mit Julian Hohner und Mehmet Koç | veröffentlicht 08.2025
Dass Radikalisierungsprozesse auch im digitalen Raum stattfinden, ist mittlerweile keine neue Erkenntnis mehr. Lange hieß es, dass die wenigsten Radikalisierungen ausschließlich online und isoliert von analogen Faktoren verlaufen. Nach den Anschlägen im letzten Jahr wurde – vor allem in den Medien – allerdings öfter von einer „Turbo-Onlineradikalisierungen“ gesprochen.
In Folge #34 gehen wir der Frage nach, was dran ist, an einer vermeintlichen Turbo-Onlineradikalisierung und wie sich der Online-Anteil über die letzten Jahre entwickelt hat. Dazu sprechen wir mit Julian Hohner, der zu diesen Themen forscht. Außerdem wollen wir darauf blicken, wie wir soziale Medien als demokratische Akteur*innen nutzen können, um extremistischen Narrativen etwas entgegenstellen zu können. Im zweiten Interview sprechen wir mit Mehmet Koç, der selbst bei Instagram und TikTok aktiv ist.
Im Podcast zu Gast
Julian Hohner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IfKW) der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Er ist außerdem Teil des Projekts “Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung” (MOTRA). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Online-Radikalisierung und Extremismus und der politischen Kommunikation im Allgemeinen. In seiner Doktorarbeit befasst sich Julian mit den Determinanten des Erfolgs radikaler und rechtsextremer Akteure und deren Inhalt auf visuell geprägten Plattformen wie TikTok.
Mehmet Koç vereint sozialarbeiterische Praxiserfahrung mit wissenschaftlicher Expertise in der Radikalisierungsprävention und Demokratieförderung. Mit Studienabschlüssen in Sozialer Arbeit (B.A.), Islamischen Studien (B.A.) sowie Forschung in der Sozialen Arbeit (M.A.) bringt er eine fundierte, interdisziplinäre Perspektive ein. Als langjähriger und multiprofessioneller Praxisakteur entwickelt und erprobt er zudem innovative Ansätze digitaler Präventionsarbeit auf Social Media – und bringt seine Perspektiven engagiert in den fachlichen und gesellschaftlichen Diskurs ein. Mehmet Koç ist als unabhängiger Experte Mitglied des Beirats von KN:IX connect.
Transkript der Folge
(Musik)
Julian Hohner: Früher konnte man sagen, ja, es gibt reine Offline-Radikalisierung, aber heutzutage ist das gar nicht mehr denkbar. Man spricht heutzutage eher von einem hybriden Format oder von einem dynamischen Radikalisierungsmuster, wo man auf einer Achse mal mehr Online-Radikalisierungselemente findet oder halt mehr Offline-Komponenten.
Mehmet Koç: Erfolgreich ist es vor allem auch dann, wenn mir persönlich Menschen wirklich feedbacken, die sagen, hey, die Inhalte, die zur Dekonstruktion islamistischer Narrative erstellt werden, auch eine Aufklärung über Islam und muslimisches Leben in Deutschland hätten und somit einen Miteinander fördern würden. Dann denke ich, ja cool, dann gebe ich wirklich gerne Energie rein.
Charlotte Leikert (Intro KN:IX connect): KN:IX talks – der Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. Hallo und herzlich willkommen zur 34. Folge von KN:IX talks.
(Musik)
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Mein Name ist Charlotte Leikert.
Ulrike Hoole (KN:IX connect): Und mein Name ist Ulrike Hoole. Gemeinsam hosten wir den Podcast KN:IX talks bei der BAG RelEx.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Dass Radikalisierungsprozesse auch im digitalen Raum stattfinden, ist mittlerweile keine neue Erkenntnis mehr. Lange hieß es, dass die wenigsten Radikalisierungen ausschließlich online und isoliert von analogen Faktoren verlaufen. Nach den Anschlägen im letzten Jahr wurde vor allem in den Medien allerdings öfter von einer „Turbo-Onlineradikalisierung“ gesprochen.
Ulrike Hoole (KN:IX connect): In unserer Folge gehen wir der Frage nach, was dran ist an einer solchen vermeintlichen Turbo-Onlineradikalisierung und wie sich der Online-Anteil über die letzten Jahre entwickelt hat. Dazu sprechen wir mit Julian Hohner, der zu diesen Themen forscht. Außerdem wollen wir darauf blicken, wie wir als demokratische Akteur:innen soziale Medien nutzen können, um extremistischen Narrativen etwas entgegenzustellen. Im zweiten Interview sprechen wir deshalb mit Mehmet Koç, der selbst bei Instagram und TikTok aktiv ist.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Nun aber zum ersten Gast in unserer heutigen Folge. Julian Hohner arbeitet an der LMU unter anderem zu Online-Radikalisierung und Extremismus sowie Data Science. Für seine Dissertation untersucht er die Erfolgsfaktoren von radikalen Akteur:innen, zum Beispiel auf TikTok. Hallo Julian, schön, dass du heute hier bist.
Julian Hohner: Hallo, danke für die Einladung.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Mit dir wollen wir darüber sprechen, was aus Sicht der Forschung dran ist an einer reinen Online-Radikalisierung. Dazu werfen wir gleich auch einen Blick auf die Statistiken der politisch motivierten Kriminalität. Aber bevor wir dazu kommen, was sind eigentlich deine Gedanken, wenn du das Wort „Turbo-Onlineradikalisierung“ hörst?
Julian Hohner: Eine sehr gute Frage. Also es gibt durchaus Turbo-Onlineradikalisierungen und einzelne dokumentierte Fälle. Es ist sprichwörtlich das, wofür wir quasi schon seit Jahren jetzt sagen, dass der Einfluss des Internets steigt. Im Sinne von Radikalisierungsprozessen, die vorwiegend im Internet stattfinden und tatsächlich auch in so einer knappen Zeit passieren, dass man als Sicherheitsakteur es schwierig hat, diese Radikalisierungsprozesse überhaupt zu erkennen. Es ist sicherlich so, dass diese Einzelfälle nicht die Mehrheit darstellen und man sagen kann, dass Radikalisierung und Extremismus heutzutage nur noch über das Internet läuft. Das auf keinen Fall. Diese Einzelfälle sind aber tatsächlich auch seit, sagen wir, 2013, 2014 tatsächlich ansteigend. Und man sieht auch ein Muster mittlerweile. Dazu kommen wir ja dann noch später. Und das Wort Turbo-Onlineradikalisierung bezeichnet im Wesentlichen auch das, was eine Funktion des Internets ermöglicht, eine Radikalisierung so schnell zu machen. Man kürzt sozusagen verschiedene Phasen der Radikalisierung. Zum Beispiel die Identifikation oder die Anbindung an eine Gruppe, die meinetwegen im islamistischen Kontext an eine gewaltbereiten Moscheegruppe, die in der Moschee agiert, übersprungen wird. Es schafft sozusagen eine Abkürzung, die den Kontakt und die Vernetzung mit relevanten extremistischen Personen oder eben Material total verkürzt. Natürlich auch dahingehend, dass es nicht nur verkürzt wird, sondern auch unentdeckter wird, weil die Person allein, sozusagen als Lone Wolf agiert und man natürlich dahingehend auch weniger Marker hat, um diese Person überhaupt zu erkennen oder den Radikalisierungsprozess zu entdecken.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Das heißt, du würdest sagen, eine Online-Radikalisierung ist eben durch diese Verkürzung charakterisiert und dass die Personen öfter als Einzelakteure wahrgenommen werden oder auch tatsächlich Einzelakteure sind.
Julian Hohner: Also das ist ein Merkmal des Internets, beziehungsweise was das Internet in der Radikalisierung beeinflusst oder verändert, auf jeden Fall ist es so, dass die Leute häufiger zu Einzeltätern werden und weniger in organisierten Zellen agieren, was man zu früheren Zeiten noch gekannt hat, dass man hochorganisierte einzelne Terrorzellen hatte, die dann als Gruppe organisiert waren. Das Internet bietet aber noch viele weitere Mechanismen, weshalb tatsächlich die Radikalisierung und Extremismus und Terrorismus immer digitaler werden.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Was wären weitere Beispiele für solche Mechanismen?
Julian Hohner: Grundsätzlich, der Mechanismus ist ja so, dass man sagen kann, wir befinden uns in einer Digitalisierung, wo Menschen immer mehr online Sachen machen und sich miteinander treffen und kommunizieren. Insofern kann man eigentlich sagen, dass, je mehr Personen das Internet nutzen, desto häufiger wird es auch zu Radikalisierung über oder mit dem Internet passieren. Das ist eigentlich relativ logisch, das ist auch recht offensichtlich. Der Fakt aber, der entscheidende, ist eher, dass das Internet nicht nur diesen linearen Anstieg produziert, sondern eher als Katalysator wirkt. Also sowas wie, das Internet erleichtert überhaupt erst die Verbreitung von radikalen Inhalten. Es erleichtert die Rekrutierung von Personen, wenn man sie jetzt natürlich überall trifft. Man muss nicht in ein Moschee gehen, um sich zu radikalisieren oder man muss nicht in eine bestimmte Gruppe reingeraten. Und dementsprechend ist auch die Vernetzung dieser Personen so viel einfacher, dass es nicht nur dazu kommt, dass es zu einem linearen Anstieg der Prävalenz dieser Radikalisierung über das Internet kommt, sondern dass es quasi einen nicht linearen, noch größeren Anstieg gibt, als man erwarten sollte. Und es verändert natürlich auch die Art und Weise, wie man sich radikalisiert oder wie man auch tatsächlich extremistisch oder terroristisch aktiv wird. Es senkt die Mobilisierungshürden, weil man natürlich mehr Möglichkeiten hat, aktiv zu werden. Es gibt Studien, die zeigen, dass tatsächlich neun von zehn als Extremisten verurteilte Straftäter gar nicht erst auf die Straße gegangen sind, um dann quasi eine Messerattacke oder beispielsweise sowas auszuführen, sondern neun von zehn Personen nehmen irgendeine Hintergrundfunktion ein. Sei es zum Beispiel die Finanzierung von Terrorattacken oder das Verbreiten von Propagandamaterial. Und das sind natürlich Funktionen, die im Internet super, super, super effizient und super gut möglich sind. Viel besser als in der Offline-Welt. Das heißt, wir haben hier ganz neue Formen von Radikalisierung und Extremismus durch das Internet.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Du hast gerade gesagt, das Internet ist völlig logisch auch so eine Art Spielwiese und auch eine Verstärkung von bestimmten Prozessen, die in Radikalisierung eine Rolle spielen. Wie groß ist aktuell der Online-Anteil in Radikalisierungsverläufen und wie hat sich das über die letzten Jahre verändert?
Julian Hohner: Das Beispiel, das ich gerade gebracht hatte mit neun von zehn Personen gehen tatsächlich letztendlich nicht auf die Straße, um dann eine physische Tat auszurichten, ist natürlich dann ein Hindernis in der klaren Aussage, um hier eine Zahl zu nennen. Prinzipiell gibt es da zwei Herangehensweisen. Die eine ist quasi über die tatsächlich dokumentierte Strafaktenanalyse zu gehen, also dass man sagt, man untersucht jetzt die Gerichtsprozesse von tatsächlich verurteilten Extremisten, zum Beispiel von ausgereisten Personen, die quasi nach Syrien oder sonst wo hingereist sind, um sich ausbilden zu lassen oder für eine Terrorgruppe tatsächlich auch aktiv zu sein. Da hat zum Beispiel Eylem Kanol, der ist beim WZB, Wissenschaftszentrum Berlin, und Teil des MOTRA-Kollektivs, der sich Radikalisierung und Extremismus monitoren, der hat sich zum Beispiel mal angeschaut, was die primären Radikalisierungsmodi und dann quasi auch beim Fortschreiten der Radikalisierung von der Person, welche Modi da passiert sind, also war das quasi in der Moschee, war das im Freundeskreis, war das über das Internet und so weiter. Der hat zum Beispiel gefunden, dass im Vergleich, das ist schon etwas älter die Studie, wir gehen davon aus, dass da die Prävalenzen noch viel höher sind, aber im Vergleich von einem Zeitraum von 2000 bis 2010 war der Anteil von Personen, die quasi den Erstkontakt zum Extremismus als auch ihrer Radikalisierung übers Internet passiert ist, in diesem Zeitraum eher so ungefähr nur so bei 8% lag, also die tatsächlich dann ausgereist sind nach Syrien oder in irgendwelchen Terrorgruppen mitgemacht haben. Und dann hat der einen Vergleichszeitraum aufgestellt von 2010 bis 2016, also schon ein bisschen älter, schon fast zehn Jahre her, da ist der Anteil zumindest für die, die über das Internet den Erstkontakt hergestellt haben, auf 20% gestiegen, und die quasi sich über das Internet radikalisiert haben, als Primärmodus von 18% auf 35%, also wir haben da schon ein Drittel aller Radikalisierung, ist hauptsächlich im Internet. Und nochmal, also das ist 2016, 2010 bis 2016, also man kann schon davon ausgehen, wenn ich jetzt dann gleich den zweiten Teil noch sage dazu, dass das noch gestiegen ist. Denn es gibt quasi eine zweite Art, das zu messen, und zwar über quasi die polizeiliche Kriminalstatistik. Die LKAs und das BKA messen nämlich, wenn eine Straftat vorkommt, haben die da so eine Box, der Polizist hat so eine Box, wo er ankreuzen kann, ist denn diese Tat, die ich gerade dokumentieren muss, ist die denn politisch motiviert gewesen? Und wenn er das ankreuzt, oder wenn sie das ankreuzt, wird das an das LKA geliefert, die das dann quasi wie in so einem sozialwissenschaftlichen Datensatz nach Variablen, wie zum Beispiel, was war die Tatwaffe, welches Motiv war das, wie ist die Schwere der Tat, klassifizieren und reichen das zum einen an die Staatsanwaltschaft weiter, und zum anderen an das BKA, das das sammelt und dann quasi die PMK, die politisch motivierte Kriminalitätsstatistik, aufstellt. Und wir haben uns da auch angeschaut, welchen Anteil in der PMK quasi digital mediierte Straftaten einnehmen, also Straftaten, die zum Beispiel wie der Halle-Attentäter, der Offline mit einer Waffe in Halle gelaufen ist, mit dem Ziel, Leute zu erschießen, aber gleichzeitig auch noch das Handy dabei hatte, um die Tat live zu streamen. Das ist für uns so eine klassische digital mediierte Straftat. Also es ist eine Offline-Tat, die aber digitale Komponenten hatte. Oder eben auch Straftaten, die rein digital sind, also sowas wie ein Hassposting im Internet, eine DDoS-Attacke gegenüber einer Partei oder sowas. Und da haben wir in dem Zeitraum von 2010 bis 2024, also deutlich aktueller, geschaut, wie der Anteil von digitaler oder digital mediierter politisch motivierter Kriminalität anstieg. Und da hatten wir gefunden, dass während 2010 nur noch ungefähr 8% aller Straftaten digital mediiert waren, ist es 2024 schon über so 30%. Also das ist schon ein kontinuierlicher Anstieg. Es ist nicht nur ein linearer Anstieg, sondern es gibt so Digitalisierungsphasen in der Radikalisierung. 2016, die Corona-Pandemie, ist ein weiteres Beispiel, wo dann tatsächlich Personen einfach mehr Online-Aktivismus betrieben haben.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Würdest du sagen, ist es aktuell noch zeitgemäß, von einer Online-Radikalisierung zu sprechen? Oder gibt es eigentlich gar keine Radikalisierung mehr, die ohne Online-Aspekt vonstatten geht? Das heißt eigentlich ist jede Radikalisierung eine Online-Radikalisierung.
Julian Hohner: Also das ist sicherlich eine wesentlich modernere Sichtweise auf Radikalisierung. Diese klassische Trennung zwischen Offline und Online, das war früher tatsächlich relativ prävalent in der Diskussion, heutzutage fast gar nicht mehr geführt. Denn du hast es schon angedeutet, also man ist sich einig, das Verschwimmen der Grenzen zwischen Offline- und Online-Welt wirkt sich natürlich auch auf die Radikalisierung aus. Früher konnte man sagen, ja es gibt reine Offline-Radikalisierung, zum Beispiel eine Person, die sich rein über zum Beispiel den Moscheekreis oder den Freundeskreis radikalisiert hat. Dafür gibt es auch Beispiele, aber heutzutage ist das gar nicht mehr denkbar. Man spricht heutzutage eher von einem hybriden Format oder von einem dynamischen Radikalisierungsmuster, wo man quasi auf einer eindimensionalen Achse mal mehr Online-Radikalisierungselemente findet. Also zum Beispiel eine Person, die sich über YouTube-Videos vorwiegend radikalisiert oder halt mit mehr Offline-Komponenten radikalisiert. Aber dass in jeder Radikalisierung irgendwo ein Online-Anteil ist, das ist sicher und das steht fest. Genauso steht aber auch fest, dass es auch immer Offline-Komponenten geben wird.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Neben Radikalisierungsverläufen, bei denen Menschen Straftaten begehen, die in Statistiken erhoben werden, wie zum Beispiel der zu politisch motivierter Kriminalität, gibt es auch rein kognitive Radikalisierung. Davon spricht man, wenn Menschen ein extremistisches Weltbild haben, aber nicht straffällig werden. Unser Wissen über kognitive Radikalisierung ist bislang ziemlich begrenzt, da sich die meisten verfügbaren Daten auf Personen beziehen, die bereits durch Straftaten aufgefallen sind. Diese Perspektive lässt jedoch einen Großteil potenziell radikalisierter Menschen im Dunkeln, da sich viele Statistiken nur auf kriminelles Handeln beziehen.
Julian Hohner: Natürlich, also es gibt auch eine kognitive Radikalisierung im Internet, die strafrechtlich gar nicht relevant sein kann, weil man ja tatsächlich nicht handlungsaktiv wird. Ein Beispiel dafür, das ich nennen kann, ist in unserer Forschung tatsächlich so Mainstreaming-Effekte, wo wir beobachten, dass extreme Narrative, dadurch, dass sie im Internet breit gestreut werden, Personen normalisiert gegenüber extremen Narrativen, weil man sie so häufig sieht und weil sie so vermeintlich beliebt sind, dass man diese extremen Narrative letztendlich normalisiert oder im Endeffekt vielleicht sogar übernimmt, weil man denkt, ja, okay, das ist relativ akzeptiert in der Gesellschaft und vielleicht hat das tatsächlich auch irgendwelche rationalen Gründe, warum man bestimmten extremen Narrativen folgt und vielleicht kann das auch zu Einstellungsveränderungen führen. Insofern, das Internet als Diskussionsraum bietet schon die Chance, dass man eine kognitive Radikalisierung wahrscheinlicher macht.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Du hast es vorhin schon angedeutet, aber diesen Aspekt von Online-Räumen als Katalysator extremistischer Gewalt, das hattest du an anderer Stelle mal so beschrieben und vorhin im Interview ja auch schon kurz erwähnt. Was genau meinst du damit?
Julian Hohner: Also im Wesentlichen haben wir zwei Grundfunktionen des Internets. Das eine, eine digitale Umgebung als Ort für extremistischen Aktivismus, also zum Beispiel Terrorfinanzierung, Bereitstellung von Baumaterialien oder Bauanleitungen oder sowas, ganz plakativ. Oder man wird tatsächlich auch irgendwie Online aktiv und beleidigt oder bedroht bestimmte Personen politischer Couleur. Und dann gibt es eine zweite Funktion. Digitale Umgebungen können ja eben auch als Katalysator oder Verstärker von Offline-Taten wirken, indem sie zum Beispiel in Telegram-Gruppen, das war zur Corona-Pandemie sehr stark vertreten, indem sie sich in Telegram-Gruppen organisieren und tatsächlich dann zu Protest, den Protest organisieren über Telegram für die Straße. Insofern verstärkt das Internet auch diese Dynamik zwischen Online und Offline. Man muss aber auch sagen, das ist natürlich ein kausales Problem, was denn hier als erstes vorhanden ist. Denn wenn Offline-Leute sich organisieren und da sich kennenlernen, dann kommen die wahrscheinlich auch erst in die Vernetzung von den Telegram-Gruppen, weil sie vorher gar nicht wussten, dass die existieren. Also hier entsteht eine Interdynamik. Auf jeden Fall eine Dynamik. Wie herum das wirkt, das wissen wir noch nicht so ganz.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Spannend aber, den Aspekt nochmal aufzugreifen, weil das ja total gut zeigt, wie Online und Offline dann ineinander greifen. Du hast im Interview jetzt auf islamistische Radikalisierung Bezug genommen, aber ja auch auf die Corona-Proteste zum Beispiel. Wie würdest du Unterschiede nach Phänomenbereichen beschreiben?
Julian Hohner: Also tatsächlich fundierte Zahlen haben wir in der PMK-Statistik. Da können wir darauf verweisen, dass laut unseren Berechnungen der islamistische Phänomenbereich, also das stimmt nicht ganz; in der PMK gibt es die Kategorie „religiös motivierter Extremismus“ und das kann natürlich alles sein und nicht nur Islamismus. Wir wissen aus den anderen, also in Kombination mit den anderen Variablen, dass das vorwiegend der Islamismus ist, dass hier der stärkste Digitalisierungstrend zu beobachten ist. Nach dem Rechtsextremismus. Man muss aber hier auch ein bisschen relativieren, denn die Ergebnisse, die ich heute berichtet habe, sind natürlich nur Basis von deutschen Daten. Zumindest das von Eylem Kanol und das von den PMK-Daten. Wir haben auch aus England Daten. Wie das zum Beispiel im arabischen Raum wirkt, wo Muslime nicht in der Minderheit sind, sondern die Mehrheit der Gesellschaft darstellen, ob da dieselben Mechanismen vorhanden sind, das ist natürlich eine andere Frage. Dazu gibt es sehr wenig Forschung. Und ich bin hier jetzt eher als der Schwarzmaler, als Radikalisierungsforscher macht man das glaube ich im Naturell. Man muss aber auch sagen, das Internet bietet in dem Sinne natürlich auch Möglichkeiten, um Radikalisierung entgegenzuwirken.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Das ist tatsächlich eine total gute Überleitung zu unserem zweiten Interview, weil wir uns genau da angucken, wie wir als demokratische Akteure eben Online unterwegs sein können und extremistische Narrative aufgreifen und diese dekonstruieren. An der Stelle dir ganz vielen Dank für deine Einschätzung und dass du dir die Zeit genommen hast.
Julian Hohner: Dankeschön, hat Spaß gemacht.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Mit Julian Hohner haben wir über den Online-Anteil bei Radikalisierungsprozessen und politisch motivierter Kriminalität gesprochen. Jetzt sprechen wir mit Mehmet Koç darüber, wie wir die sozialen Medien als demokratische Akteur:innen nutzen können. Mehmet Koç vereint sozialarbeiterische Praxiserfahrung mit wissenschaftlicher Expertise in der Radikalisierungsprävention und Demokratieförderung. Als unabhängiger Experte ist er Mitglied des Beirats von KN:IX connect. Hallo Mehmet, schön, dass du dir die Zeit genommen hast und im Podcast zu Gast bist.
Mehmet Koç: Hi Charlotte, danke.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Bevor wir über dein Engagement in den sozialen Medien sprechen, vielleicht ganz kurz, welche Rolle, würdest du sagen, spielen soziale Medien in Radikalisierungsprozessen und was hältst du von dem Begriff der „Turbo-Onlineradikalisierung“?
Mehmet Koç: Ja, eine spannende Frage. Tatsächlich glaube ich, dass das Internet im Allgemeinen und soziale Medien im Spezifischen ein beschleunigender Faktor im Ganzen sein können, wenn es um Radikalisierung geht. Gleichzeitig habe ich Hemmungen, wenn ich den Begriff „Online-Turboradikalisierung“ höre. Das hat damit was zu tun, dass es sich bei Radikalisierung um einen komplexen Prozess handelt. Wenn es um den Begriff Online-Radikalisierung geht und man sich auf das Internet und die sozialen Medien fokussiert, blendet man anderweitige, vor allem analoge – in Anführungszeichen – Systeme, Akteure aus, die auch in diesem Radikalisierungskomplex eine Rolle spielen. Allen voran Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen oder anderweitige Bildungseinrichtungen, die diese jungen Menschen, wenn es eben um junge Menschen geht, erreichen hätten können, es aber nicht geschafft haben, warum auch immer. Ich spreche lieber von einer Online-Ideologisierung. Das nimmt heute viel mehr zu. Radikalisierung würde ich nicht auf die Online-Ebene beschränkend thematisieren wollen.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Lass uns jetzt über dein Engagement sprechen im Netz und darüber, wie wir eben als demokratische Akteur:innen in den sozialen Medien aktiv sein können und diese so nutzen, dass wir Jugendliche ansprechen und sie tatsächlich auch erreichen. Vor allem geht es ja darum, sie mit den Themen zu erreichen, die sie auch wirklich beschäftigen, bevor islamistische oder extremistische Akteure allgemein diese Themen aufgreifen und für sich instrumentalisieren. Du selbst bist ja bei Instagram als @Netzpädagoge und bei TikTok mit deinem Account @MehmetsMeinung aktiv. Wie bist du dazu gekommen und was waren deine Motive, um damit zu beginnen?
Mehmet Koç: Ich fange mal mit TikTok an. Es geht so mittlerweile drei, vier Jahre zurück, als diese Plattform noch von vielen unentdeckt war, aber in der lebensweltlichen Realität junger Menschen, eine sehr hohe Bedeutung bereits hatte und ich als sozialpädagogische Fachkraft darum bemüht war, die Plattformlogiken zu verstehen. Ich hatte zwei Optionen: Entweder laufe ich von einer Veranstaltung zur anderen, wo mir Personen, die sich damit auseinandergesetzt haben, die Plattformlogiken und Feinheiten erklären, oder es gibt eine Abkürzung: Ich steige selber als Content Creator ein. Letzteres habe ich letztendlich getan, auch von Beginn an mit der Absicht, Transferleistungen zu machen in die pädagogische Landschaft. Das war so eine berufliche Motivation und die auch persönlichere Motivation dahinter ist bis heute, dass ich ein Sendungsbedürfnis habe, das ich nicht abstellen kann, wenn es um gesellschaftspolitische Themen im Allgemeinen geht und im Spezifischen auch um Themen rund um Extremismus. Und auf @MehmetsMeinung thematisiere ich Themenfelder rund um Politik, Gesellschaft und Extremismus, aktuell mit den Schwerpunkten primär eben zu islamistischen Akteuren und vereinzelt aber auch zu Aspekten, die in den rechten Kreisen Gesprächsthemen darstellen. Instagram, wo ich mir als @Netzpädagoge doch erfolgreicher als gedachten einen Namen machen konnte, mache ich seit Anfang letzten Jahres, geht darauf zurück, dass ich da erkannt habe, auf TikTok gibt es kaum Fachkräfte, zumindest wollen es viele irgendwie nicht bekannt geben. Das ist immer noch so eine Blackbox und gleichzeitig habe ich gewisse Themen, die ich behandeln möchte und wollte auch Fachkräfte erreichen und mit den Themenschwerpunkten um Jugendliche, Extremismus, aber auch, ich nenne es mal, diversitätsgerechter, sensibler und zugleich rassismuskritischen pädagogischen Ansätzen, wusste ich, auf Instagram sind fast alle Fachkräfte unterwegs und tatsächlich ging das darin gut auf, über diese Plattform vor allem eine Fachöffentlichkeit zu erreichen.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Du erreichst mit deinen Beiträgen ja super viele Menschen und User:innen auf beiden Plattformen und mich würde interessieren, was so dein Erfolgsrezept ist. Also wie wählst du Themen aus und dann schlussendlich auch, wie du sie thematisierst in deinen Beiträgen.
Mehmet Koç: Auch hier muss ich immer plattformbezogen sprechen. Anfangen würde ich auch hier gerne mit TikTok und meinem aktuellen Themenschwerpunkt, islamistische Narrative dekonstruieren. Zur Dekonstruktion islamistischer Narrative hatte ich lange überlegt, ob ich mich vor die Kamera hinstelle und einfach ein Gegennarrativ, andere Deutungen des Islamischen, des Muslimischen oder als muslimisch wahrgenommenen, ja konstruierten, auseinandersetze. Und habe gemerkt, sich hinzustellen und zu reden ist so die althergekommene Art, habe ich hier und auch da gemacht. Aber bei mir war es so, dass der Erfolgsmoment da eher ausblieb. Erfolgsmoment im Hinblick auf Reichweite. Wenn man Reichweite als ein Paradigma hinzuzieht für Erfolg, würde ich nicht alleinstehend so behalten wollen, Reichweite ist ein Aspekt, aber natürlich nicht der ausschlaggebende. Mitte letzten Jahres kam mir die Idee auf, YouTube funktioniert aktuell sehr stark mit Reaction-Videos, wo Content-Creator ganz aktuelle Beiträge aufgreifen und darauf reacten. Warum machst du das mal nicht kürzer und knapper auf TikTok? Also habe ich mit Videos von Ibrahim El-Azzazi zu Beginn tatsächlich – also seine Videos nutzend, nicht mit ihm – Reaction-Videos erstellt, die etwa zwei bis drei Minuten gehen. Für TikTok-Verhältnisse eigentlich ziemlich lang, aber kürzer geht es manchmal auch nicht oder geht es einfach nicht. Und ich war sehr stark überrascht, dass Content, das etwa drei Minuten geht, hunderttausenden Menschen erreicht und mehr noch eine sehr starke Interaktionsrate erzielt. Und Interaktionsrate dahinter stecken Menschen, die ein Bedürfnis danach haben, sich zu den Themen, die im Video behandelt werden, in einer kontroversen Art sich auszutauschen. Und die Plattform-Logik ist letztendlich auch ein wirtschaftliches Unternehmen, dass der Begriff Aufmerksamkeitsökonomie fällt hier und da, also denen geht es um Bildschirmzeit und man trägt mitunter kontroversen Herangehensweisen, ja vermeintlich polarisierenden Herangehensweisen, eben auch Watchtime und erreicht damit unterschiedliche Gruppen, die in dem Kontext Islamismusprävention und Demokratieförderung eine Rolle spielen. Und die Statistiken zeigen tatsächlich, dass zu 50 Prozent 18- bis 30-Jährige sehr gut erreicht werden und wir wissen alle, dass natürlich auch unter 18-Jährige auf der Plattform unterwegs sind.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Du hast jetzt gerade gesagt, diesen Punkt mit sich was trauen in der Contenterstellung, mit diesen Reaction-Videos. Würdest du denn sagen, gibt es davon Punkte, die auch Online-Projekte oder Präventionsprojekte übernehmen könnten, wenn sie auf TikTok oder Instagram aktiv werden wollen?
Mehmet Koç: Es gibt ja diverse Projekte, die sehr wertvolle Arbeit leisten und gleichzeitig ist es tatsächlich, finde ich, eine Herausforderung. Eine Herausforderung dahingehend, erstens muss es eine Person geben können, die sich vor die Kamera stellt, denn mittlerweile kann man sehr gut mit KI-generierten Inhalten, ohne Gesicht zu zeigen, Menschen erreichen. Die Frage ist aber, wenn man längerfristig quasi in sozialen Medien Stakeholder installieren möchte mit authentischem Zugang zu diversen Zielgruppen, die man erreichen möchte, ist es, finde ich, doch wichtig, dass das ein Mensch ist, eben auch nicht eine KI. Und damit verbunden geht die Herausforderung her, dass, egal was man im Internet macht, das könnte kochen sein, dass kann aber der Versuch sein, islamistische Narrative zu dekonstruieren, Hass vorprogrammiert ist und in institutioneller Hinsicht Projekte und eben Träger ja auch eine Verantwortung für ihre Mitarbeitenden tragen, dass dort, wenn so bei mir Kommentare kommen wie, du bist ein Abtrünniger und dergleichen, dann hätte eine Institution und ein Projekt letztendlich einen Schutzauftrag. Und ich glaube, da gäbe es Kollisionen, ob man das so realisieren könnte. Ich, an dieser Stelle nochmal gesagt, mach das institutionell unabhängig, als Mehmet, als Privatperson letztendlich und habe für mich da einen Umgang gefunden.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Du bist eben auf deine Themauswahl für TikTok eingegangen. Hast du bei Instagram ähnliche Überlegungen oder gehst du da nochmal anders ran, weil du auch eine ganz andere Zielgruppe erreichen möchtest?
Mehmet Koç: Auf Instagram bin ich tatsächlich etwas lockerer. Genau, das kann ich schon so sagen, weil ich von Beginn an den Content eher für eine Fachöffentlichkeit erstelle, aber natürlich nie weiß, wem der Algorithmus von Meta die Videos ausspuckt, ja. Also es gibt natürlich auch auf Instagram rassistische, menschenverachtende, bis hin zu eliminatorischen Kommentaren. Die habe ich auf der Plattform Instagram in der Menge nicht ansatzweise so erlebt wie auf TikTok. Zum Anderen hatte ich da in Bezug auf jugendlichen Extremismus oder Radikalisierung junger Menschen immer so die Ambition gehabt, aufzeigen zu wollen, hey, radikalisierte Jugendliche oder mutmaßlich radikalisierte Jugendliche, über die medial teilweise sehr undifferenziert, stigmatisierend gesprochen wird, sie alle haben eine Biografie. Und in gewissen Reels, die ich gemacht habe, ging es mir eindrücklich darum aufzuzeigen, hey, der Jugendliche, der heute sehr tief in einer radikal-extremistischen Gruppe sein Glück gefunden hat, der ist so geworden. Und das so-geworden-sein aufzuzeigen, in Form von eben Instagram-Beiträgen und Reels und in die Caption ein paar Sätze zur Erklärung zu schreiben, damit Fachkräfte den Blick auf ihre Adressatengruppen weiten, selbst wenn diese in wie auch immer Kontexten unterwegs sind, die wir gemeinhin als radikale Kontexte bezeichnen wurden. Und die Resonanz darauf war so positiv, dass ich jetzt tatsächlich auch mit Stolz sagen kann, in einem Jahr bei 4.000 Followern und das neben dem Ganzen einher, bei 4.000 teile ich definitiv ein Danke, eine Danke-Story an die Community, weil davon wird sie getragen.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Das sind echt großartige Zahlen, vor allen Dingen, weil du das ja auch neben deiner normalen Lohnarbeit noch als Privatperson machst. Du hast vorhin darüber gesprochen über die ganzen Parameter, Reichweite, Interaktionen. Was macht denn für dich einen erfolgreichen Beitrag auf deinen Kanälen aus?
Mehmet Koç: Ein erfolgreicher Beitrag bedeutet bei mir, dass ich Inhalt erstelle, das zur Reflexion anregt, wo der Rezipient gegenüber vor dem Bildschirm eine Anregung mitnimmt, über das inhaltlich Besprochene nachzudenken. Und im besten Fall unter dem Video in die Kommentare zu gehen, in die Diskussion. Das zeigt sich dann aber auch ganz schnell beim zweiten Aspekt, der Interaktionsrate und Reichweite. In dem Moment, wenn der Inhalt, wenn das Video so kreiert ist, dass es zur Reflexion anregt, dann belohnt der Algorithmus diesen Beitrag ja dadurch, dass es weiteren Menschen gezeigt wird. Nicht mit der Motivation, es ist cool, demokratiepädagogischer Inhalt, sondern weil es darauf hofft, mehr Menschen auf der Plattform zu halten. Und erfolgreich ist es vor allem auch dann, wenn mir persönlich, und das bekomme ich auch hin und wieder, Menschen wirklich feedbacken, die sagen, hey, die Inhalte, die zur Dekonstruktion islamistischer Narrative, also mit dieser Kernabsicht erstellt werden, auch eine Aufklärung über Islam und muslimisches Leben in Deutschland hätten und somit einen miteinander fördern würden, also unerwartete Aspekte da nochmal gefeedbackt werden an mich, dann denke ich, ja cool, dann gebe ich wirklich gerne Energie rein.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Es ist ja auch richtig schön, dann diese Resonanz zu bekommen für deine Arbeit. Lass uns bei dem Thema Resonanz und Interaktion bleiben. Du hast schon gesagt, dass viel auch unter den Videos kommentiert wird, dass dir die Leute auch schreiben und eben auch kontroverse Diskussionen manchmal stattfinden. Wie kommentieren Menschen denn unter deine Beiträge und inwiefern siehst du da auch, dass sich quasi von den Inhalten, die du reingibst, noch mehr Gespräche entspinnen?
Mehmet Koç: Das reicht von einem Pol zum anderen und es gibt auch eine gute Mitte da drin. Um das mal ganz exemplarisch zu machen, gestern gab es Berichterstattung über Abdelhamid, dessen Prozessauftakt jetzt erfolgt ist und die aktuellsten Medienberichte dazu waren, dass er womöglich ein Geständnis ablegt und auch seine Frau. Und tatsächlich hat mir gestern Abend, ich hatte das gar nicht im Sinn, jemand unter einem Video geschrieben, hey Mehmet, es gibt was Neues zu Abdelhamid, vielleicht machst du dazu ein Video und dann habe ich mir ein paar Minuten das durchgelesen und dachte, ich muss jetzt diesen Zeitslot am Abend, es war 21 Uhr, 21 Uhr 30, kurz vor Sonnenuntergang auf dem Balkon, also schaut euch das Video gerne an, habe ich, nachdem ich mich eingelesen habe, direkt ein Video dazu erstellt, wo ich einerseits inhaltlich wiedergebe, was quasi eine mediale Berichterstattung mir als Information gibt, aber dann eben diese Reflexionseinheit mit einbaue und das Video ist gerade bei 60, 70.000 Aufrufen. Seine Community, denn er hat eine sehr starke Community, kommentiert, gerade ziemlich stark unter dem Beitrag und das reicht eben von, ja, „Warum machst du das überhaupt, wenn er seine Sünde bereut hat, das gehört sich nicht über Fehler von Menschen zu sprechen“, bis hin zu, und da erkennt man nochmal sich immer wieder reproduzierende Narrative, ja, „Er macht das wahrscheinlich, weil er dazu gedrängt wird“, also es gibt Faktor X, den Staat, der ihn dazu drängt, also dann haben wir dieses „Vertrau dem deutschen Staat und den Medien nicht“, bis hin zu aber auch eben Positionen, die sagen, „Hey, für mich war die Person immer schon suspekt“ und wo dann beide Pole, nenne ich es mal, in auch Kontroversen gehen und ich mich da gut raushalten kann, ich sehe auch gar nicht den Auftrag bei mir, Kommentarmanagement in einem größeren Umfang zu machen. Und ich hatte eingangs auch gesagt, Kommentare, die auch sehr abwertend sind, mir den Glauben absprechen. Ich habe gerade noch einen Kommentar bekommen, da hat jemand geschrieben, „Warum redest du genau wie eine Frau, also ich meine genau wie ein Homosexueller?“, also hat mit dem Thema an und für sich gar nichts zu tun, da habe ich gefragt, wie meinst du das, „Ja, du sprichst sehr feminin“, da habe ich versucht, auf einer ganz anderen Ebene zu erkennen, was sind das gerade für Zuschreibungen und welche Männlichkeitsbilder stecken da und welche Homophobie steckt dahinter und also welche Themen da potenziell noch aufkommen können in einer direkten Interaktion und die ergeben sich auch sehr gut, wenn man über direktem Wege, wenn Menschen einem schreiben, eigentlich auch Dialog eingehen kann und das sind Chancen, die diese Plattformen bieten, die ich nur eingeschränkt, aber größer gedacht, man durchaus nutzen könnte.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Ja, total spannend, also diese verschiedenen Ebenen, wo dann Interaktion und Dialog möglich ist. Du bist ja auf den Plattformen als Einzelperson, mit deinem Gesicht und mit deinem Vornamen präsent und da kommt es natürlich auch zu negativen Kommentaren, also du hast eben schon davon berichtet. Wie gehst du damit um, um das nicht zu nah an dich ranzulassen, also was für Strategien hast du für dich entwickelt?
Mehmet Koç: Also, es ist ein sehr intensiver Prozess gewesen, das bis heute andauert. Als ich noch zu Beginn eher Content gemacht habe, das rechte Narrative und gesellschaftliche Diskurse aufgegriffen hat, war der Hass ähnlich, aber deutlich intensiver, sodass es so weit ging, dass Menschen wie wild unter meinen Videos geschrieben haben, wo wohnt dieser Mehmet, wo wohnt dieser Mehmet. Und für mich war dieser Moment, wo jemand nach meiner Wohnanschrift fragt, tatsächlich so etwas, das hat was mit mir gemacht. Ich hatte direkt diese Kommentare gelöscht, die Person blockiert und mir überlegt, ja okay, was mache ich, wenn ich übermorgen irgendwie Post im Postkasten habe und dann plötzlich meine Familie ins Spiel kommt. Dann kam so auch so weniger Content-Creation-Zeit bei mir, als ich so ein bisschen noch am Überlegen war, welche Richtung möchte ich einschlagen, denn ich habe mit Content gegen rechts als POC sehr viel Interaktion erzielt, aber keine Community, keine Followerschaft auf TikTok wirklich aufbauen können. Die Plattform hat das sehr gerne in bestimmten rechten Kreisen ausgespielt, die haben mein Content genutzt, um sich auszukotzen, nenne ich mal, aber die kamen nie auf die Idee, mir ein Plus oder ein Like dazulassen und irgendwann war das nicht mehr so im Verhältnis zueinander, wo ich dann paar Monate überlegt hatte, will ich überhaupt das noch, welche Themen möchte ich? Aber musste feststellen, ich muss, dachte aber, komm, dann geh mal primär eben islamistische Narrative an, weil die die Plattform sehr gut kennen und Content auf eine Art erstellen, das sehr manipulativ, emotionalisierend und im letzten Schritt auch dichotomisierend bei den Zielgruppen ankommt. So habe ich es gemacht und heute, wie gehe ich damit um und was habe ich, was mir irgendwie noch Kraft gibt, das zu machen? Also ich lese vieles, was so irgendwie doch so in Richtung Hass und mehr geht, etwas anders, also ich schreibe dem Auftreten der Person im Kontext sozialer Medien weniger Gefahr zu, vielleicht ist das leichtsinnig. Ich hatte auch den Moment, dass jemand gesagt hatte, als ich sagte, ich glaube an unsere demokratische Gesellschaft, war die Antwort als öffentlicher Kommentar, „Ich glaube an meine neun Millimeter“, wo allen Hörenden klar ist, was das heißen kann. Strafrechtlich, wenn ich das angehen würde, ich mir sagen gelassen habe, das wäre ein mühsamer Prozess, wo du am Ende wahrscheinlich nichts durchkriegst. Also spare ich mir meine Energie und Ressource, die ich nur eingeschränkt habe, zu Content Creation und Community Management gewissermaßen und habe aber, um das ehrlich auch zu sagen, hin und wieder, schon so Kopfkinos, wenn ich irgendwie in der Innenstadt, in den Städten, wo ich unterwegs bin, laufe: Was, wenn ein Anhänger von Ibrahim El-Azzazi oder Abul Baraa oder von Muslim Interaktiv, deren Videos ich ja auch reacte und in meinen Ansätzen auch den Personenkult, um sie, zu Vibration bringen wäre mild ausgedrückt, also daran was zu machen, zu bewirken, ja, um den Personenkult herum. Was mache ich, wenn jemand mich gleich irgendwie persönlich angehen würde? Diese Kopfkinos, was dann wäre, kommt hier und da auf. Anscheinend habe ich eine gewisse Resilienz, die mich davon abhält, mein Engagement einzustellen, verstehe aber total, dass es auch Menschen gibt, die sagen, boah, das würde ich, also mich würde ich dem nie aussetzen wollen. Eigene Grenzen kennen ist da in der Hinsicht wichtig.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Ja, vielen Dank für die Einblicke und ich glaube, das ist total wichtig, neben den ganzen Gesprächen über gute Inhalte und deine Reichweite eben auch sichtbar zu machen, dass es eine Herausforderung ist als Content Creator mit all dem umzugehen. Vielen Dank für das Gespräch.
Mehmet Koç: Ja, vielen Dank für euer Interesse. (Musik)
Ulrike Hoole (KN:IX connect): Wie in anderen Lebensbereichen, ist also auch bei Radikalisierungsprozessen die Bedeutung des Internets über die letzten Jahre und Jahrzehnte definitiv gestiegen. Das Internet kann Radikalisierungsverläufe anstoßen oder beschleunigen – und ja, es gibt auch Radikalisierungsprozesse, die nur Online stattfinden. Gleichzeitig laufen die meisten Radikalisierungen nicht ausschließlich digital ab. Auch in Bezug auf Extremismus und Radikalisierung verschwimmen die Grenzen zwischen Online und Offline und in allermeisten Fällen sollten wir von einer hybriden Radikalisierung statt von einer rein analogen oder Online-Radikalisierung ausgehen.
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Genau weil die digitale Welt aus unserem Leben und aus Radikalisierungsprozessen nicht mehr wegzudenken ist, müssen wir als demokratische Akteur:innen im Netz präsent sein. Neben positiver Resonanz hat das Engagement in den sozialen Medien mit Hasskommentaren und Drohungen aber auch seine Schattenseiten. In unserer Folge haben wir gehört, wie es gelingen kann, ganz unterschiedliche Gruppen mit gesellschaftlichen Themen und vor allem auch Kontroversen zu erreichen. So können wir über Social Media zum Dialog anregen und Möglichkeiten schaffen, damit Menschen neue Perspektiven wahrnehmen.
(Musik)
Charlotte Leikert (KN:IX connect): Inhaltliche Vorbereitung, Moderation und technische Umsetzung: Ulrike Hoole und Charlotte Leikert.
Dieser Podcast ist Teil von KN:IX connect, dem Verbund Islamismusprävention und Demokratieförderung. KN:IX connect wird umgesetzt von ufuq.de, modus | zad – Modus Zentrum für Angewandte Deradikalisierungsforschung, IFAK – Verein für Multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe Migrationsarbeit und der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx. Alle Träger werden im Rahmen von KN:IX connect durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Förderung erhalten wir von der Landeskommission Berlin gegen Gewalt. Der Podcast stellt keine Meinungsäußerungen des BMBFSFJ, des BAFZA oder der weiteren Mittelgeber dar. Für inhaltliche Aussagen und Meinungsäußerungen tragen die Publizierenden dieser Veröffentlichung die Verantwortung.