstellen eingeschaltet werden um mögliche Radikalisierungstendenzen zu prüfen, stehen Beratende, wenn die Gefahr einer Radikalisierung ausgeschlossen werden konnte, vor einer doppelten Herausforderung. Wenn es Anhaltspunkte für Diskriminierungserfahrungen gibt, resultiert daraus einerseits der Bedarf, die Selbstwirksamkeit betroffener Schüler*innen im Umgang damit zu stärken, sowie auch der Anspruch, einen Umgang mit der Person bzw. der Struktur zu finden, von der die Diskriminierung ursprünglich ausgegangen ist. Auch Beratende der Tertiärprävention sehen sich der Herausforderung gegenüber, ihre Klienten*innen im Umgang mit Diskriminierungserfahrungen zu mehr Selbstwirksamkeit zu ermächtigen, ohne dabei Opfernarrative zu bedienen. Insbesondere im Kontext von Justizvollzug und im Prozess der Rehabilitation und Resozialisierung können dabei auch weitere Diskriminierungserfahrungen gemacht werden.

Wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann und Lösungsansätze aussehen können, diskutierten Fachkräfte aus dem Bereich der Sekundär- und Tertiärprävention am 2. Juni 2023 im Rahmen einer online durchgeführten Konzeptwerkstatt.

 

Diskussionspunkte:

  • Diskriminierungserfahrungen sind häufig intersektional[2] und können sich somit gleichzeitig auf unterschiedliche Faktoren beziehen.
  • Anerkennung und Akzeptanz von Diskriminierungserfahrungen ist keine Selbstverständlichkeit, antimuslimischer Rassismus wird selten als solcher anerkannt.
  • Betroffenen fehlt häufig die Sprache, Diskriminierungserfahrungen als solche zu erkennen und entsprechend zu benennen. Dies tun zu können kann dabei helfen, eine Diskriminierungserfahrung zu entpersonalisieren und zu verstehen, dass man mit der Erfahrung nicht allein ist. Sprache kann als ermächtigend wahrgenommen werden, dadurch, dass die eigene Wahrnehmung artikuliert werden kann.
  • Zentral ist zunächst vor allem, dass der betroffenen Person zugehört wird. Wenn Gefühle geäußert werden und Menschen sich darin ernst genommen fühlen, anstatt als Resultat dessen eine weitere Ohnmachtserfahrung zu machen, kann dies bereits stärkend wirken. Beispielhafte Fragen, die gestellt werden können, wenn die Annahme besteht, dass eine Diskriminierungserfahrung gemacht wurde sind: Was meint diese Person, wenn sie von Ihren Erfahrungen spricht? Was ist das Problem? Wie fühlt sich das an?
  • Muslimisch gelesene Beratende erfahren ebenfalls diskriminierende Äußerungen von Fachpersonal.
  • Betroffenen Person wird bisweilen vom Beschreiten offizieller Beschwerdewege abgeraten und/oder es besteht Angst davor, bestimmte Prozesse in Gang zu setzen.
  • Im Kontext Schule kann es helfen zu wissen, an wen man sich wenden kann (zum Beispiels entsprechende Vertrauenspersonen, Kontakt- und Beratungsstellen) sowie Unterstützung dabei zu bekommen, seine Recht einzufordern.
  • Weitere bestärkende Maßnahmen können sein, dabei unterstützt zu werden, den eigenen Wert zu erkennen anstatt Fremdzuschreibungen anzunehmen und beispielsweise eine Fähigkeit wie Mehrsprachigkeit als Superkraft (um)zu deuten.
  • Mediation kann eine weitere potenziell heilsame Handlungsoption darstellen, sowohl in individuellen als auch in Gruppensettings, wie z.B. in einer Schulklasse oder im Austausch zwischen Haftinsassen und Justizvollzugspersonal.
  • Muslimische Beratende können mitunter eine Vorbildfunktion einnehmen, wie beispielsweise auch erfolgreiche muslimische Personen des öffentlichen Lebens.
  • Bei Anfragen im schulischen Kontext kann es hilfreich sein, die ursprüngliche Absicht des Fachpersonals zu thematisieren, aus der heraus eine Beratungsstelle kontaktiert wurde. Auch hier hilft es, offene Fragen zu stellen und auf Gefühle einzugehen, da die Thematisierung und Benennung von Diskriminierung (insbesondere von Rassismus als eine Diskriminierungsform) schnell zu Defensivität führen kann. Eine beispielhafte Frage hierfür kann lauten: Was genau war/ist Ihre Sorge?
  • Auch können Lehrkräfte dazu angeregt werden, über Ressourcen nachzudenken und die Bildungserwartungen an den*die Schüler*in zu reflektieren: Was kann der*die Schüler*in gut?

 

AUSBLICK

Das Thema Umgang mit antimuslimischem Rassismus im Kontext von Präventionsarbeit bietet noch weiteren Raum für Austausch. Einen weiteren Anknüpfungspunkt bietet die im Rahmen der Veranstaltung geteilte Beobachtung, dass die sozialen Medien zu einer inflationären Verwendung von Begriffen wie Diskriminierung, Rassismus oder auch Trauma beitragen und wie damit umgegangen werden kann.

 

Weiterführende Links und Literatur

Bundeszentrale für politische Bildung – Erfahrungen von Rassismus als Radikalisierungsfaktor? Ein (Gegen-)Beispiel – Sindyan Qasem https://www.bpb.de/themen/infodienst/295169/erfahrungen-von-rassismus-als-radikalisierungsfaktor/

Deutscher Bundestag – Sachstand Unabhängige Polizeibeauftragte in den Ländern https://www.bundestag.de/resource/blob/899854/c703911ae8f6e04a16618f8a85727ad3/WD-3-057-22-pdf-data.pdf

Radikalisierungsprävention im Kontext gesellschaftlicher Polarisierung – Ligante Fachdebatten aus der Präventionsarbeit https://kn-ix.de/wp-content/uploads/2022/07/2022_Ligante5_Polarisierung_BAG-RelEx_online.pdf

 

[1] Dies belegen Studien zu Vorurteilen gegenüber Muslim*innen und „dem Islam“, Fallzahlen von Beratungseinrichtungen für Betroffene von antimuslimischem Rassismus sowie Zahlen zu islamfeindlichen Straftaten (siehe https://kompetenznetzwerk-imf.de/content/uploads/2022/06/knw-broschure_studie_aej_screen.pdf?x85269).

[2] Intersektional bedeutet, dass sich unterschiedliche Diskriminierungsformen miteinander verschränken können, wie z.B. Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, religiöse Verfolgung, Behindertenfeindlichkeit, Altersdiskriminierung oder auch Klassismus. Der Begriff geht auf die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw zurück.

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