Fundamentalismus, Islamismus, Radikalisierung?

Fundamentalismus, Islamismus, Radikalisierung?

Begriffliche Zugänge zu einem vielschichtigen Gegenstand der Präventionsarbeit

Der Artikel von Dr. Götz Nordbruch (ufuq.de) erschien erstmals im Rahmen des KN:IX Report 2023.

In den Begriffen, die wir zur Beschreibung eines Phänomens verwenden, spiegeln sich die Grundannahmen und Fragestellungen, mit denen wir es betrachten. Das gilt auch für Begriffe wie „Islamismus”, „religiös begründeter Extremismus” oder „Radikalisierung”, die in der Fachdebatte und Präventionspraxis häufig synonym verwendet werden, obwohl sie doch jeweils ganz eigene Akzente setzen. Der folgende Überblick soll dazu anregen, sich die verschiedenen Blickwinkel, aus denen das Phänomen des Islamismus betrachtet werden kann, und die damit jeweils verbundenen Zielsetzungen bewusst zu machen.

Was genau ist gemeint, wenn von „Islamismus“, „religiös begründetem Extremismus“ oder „Radikalisierung“ die Rede ist? In den Bezeichnungen, die in fachwissenschaftlichen und politischen Diskussionen oder in Präventionsprogrammen verwendet werden, spiegeln sich unterschiedliche Zugänge zu einem Phänomen, das sich nur schwer auf einen begrifflichen Nenner bringen lässt. Das liegt am Wandel und der Vielschichtigkeit des Phänomens selbst, aber auch an den unterschiedlichen Perspektiven, aus denen es betrachtet wird: Eine politikwissenschaftliche Analyse der politisch-religiösen Ordnung im Iran verwendet zwangsläufig andere Begriffe als eine soziologische Forschung über die Entstehung von salafistischen Szenen in Deutschland oder die psychologische Betrachtung eines Radikalisierungsprozesses, die Motive einer Hinwendung zu dschihadistischen Organisationen beleuchtet.[1]

Die in diesen Betrachtungen verwendeten Begriffe sind keineswegs trennscharf, nicht selten werden sie synonym genutzt. Daher ist es gerade für die Präventionspraxis sinnvoll, sich die unterschiedlichen Perspektiven und damit verbundenen Fragestellungen bewusst zu machen: Was genau soll verhindert werden? Welche Annahmen liegen einer Präventionsmaßnahme zugrunde? Dabei geht es weniger darum, welcher Begriff besonders treffend ist, als vielmehr um eine Reflexion darüber, worin sich die Begriffe unterscheiden und welche Aspekte sie jeweils mit welchem Ziel in den Blick nehmen.

In diesem Beitrag werden daher fünf Begriffe vorgestellt, die in Fachdebatten und der Fachpraxis weit verbreitet sind.[2] Zu jedem dieser Begriffe gibt es zahllose Studien mit entsprechenden Definitionen – und doch gibt es selbst unter den Autor*innen dieser Studien selten einen Konsens, was mit dem Begriff jeweils bezeichnet wird. Der folgende Überblick ist daher zwangsläufig verkürzt und spitzt einzelne Charakteristika der Begriffe zu, um dazu anzuregen, in der Praxis gängige Begrifflichkeiten und damit verbundene Perspektiven zu hinterfragen.

Fundamentalismus – eine Frage des Religionsverständnisses

Der Begriff des Fundamentalismus diente christlichen Gruppierungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Eigenbeschreibung zur Abgrenzung von anderen christlichen Strömungen. Seit den 1980er Jahren fand der Begriff dann zunehmend Eingang in die wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung mit dem Islam. Dabei rückte der Begriff das besondere Religionsverständnis in den Mittelpunkt, das Bewegungen wie der Muslimbruderschaft in Ägypten, der Islamischen Heilsfront (FIS) in Algerien oder auch Gelehrten der Islamischen Republik Iran gemein ist, sie aber zugleich von anderen islamischen Glaubensvorstellungen unterscheidet.

Als „fundamentalistisch“ wird zum einen das Ziel beschrieben, die Religion durch eine Rückkehr zu den Grundlagen des Glaubens vor vermeintlich religionsfremden Einflüssen und Veränderungen zu bewahren. Zum anderen unterstreicht der Begriff den Anspruch dieser Gruppierungen und Strömungen, die Fundamente des Glaubens auf eine einzig richtige Weise zu deuten und zu praktizieren und Neuinterpretationen und Neuerungen als unislamisch zurückzuweisen.

Anders als im christlichen Kontext des frühen 20. Jahrhunderts wird der Begriff im islamischen Kontext nicht als Eigenbezeichnung verwendet: Fundamentalistische Strömungen sehen sich selbst schlicht als Muslim*innen, die einem einzig wahren Verständnis des Glaubens folgen. Als Fremdbezeichnung liegt der Charakterisierung einer Bewegung als „fundamentalistisch“ die Überzeugung zugrunde, dass die Fundamente einer Religion unterschiedlich interpretiert und gelebt werden können: Was „Fundamentalisten von Nicht-Fundamentalisten trennt, ist nicht der Versuch, den religiösen Glauben überzeugend zu leben. Es ist die den Fundamentalisten eigene Art und Weise, die Grundprinzipien auszuwählen, zu präsentieren und zu verstehen, die sie von den liberalen oder moderaten oder orthodoxen Gläubigen trennt“ (Marty/Appleby 1996, S. 11-12).

Die Verwendung des Begriffs in den 1980er und 1990er Jahren stand in einem engen Zusammenhang mit kultur- und religionswissenschaftlichen Forschungen, die eine Wiederkehr des Religiösen in säkularisierten Gesellschaften beobachteten und Fundamentalismus als „Aufstand“ (Meyer 1989) oder gar „Kampf gegen die Moderne“ (Marty/Appleby 1996) interpretierten. Dabei beschränkte sich der Blick keineswegs auf den Islam und Muslim*innen. Als Beschreibung einer bestimmten Art und Weise, die religiösen Quellen zu lesen und zu interpretieren, verwies der Begriff auf ähnliche Entwicklungen in anderen Religionen, in denen Bewegungen wie die Evangelikalen in den USA oder religiös-zionistische Siedler*innen in Israel an Bedeutung gewannen (vgl. Meyer 1989, S. 7-14). Fundamentalismus erschien als eine kulturell-religiöse Herausforderung, die die Grundlagen „moderner Gesellschaften“ und die damit verbundenen Wertvorstellungen infrage stellte. Gerade mit Blick auf den islamischen Kontext wurde Fundamentalismus auch als Reaktion auf die Moderne und die mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen verstanden. So wurde der islamische Fundamentalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch als politische und intellektuelle Reaktion auf den europäischen Kolonialismus beschrieben.

Die viel beachtete, aber kontrovers diskutierte Studie „Verlockender Fundamentalismus“ (Heitmeyer et al. 1997), in der Einstellungen deutschtürkischer Jugendlicher zu Religion, Wertorientierungen und ethnisch-kulturellen Selbstbildern untersucht wurden, griff diese Begriffsentwicklung auf und verband sie mit soziologischen Perspektiven. Auf diese Weise konnten etwa familiäre und kulturell-religiöse Einflüsse neben Erfahrungen von Diskriminierung und Marginalisierung als mögliche Ursachen fundamentalistischer Einstellungen ausgemacht werden. Mit diesen Fragen nach Motiven und Ursachen bot die genannte Studie erstmals Anlass für breitere Diskussionen auch darüber, wie entsprechenden Einstellungen in Deutschland auf politischer und gesellschaftlicher Ebene entgegenzuwirken sei.

Eine Kritik, die die Thesen von Heitmeyer et al. auslösten und die in ähnlicher Weise bis heute in Debatten um Präventionsstrategien nachhallt, wurde dabei von dem Erziehungswissenschaftler Georg Auernheimer formuliert: „Die Aufnahmegesellschaft mit ihrem politischen System und die Minderheit bekommen gleichermaßen schlechte Noten. (…) Dabei gerät in Vergessenheit, daß Separationstendenzen vermutlich reaktiven Charakter haben.“[3] Der in der Studie gewählte Zugang zu problematischen Einstellungen unter jungen Menschen mache nicht ausreichend deutlich, „daß die Verantwortung für die aufgezeigten Tendenzen innerhalb der türkischsprachigen Community in erster Linie bei der Mehrheitsgesellschaft zu suchen ist, weil sie und nur sie über die Macht verfügt, die Situation strukturell zu verändern“ (Auernheimer 1999, S. 121).

Islamismus – Bestrebungen zur Umgestaltung der Gesellschaft

Bewegungen wie die Muslimbruderschaft oder der Salafismus stehen für ein bestimmtes Religionsverständnis, lassen sich aber nicht allein über ihre Zugänge zu religiösen Quellen und religiöse Weltbilder beschreiben. Sie sind soziale Phänomene, die auf gesellschaftliche Verhältnisse reagieren und diese beeinflussen. Als soziale Bewegungen vermitteln sie ihren Anhänger*innen kollektive Identität, stiften Sinn und eröffnen Handlungsmöglichkeiten in einer Gemeinschaft.

Der Begriff des Islamismus rückt diese sozialen Dynamiken und gesellschaftsgestaltenden Ansprüche in den Mittelpunkt. So definiert der Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker Islamismus als „Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden“, wobei er unter Bestrebungen sowohl „missionarisch(e) oder erzieherisch(e) Tätigkeit(en)“ als auch das „Engagement in politischen Parteien bis hin zu revolutionären Plänen“ fasst (Seidensticker 2015: S. 9).

Diese mittlerweile weithin genutzte Definition spiegelt sich in einer Vielzahl an Forschungen, die den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dieser Strömungen nachgehen und u. a. deren Verankerung in bestimmten sozialen Milieus aufzeigen: Islamismus beschränkt sich nicht auf Gelehrte und lässt sich nur bedingt aus der Attraktivität eines bestimmten Religionsverständnisses erklären; bedeutsam sind auch individuelle Lebenslagen und gesellschaftliche Verhältnisse, die die Hinwendung bestimmter Personen oder Personengruppen zu bestimmten Gemeinschaften mit bestimmten Positionen begünstigen.

Damit lenkt der Begriff des Islamismus den Blick auf soziale Erfahrungen und Kontexte, die ein fundamentalistisches Religionsverständnis attraktiv erscheinen lassen. Auf diese Weise werden auch Unterschiede sichtbar. So unterscheiden sich beispielsweise die sozialen Milieus, in denen breitere soziale Bewegungen wie die Muslimbruderschaft, politisch-aktivistische Strömungen wie die Hizb ut-Tahrir oder dschihadistische Organisationen wie al-Qaida Zuspruch finden. Islamistische Organisationen ähneln sich in ihren Zugängen zur Religion, unterscheiden sich aber in ihren jeweiligen sozialen, gesellschaftspolitischen, verhaltensbezogenen und emotionalen Angeboten.

Politischer Islam – politischer Anspruch als Grenzüberschreitung?

Ähnlich wie der Begriff des Fundamentalismus nimmt auch die Bezeichnung „politischer Islam“ ideologische Aspekte in den Blick. Dabei geht es jedoch weniger um eine Beschreibung des Umgangs mit den religiösen Quellen als um den politischen Anspruch, der aus den Quellen abgeleitet wird. Die Beschreibung als „politisch-islamisch“ akzentuiert die Abgrenzung von privaten, auf den persönlichen Lebensbereich eines Gläubigen oder einer Gläubigen beschränkten Religionsvorstellungen, mit denen keine gesellschaftsgestaltenden Erwartungen oder gar Handlungsaufforderungen verbunden werden. Als politisch in diesem Sinne werden beispielsweise Bewegungen oder Organisationen bezeichnet, die mehr oder weniger explizit auf eine gesellschaftliche Durchsetzung von islamischen Werten und Normen drängen. Exemplarisch hierfür steht die Bewegung der Muslimbruderschaft, die mit der Parole „Der Islam ist die Lösung!“ den Islam zur Grundlage der angestrebten gesellschaftlichen Ordnung erklärt.

Der Begriff des Politischen umfasst hier auch gewaltbereite Formen, bezieht sich aber zunächst auf nichtgewaltförmige Handlungsweisen (beispielsweise Bildungs- oder soziale Angebote, Beteiligung an politischen Auseinandersetzungen bis hin zu Wahlen oder Missionierungsarbeit), die auf eine gesellschaftliche Durchsetzung religiös begründeter Werte und Normen abzielen. Insofern legt der Begriff „politischer Islam“ Gewicht auf die Zielsetzungen von Bewegungen und Organisationen, unabhängig von den Aktionsformen, mit denen diese verfolgt werden.

Die Vorzüge, die mit einer solchen Perspektive auf das Politische einhergehen, stehen allerdings auch für die Unschärfen und Grenzen des Begriffs. So wird von Kritiker*innen zum einen die Unbestimmtheit des Begriffs „politisch“, zum anderen aber auch dessen fast ausschließliche Verwendung in Bezug auf den Islam bemängelt. Schließlich sei es in anderen, vor allem christlichen Zusammenhängen selbstverständlich, dass Personen, Organisationen oder auch Parteien ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen auch aus religiösen Überzeugungen ableiten, ohne dass dies deren Ziele delegitimiere.

Religion, so ließe sich schließlich einwenden, enthält immer auch wertgeleitete Aussagen darüber, wie soziale Beziehungen und gesellschaftliche Ordnungen gestaltet sein sollten. Entscheidend für eine Problematisierung wäre daher nicht der gesellschaftspolitische Anspruch an sich, wie ihn beispielsweise die Muslimbruderschaft unter Bezug auf den Islam vertritt, sondern die konkreten Vorstellungen, die sie daraus ableitet und ob sie Positionen und Vorstellungen, die von den eigenen abweichen, als gleichermaßen legitim anerkennt.

In der einseitigen Problematisierung eines „politischen Islam“ – im Unterschied zur gesellschaftlichen Akzeptanz von politischen Botschaften, die von christlichen Akteuren vertreten werden[4] – zeigt sich die Wirkmächtigkeit antimuslimischer Diskurse, die eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Islam und demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien unterstellen.

(Religiöser) Extremismus – sicherheitspolitische Risiken an den Rändern der Gesellschaft?

Der Begriff des Extremismus ist ebenso verbreitet wie umstritten. In den Politik- und Sozialwissenschaften bezeichnet Extremismus jene Ideologien und Bewegungen, die von den im Grundgesetz festgeschriebenen Prinzipien der Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abweichen und damit unvereinbare Ordnungs- und Wertvorstellungen anstreben. Dabei ist es unerheblich, ob politische oder religiöse Motive zugrunde liegen, mit denen die jeweiligen Ideologien begründet werden.

In der breiten Verwendung des Begriffs in öffentlichen Debatten spiegelt sich die Annahme vom Bestehen einer demokratischen und rechtsstaatlichen Mitte und davon abweichenden Extremismen. In der fachwissenschaftlichen Forschung ist diese Annahme allerdings umstritten – vor allem weil sie mehr oder weniger explizit von einer des Extremismus unverdächtigen gesellschaftlichen Mitte ausgeht und abweichende Einstellungen vor allem an den gesellschaftlichen Rändern verortet. Dagegen zeigen Studien beispielsweise zur Akzeptanz rassistischer, antisemitischer oder auch autoritärer Einstellungen, dass diese auch in der gesellschaftlichen Mitte auf breiteren Zuspruch stoßen.[5]

Für die universelle Präventionsarbeit besonders relevant ist eine grundsätzliche Kritik am Begriff und Konzept des Extremismus, die sich gegen eine Übernahme sicherheitspolitischer Perspektiven in der Bildungs- und Jugendarbeit richtet (vgl. dazu u. a. Bürgin 2021 sowie Achour/Gill 2019). So geht mit der Beschreibung von Einstellungen und Verhaltensweisen als Ausdruck von Extremismus eine Risiko- oder Defizitperspektive gerade auf junge Menschen einher, die im Widerspruch zu Leitgedanken der Bildungs- und Jugendarbeit steht. Anders als Extremismusprävention geht beispielsweise die politische Bildung von offenen Lernprozessen aus, die nicht auf Defizite und Risiken reagieren, sondern selbstbestimmtes Lernen und autonome Entwicklung ermöglichen sollen. Eine Orientierung von Bildungsangeboten am Leitgedanken, Extremismus vorzubeugen, verkehrt die Ressourcenorientierung der Bildungs- und Jugendarbeit in eine Logik des Verdachts.

Radikalisierung – die Frage nach dem „Warum“ und „Wie“

Begriffe wie Fundamentalismus, Islamismus oder Extremismus beschreiben Ideologien oder Bewegungen, für die bestimmte Denk- oder Handlungsweisen charakteristisch sind. Demgegenüber tritt mit dem Begriff der Radikalisierung ein Prozess oder die Entwicklung in den Vordergrund, im Laufe derer sich eine Person oder eine Gruppe radikalen Ideologien oder Bewegungen zuwendet.[6] Dabei wird Radikalität selbst nicht zwangsläufig als negativ oder problematisch verstanden. So wird beispielsweise in der sozialpsychologischen Forschung auf die Funktion von jugendlicher Radikalität als Teil der Identitätsentwicklung in Abgrenzung von Eltern und Gesellschaft verwiesen. Auch mit Blick in die Geschichte wird deutlich, dass historisch als radikal bezeichnete Positionen keineswegs im Widerspruch zu heute weithin akzeptierten Werten und Normen stehen müssen (dies gilt beispielsweise für Forderungen der Bürgerrechts- oder der Schwulen- und Frauenbewegung). Radikalität ist ein relativer Begriff, der die Abweichung von einem gesellschaftlichen Konsens zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreibt.

Dennoch spielt der Begriff der Radikalisierung in aktuellen Debatten – ebenso wie in der Präventionsarbeit – eine zentrale Rolle. Angesichts der wachsenden Zahl von Ausreisen junger Menschen aus Deutschland nach Syrien und Irak sowie der dschihadistischen Anschläge in Europa rückte seit 2012 das Interesse an den individuellen Prozessen ins Zentrum der Aufmerksamkeit, in deren Verlauf sich Personen von gesellschaftlichen Grundwerten und -prinzipien abwenden, sich gegen die sie umgebende Gesellschaft stellen und im Kampf gegen diese Gesellschaft auch gewalttätig agieren. Dabei geht es insbesondere um die Ursachen, Motive und Einflüsse, die solche biografischen Entwicklungen begünstigen, weniger um die Denkweisen und Organisationsformen, in die sie eventuell münden. Mit dieser Perspektive ist der Begriff der Radikalisierung besonders anschlussfähig an die Präventionsarbeit und deren Suche nach Ansatzpunkten für Maßnahmen und Interventionen, die der Attraktivität entgegenwirken, die radikale Denk- und Handlungsweisen auf einzelne Personen ausüben können.

Gleichwohl unterscheiden sich die Annahmen, die dem Begriff der Radikalisierung zugrunde liegen. Neben Stufenmodellen, die den Prozess einer Radikalisierung in einzelnen, aufeinander aufbauenden Phasen beschreiben, stehen Ansätze, die den individuellen und dynamischen Charakter dieser Entwicklung herausstellen. Radikalisierungsprozesse sind danach weder schematisch noch zwangsläufig. Gemeinsam ist vielen dieser Beschreibungen die Berücksichtigung von individuell-biografischen, gesellschaftlichen und ideologischen Faktoren, die die sukzessive Übernahme radikaler Denk- und eventuell gewaltförmiger Handlungsweisen begünstigen.

Für die Präventionsarbeit interessant ist auch die Verknüpfung des Begriffes Radikalisierung mit dem Begriff der „Hinwendung“ (vgl. Glaser 2018). Auch in dieser Begrifflichkeit geht es darum, die biografische Entwicklung einer Person „hin zu …“ zu beschreiben, allerdings rücken dabei die Perspektiven des Individuums ins Zentrum: Welche Erfahrungen, Überzeugungen oder Interessen leiten den*die Einzelne*n, diese Entwicklung zu nehmen? Radikalisierung ist danach kein Prozess, der einer Person unter bestimmten Umständen „passiert“ oder zu der sie mittels Manipulation verleitet wird, sondern immer auch Ausdruck von individuellen Wahrnehmungen, Entscheidungen und individuellem Handeln.

Die unterschiedlichen begrifflichen Zugänge, die in diesem Überblick beschrieben werden, schlagen sich auch in den Präventionsprogrammen und -angeboten der vergangenen Jahre nieder. Oft spiegeln sie nicht Veränderungen des Phänomens selbst, sondern eine Veränderung der Perspektiven, Fragestellungen und Zielsetzungen, unter denen das Phänomen betrachtet wird. Gerade in der Zusammenarbeit von Präventionsakteur*innen mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen (etwa Jugendhilfe, Psychologie oder Polizei) kann es daher zu Missverständnissen kommen, die auch mit den jeweiligen Perspektiven auf das Phänomen und damit korrespondierenden unterschiedlichen Rollenverständnissen zusammenhängen. Ein Schritt zurück und die Reflexion der selbst verwendeten Begrifflichkeiten kann helfen, die Vielschichtigkeit des Phänomens wahrzunehmen und eigene Annahmen, Ziele und Handlungsprämissen zu schärfen.

Literaturverzeichnis

Achour, Sabine/Gill, Thomas (2019): „Liebe Teilnehmende, liebe Gefährderinnen und Gefährder!“ Extremismusprävention als politische Bildung?, in: Journal für politische Bildung (3/2019).

Auernheimer, Georg (1999): „Verlockender Fundamentalismus“ — ein problematischer Beitrag zum Diskurs über „ausländische“ Jugendliche, in: Wolf-Dietrich Bukow/Markus Ottersbach (Hg.), Fundamentalismusverdacht. Plädoyer für eine Neuorientierung der Forschung im Umgang mit allochthonen Jugendlichen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden, S. 119-133.

Bürgin, Julika (2021): Extremismusprävention als polizeiliche Ordnung. Zur Politik der Demokratiebildung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Dakhli, Leyla (2016): Islamwissenschaften als Kampfsport: Eine französische Debatte über die Ursachen dschihadistischer Gewalt, www.ufuq.de, 24. Juni 2016.

Fouad, Hazim/Said, Behnam (2020): Islamismus, Salafismus, Dschihadismus. Hintergründe zur Historie und Begriffsbestimmung, in: Infodienst Radikalisierungsprävention (bpb), 17.12.2020.

Glaser, Michaela (2018): Über die Hinwendung von Jugendlichen zum gewaltorientierten Extremismus. Interview, in: Sozialmagazin, 5-6/2018, S. 72-75.

Heitmeyer, Wilhelm/Schröder, Helmut/Müller, Joachim (1997): Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland. Frankfurt: Suhrkamp.

Marty, E. Martin/Appleby, R. Scott (1996): Herausforderung Fundamentalismus. Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf gegen die Moderne. Frankfurt: Campus.

Meyer, Thomas (1989): Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne. Hamburg: Rowohlt.

Neumann, Peter (2013): Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 29-31/2013, S. 3-10.

Anmerkungen

[1] Noch vielschichtiger wird das Bild, wenn man französisch-, englisch- oder arabischsprachige Begriffe einbezieht. So war im französischen Kontext lange Zeit der Begriff „intégrisme“ verbreitet, der das hermetische und totalitäre Weltbild – islamischer wie christlicher – Strömungen in den Mittelpunkt rückte. Im englischsprachigen Kontext ist dagegen oft von „violent extremism“ die Rede, um diese Form des Extremismus von nicht-gewaltförmigen Denkweisen abzugrenzen. In solchen Akzentuierungen spiegeln sich auch politisch-kulturelle Unterschiede beispielsweise in Bezug auf die Grenzen der Meinungsfreiheit und die Strafbarkeit von extremistischen Äußerungen und Verhaltensweisen. So ist anders als im deutschen Kontext, wo in den letzten Jahren ein besonderes Augenmerk auf dem „Salafismus“ lag, in arabischsprachigen Debatten häufig von „wahhabiyya“ die Rede, um damit die ideologischen Ursprünge dieser Strömung im Wahhabismus herauszustellen und sie zugleich von der historischen theologischen Reformbewegungen der „Salafiyya“ abzugrenzen. Ein anderer Begriff, der im arabischen Kontext verwendet wird, ist „Takfiri“, der den Drang dieser Strömungen beschreibt, andere Muslim*innen zu „Ungläubigen“ zu erklären, wenn sie ein anderes Religionsverständnis vertreten. Anderen Muslim*innen „Unglauben“ vorzuwerfen gilt hier als charakteristisches Merkmal, das diese Strömungen von anderen abgrenzt.

[2] Weitere Begriffe wie „Salafismus“ oder „Polarisierung“ ließen sich ergänzen. Einen guten Überblick, wie schwierig die Verhältnisbestimmung selbst von Begriffen wie Salafismus und Dschihadismus ist, geben Fouad/Said 2020.

[3] Dieser Streit um die Ursachen spiegelt sich auch in der Forschung zu den globalen Kontexten, in denen sich islamistische Bewegungen entwickelt haben, vgl. dazu Dakhli 2016.

[4] Zu denken ist hier beispielsweise an Parteien wie die CDU und CSU, aber auch an die Rolle der katholischen Kirche in den Umbrüchen in Polen in den 1980er Jahren oder an die Befreiungstheologie in Südamerika.

[5] Eine weitere Kritik des Begriffes wendet sich gegen die als „Hufeisentheorie“ beschriebene Vorstellung, rechte und linke Extreme würden sich in ähnlicher Weise von demokratischen und rechtsstaatlichen Einstellungen unterscheiden und sich in ihrem Extremismus aneinander annähern.

[6] Neumann (2013) bietet einen guten Einblick in die Zusammenhänge von Extremismus und Radikalisierung und den damit verbundenen wissenschaftlichen Debatten.

 

 

Der Autor

Dr. Götz Nordbruch ist Islam- und Sozialwissenschaftler und leitete bis Dezember 2023 die Angebote von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerks „Islamistischer Extremismus” (KN:IX).

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